WINA: Du bist ein religiöser, aber gleichzeitig ein ganz liberal denkender Mensch. Was bedeutet dir persönlich das Beten überhaupt, was motiviert und bewegt dich dabei?
Thomas Gross: Beim Beten setze ich meine gesamte Person in Bezug zu etwas weitaus Größerem, ja geradezu vom Menschen nicht Erfassbarem. Dabei denke ich an jenen Schöpfer, der das Leben, die Wunder der Natur und die Lebewesen geschaffen hat und durch die Naturgesetze erhält. Die Erkenntnis, ein Teil dieses Wunders der Schöpfung sein zu dürfen, macht mich stolz und demütig zugleich. Einen Weg zu dieser Erfahrung ebneten die Weisen Israels, indem sie für alle Folgegeneration Gebetstexte formulierten und ordneten, die genau diese Erfahrung vermitteln können. Ich denke allerdings, dass diese Erfahrung nicht unbedingt davon abhängig ist, ob jemand dem althergebrachten Text folgen oder diesen sogar ganz verstehen kann, ja, ich glaube sogar, dass sich diese Emotion zum Teil vom Text abhebt und gar nicht unbedingt in einem engen Zusammenhang damit stehen muss. Wenn man die Gebetstexte übersetzt, in welche Sprache auch immer, verlieren sie viel an Wirkung. Die Verfasser haben sich wohl überlegt, dass es für Menschen hilfreich ist, an eine Macht zu glauben, die einen auffangen und erlösen kann, sich an diese schöpferische Macht, deren Leistungen wir tagtäglich in der Natur erleben, die aber für uns auch selbstverständlich geworden sind, hinwenden zu können. Die Gebetstexte zielen auf diese Kraft ab, aber auch auf die Reinigung durch Reue für Handlungen, die durch die jüdische Lehre oder das eigene Gewissen als unrichtig qualifiziert wurden. An diesen Absichten hat sich in tausenden Jahren überhaupt nichts verändert, weil die Menschen und ihre Empfindungen, wie Schuldgefühle, Sehnsucht nach Frieden, Liebe und danach, etwas Gutes zu tun, sich nicht verändert haben. Wenn sich Menschen entschließen, diese Erfahrung gemeinsam im Wege des Gebetes zu erleben und sich zu diesem Zweck versammeln und damit anerkennen, dass es eine höhere Kraft gibt, so verstärkt sich dieses Erlebnis. Es kann den Gegensatz zu dem aufzeigen, was heute in der so leistungsorientierten Welt oft wichtig zu sein scheint, nämlich eher der materielle Erfolg als das wirklich Wichtige, wie etwa Mitgefühl, Empathie, Solidarität und geistige Entwicklung.
Wie siehst du deine Aufgabe als Vorbeter, als Ba’al tefillah?
• Mein Vater hat jahrelang zu den Hohen Feiertagen in der Misrachi (eine orthodoxe Gemeinde) vorgebetet, und meine vier Brüder und ich waren sein Chor. Dadurch haben wir diesen wunderschönen „Nussach“ sehr ehrlich und authentisch gelernt, der die Worte der Gebete mit einer Melodie begleitet und damit emotional noch mehr steigern kann. Mit Nussach meine ich die Art des Betens mit Melodie, die in unterschiedlichen Gemeinden verschieden ist. Mein Vater hat einen osteuropäischen Nussach mitgebracht, der auf der melodischen Ebene betont, was wir durch die Texte ausdrücken und emotional empfinden. Die Liebe zu diesem Nussach habe ich von meinem Vater, das mir zugeschriebene musikalisches Talent betrachte ich als Geschenk des Schöpfers, daher möchte ich es auch für diesen geistig erhebenden Zweck des Vorbetens verwenden. Als Vorbeter, der ja quasi ein Vertreter der Gemeinde ist, übernehme ich bewusst den Versuch, für die Betenden denselben Zustand herbeizuführen, den ich im Gebet empfinde, damit auch sie über diese Texte und diese althergebrachten Melodien möglicherweise einen Zugang zu ihrer eigenen Geistigkeit finden können und diese von mir empfundene Verbindung zum Schöpfer gemeinschaftlich und einheitlich empfinden können. Das geht vor allem dann, wenn alle das Gefühl haben, gemeinsam zu beten und sich gegenseitig zu stützen. Am Ende von Neila (Schlussgebet zu Jom Kippur) habe ich immer das Gefühl, dass die Gemeinde zwar sehr müde und geistig erschöpft, aber glücklich und zufrieden ist. Man hat es geschafft, das Körperliche durch das Fasten hintanzustellen, man hat eine geistige Stufe erklommen. Und wenn das der Fall ist, dann ist mein Ziel vollinhaltlich erfüllt.
