Ein Wiener Ehrengrab für den echten Ottakringer

Walter Arlen, österreichisch-amerikanischer Musikkritiker, Musikpädagoge und Komponist

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Walter Arlen, der zuletzt fast erblindet war, versucht ein historisches Dokument zu entziffern. © filmdelights.com

„I bin a Ottakringer!“ rief lachend der 103-Jährige aus Los Angeles und hielt dabei eine Radler-Blechdose dieser Firma in die Kamera. „Meine ganze Familie hat Walter Arlen von Wien aus am 31. Juli 2023 Happy Birthday gesungen. Den Ottakringer Radler hatte der österreichische Generalkonsul in Kalifornien, Michael Postl, dem Jubilar mitgebracht, denn dieser wurde 1920 in diesem Wiener Bezirk geboren“, erinnert sich Stephanus Domanig, Filmregisseur und nach eigener Beschreibung der „transatlantische Kümmerer“ des am 2. September verstorbenen Komponisten und seines Witwers Howard Myers.

2. Howard Myers, 65 Jahre an der Seite von Walter Arlen, flog mit Regisseur Stephanus Domanig von L.A. nach Wien, um sich hier mit dem „El Male Rachamim“ – vorgetragen von Oberkantor Shmuel Barzilai – von seinem Lebensmenschen zu verabschieden. (c) R. Engel

„Ich bin dem Schicksal entronnen als Mensch, aber nicht emotional.“

Begleitet von drei Musikstücken fand noch ein jüdisches, vertriebenes Talent in einem Ehrengrab der Stadt Wien seine letzte Ruhe. Walter Arlens persönlicher Musikwunsch, das sentimentale Hirtenlied Bailero aus der Auvergne (Chants d’Auvergne von Joseph Canteloube) wurde ebenso gespielt, wie eine Litanei seines Lieblingskomponisten Franz Schubert und ein Sonnet für Violine aus seinen eigenen Werken. „Walter Arlen steht exemplarisch für Viele, deren Abwesenheit eine große Lücke hinterlassen hat, die uns bis heute prägt und eine Wunde geschlagen, die nie geschlossen werden kann,“ bekannte Stadträtin Veronica Kaup-Hasler im Namen der Stadt Wien. Der ehemalige Justizminister und Vizekanzler Wolfgang Brandstetter, der den Künstler gut kannte, verabschiedete sich mit persönlichen Worten.

„Wir hatten wirklich Glück, dass Walter Arlen lang genug gelebt hat, um mitzuerleben, dass sich in Österreich doch noch Vieles geändert hat,“ so der frühere österreichische Diplomat Peter Moser, der von 1979-1985 zuerst Generalkonsul in Los Angeles war und von 1999-2003 Botschafter in Washington. „Das Verhältnis von Walter zu Wien blieb stets ambivalent“, bestätigt der Witwer unter Tränen. „Er sprach immer wieder von den schrecklichen Bildern in seinem Kopf, als er aus einer wohlhabenden Familie und behüteten Kindheit nach dem 12. März 1938 brutal herausgerissen wurde“, weiß Howard Myers, der 65 Jahre mit Arlen verpartnert war, bis sie 2013 ihre Ehe nach kalifornischem Gesetz legalisieren konnten.

Walter Arlen wurde  als Walter Aptowitzer in Ottakring geboren und zwar in der Herrschaftswohnung über dem Warenhaus Dichter beim Brunnenmarkt, das sein Großvater 1890 gegründet hatte. Dieser Großvater legte den Grundstein für Walters spätere Karriere, denn er brachte den fünfjährigen Buben zum bedeutenden Musikwissenschaftler und Schubert-Forscher Otto Erich Deutsch (1883–1976) um herauszufinden, ob er talentiert sei. Deutsch stellte bei Walter ein absolutes Gehör fest und empfahl Klavierunterricht.