Ohne Zweifel unterscheidet sich das Beten im Gemeindezentrum nicht nur in seiner Atmosphäre ganz wesentlich vom G-ttesdienst im Stadttempel. Worin siehst du die Unterschiede?
• Es sind zwei unterschiedliche Angebote, die aber beide zum selben Ziel führen. Manche Menschen gelangen zur geistigen Steigerung, wenn das musikalische Element der Gebete stärker betont wird. Andere Menschen suchen eher das emotionale Erlebnis, was nicht heißt, dass es das Emotionale auf der musikalischen Seite nicht gibt oder umgekehrt, es bedeutet nur eine Verlagerung der Schwerpunkte. Es gibt auch streng orthodoxe Kantoren, die eine Mischung zwischen einem musikalisch herausfordernden Vorbeten und den Emotionen anstreben. Solche Kantoren könnten mit ihrer Ausbildung auch problemlos Opernarien singen. Das ist also eine Gratwanderung. Viele Menschen sehen ihre Erfüllung im Großen Stadttempel, weil für sie Musikalität und Emotionen durch Kantorengesang und Chor zum Ausdruck kommen. Und gerade Shmuel Barzilai findet eine gute Mischung zwischen diesen Polen. Menschen, die anders sozialisiert sind, werden von der professionellen kantoralen Kunst weg und hin zum Ba’al tefillah gehen, der zwar musikalisch ist, aber oft keine wirkliche musikalische Ausbildung hat und einfach den Nussach schön vorbetet, weil sie dann eben ein Gebet wirklich spüren. Und genau das ist das Ziel. Der Ba’al tefillah legt mehr Gewicht auf die Gefühls- als auf die Gesangs- und Kunstebene. Das kann man vielleicht mit Sonne und Mond vergleichen. Die Sonne strahlt, aber man sieht nur das Licht der Sonne. Der Mond strahlt weniger stark, aber dadurch sieht man auch die Sterne leuchten. Beim ausschließlich kantoralen Gesang können die Menschen nicht im gleichen Maß mitmachen, weil sie ja die Ausbildung nicht haben, auf einer einfacheren Ebene können sie eher einsteigen.
Im Gemeindezentrum wollen wir die Möglichkeit nützen, dass die Menschen quasi niederschwelliger einsteigen können. Auch die physische Nähe ist förderlich, man steht ja im Gemeindezentrum relativ nah beim Vorbeter, und im Großen Tempel wird gleichsam auf einer Bühne gesungen. Aber gerade Barzilai achtet auch in seiner kantoralen Ausprägung darauf, dass Menschen mitmachen können. Das Gemeindezentrum ist eben das pure ba ál t’fillische. Ob man das eine oder andere schätzt, kommt natürlich auch auf die Sozialisierung an, d. h. meistens, ob man in einem Tempel oder einer „Stiebl“-Atmosphäre groß geworden ist.
„Wenn man die Gebetstexte übersetzt, verlieren sie viel an Wirkung.“
Können auch Menschen, die von den Gebeten wenig bis überhaupt keine Ahnung haben, ähnliche Erfahrungen, wie die von dir beschriebenen, erleben?
• Es ist ein Phänomen, dass sogar Menschen, die vielleicht gar nicht an G-tt glauben, sich vor allem zu Jom Kippur für einige Zeit im Gemeindezentrum einfinden und einfach nur stumm dastehen. Vielleicht haben sie das Bedürfnis, sich an diesem gemeinschaftlichen Erlebnis, das wir Gebet nennen, zu beteiligen oder auf diese Weise ihre Zugehörigkeit auszudrücken. Man kann ja jede Art von Gedanken und Empfindungen während dieser Zeremonie haben und sich von den Melodien inspirieren lassen. Diese Menschen sind sehr willkommen. Manchmal gibt so ein Besuch den Anstoß, das „Ganze“ näher kennen lernen zu wollen, und das kann dann zu einer Bereicherung der eigenen Lebenserfahrungen führen. Wir im Tempel freuen uns immer über Menschen, die kommen wollen, unabhängig davon, wie viel sie schon wissen oder können.
Es wäre schön, wenn noch viel mehr Menschen diese Gelegenheit des Gemeindezentrums nutzen und aktiv mitmachen würden. Für einen Vorbeter ist es inspirierender, wenn seine Melodien mitgesungen werden, zu spüren, dass man Leute hinter sich hat, die laut mitmachen. Das passiert bei uns bei besonderen Stellen ja hörbar auch, und das sind genau die Stellen, bei denen sich die Anwesenden sicherer fühlen, d. h., dass manche Menschen vielleicht anfangs einfach als „Konsumenten“ kommen und sich in weiterer Folge einleben und sogar einbringen. In manchen sehr frommen Synagogen hört man teilweise den Kantor gar nicht, weil alle Menschen mitsingen, und das ist nicht nur für den Kantor eine Inspiration, sondern es kommt dann eben zu diesem Gemeinschaftsgefühl, von dem ich gesprochen hab. Mir ist aber bewusst, dass das bei uns den Leuten nicht leicht fällt, deshalb bete ich so vor, dass die Menschen das meiste mitnehmen können.
Du betest ja am Fasttag zu Jom Kippur viele Stunden stehend und laut singend vor. Wie schaffst du so etwas physisch?
• Natürlich bedarf es dazu auch physischer Kraft. Aber durch die Zeit davor, Rosch ha-Schana und die Bußtage, wird man wie in einem Marathon darauf vorbereitet und kann Kräfte aktivieren. Man erlebt dabei auch eine gewisse Loslösung vom Körperlichen. Mein großes Vorbild ist mein Vater, der noch bis zum 90. Lebensjahr vorgebetet hat. Wenn seine Beine mitgemacht hätten, würde er das immer noch tun. Was mir aber am meisten Kraft gibt, ist der Gedanke daran, dass mein Vater als junger Bub mit seiner Familie schon auf dem Wege zum Vernichtungslager in Auschwitz war und wie durch ein Wunder nach Wien zur Zwangsarbeit zurückgeschickt wurde und so seine Mutter und seine vier Geschwister überlebten. Dass mein Vater nach einem solchen Erlebnis physisch und psychisch als Vorbeter die Kraft fand, in der Jahrtausende alten Tradition den lebenspendenden allmächtigen Schöpfer anzuerkennen, gibt mir die meiste Kraft. Es repräsentiert für mich die unfassbare Verbindung des jüdischen Volkes zum Allmächtigen, die durch nichts in der Welt bleibend erschüttert werden kann. Das ist die Kraft, die mich beim Vorbeten, aber auch in meinem Leben und Bezug zur Welt treibt.
Sehr stolz macht mich daher, dass jetzt mein Sohn diese Tradition schon in der dritten Generation fortsetzt und seit einigen Jahren in Baden vorbetet und das, wie ich höre, sehr gut macht. Er nahm einmal ein Gebet auf, damit es meinem Vater vorgespielt würde. Als mein Vater die Aufnahme hörte, fragte er: „Wer ist das? Er betet wie ich, aber das bin nicht ich.“ Als er dann die Stimme meines Sohnes erkannte, war er sehr glücklich. Damit ist, glaube ich, alles gesagt.
Sehr glücklich macht mich auch, dass ich diese Sichtweisen und Emotionen und das gemeinschaftliche Erleben über Gebete und Singen auch an meine Familie weitergeben konnte und meine Frau und meine Kinder jedes Jahr zu den Hohen Feiertagen ins Gemeindezentrum kommen, um gemeinsam das Gebet zu erleben. Die tiefe Verbindung zu all dem, die ich von meinen Eltern mitbekommen habe, ist auf meine Familie übergegangen, und schon allein deswegen hat sich das Vorbeten gelohnt.
Das Gespräch wurde bereits im Vorjahr geführt,
wird aber Corona-bedingt erst jetzt veröffentlicht.
Thomas Gross
In seiner Anwaltskanzlei mitten im Zweiten sitzt Thomas Gross an einem langen Besprechungstisch. Die moderne Kunst an den Wänden hat seine Frau Sarit ausgesucht, die gleich nebenan ihre psychoanalytische Praxis hat. Tommy und Sarit sind seit 33 Jahren verheiratet und haben drei erwachsene Kinder.