Doch die grundlegende musikalische Ausbildung konnte der talentierte Jüngling erst wesentlich später angehen. Denn mit der Machtübernahme der Nazis wurde das Warenhaus Dichter arisiert, das Vermögen der Familie beschlagnahmt. Arlen musste nach der Verhaftung seines Vater aus dem Haus ausziehen, dem 17-Jährigen gelang es nur noch, seine selbstmordgefährdete Mutter in einem Sanatorium unterzubringen. Bevor sich Walter ein Jahr später am Südbahnhof unter Tränen von seiner Mutter, Schwester und Großmutter verabschieden musste, erlebte er, wie die neuen Machthaber Wiens eine Tante und andere Juden das Trottoir der Josefstädter Straße mit ihrer Zahnbürste putzen ließen. Er musste auch mitansehen, wie ein älterer Jude vor dem Palais Rothschild von einem SA-Mann zu Tode geprügelt wurde.

3. Howard Mayers (links) im Operncafé beim tränenreichen Gespräch mit dem Wina-Magazin. (c) R. Engel

Seine Tante Fanny Pritzker in Chicago bürgte für ihn und so konnte er über Triest in die USA einreisen. An Musik war vorerst nicht zu denken, denn Walter musste sich mit diversen Jobs über Wasser halten. Erst 1951, als Assistent des gefeierten Komponisten Roy Harris, kam Arlen nach Los Angeles – gerade noch rechtzeitig zu Arnold Schönbergs Begräbnis. Er studierte an drei Universitäten und schloss ein Bachelor- und Master-Studium ab.

1952 begann seine 30-jährige Arbeit als Musikkritiker bei der Los Angeles Times,  damals die Tageszeitung mit der weltweit größten Auflage. „Wir konnten nie bis zum Schlußapplaus im Konzert bleiben, denn Walter begann schon am Beifahrersitz seine Kritik zu schreiben, während ich ihn auf dem schnellsten Weg in die Redaktion chauffierte,“ erinnert sich traurig-lächelnd Howard, der für das Begräbnis nach Wien gekommen ist und im Café bei der Oper seinen Gedanken und Tränen freien Lauf lässt.

„Sein erster Artikel für die Los Angeles Times galt einer Uraufführung von Igor Strawinsky, der Cantata 1951. Arlen hat in den folgenden zwei Jahrzehnten etliche Proben des Komponisten in L.A. besucht und den Kontakt aufrecht gehalten.“ Von Leonard Bernstein hingegen bekam Arlen nach schlechten Kritiken böse Briefe. 1969 gründete er die Musikabteilung an der Loyola Marymount University in Los Angeles, deren Vorstand er bis 1998 war.

Erst 1965, ein Jahr nach dem Tod seines Vaters, kam der Vertriebene als erfolgreicher Musikjournalist erstmals wieder in seine Heimatstadt.

„Ich hatte durchwegs ein schlechtes Gefühl: Die Atmosphäre in Wien war unangenehm, die Leute waren unfreundlich. Die Idee, dass die Juden zurückkommen könnten … Gott behüte!“

Auch die kleine Entschädigung für den Besitz der Familie, u.a. besaß sie seit 1911 eine Sommervilla im burgenländischen Sauerbrunn, ließ sehr lange auf sich warten. Dennoch freute sich Arlen, als ihm 2020 zu seinem 100.Geburtstag die Ehrenbürgerschaft von Sauerbrunn verliehen wurde.

Trotz allem ist die positive Annäherung zwischen dem Exilanten und der Stadt Wien in Arlens letzten zwölf Lebensjahren gelungen. Das ist insbesondere Michael Haas* und dem in der Musikuniversität beheimateten Verein exil.arte zu verdanken, der den Kontakt mit dem Komponisten aus Ottakring herstellte, Konzerte mit seinen Werken veranstaltet und Stücke aufgenommen hat, die auch von der Stadt Wien gefördert wurden. 2011 hat Arlen dann seinen Vorlass der Wien-Bibliothek vermacht, 2017 haben die Wiener Symphoniker Arlens lyrische Hohelied-Kantate The Song of Songs (King Salomons „Shir ha’ Shirim“) im Konzerthaus aufgeführt. 

Zu komponieren hat Walter Arlen erst in der Pension wieder begonnen, er tat dies bis zu seiner teilweisen Erblindung durch eine Macula-Degeneration.  Dennoch umfasst sein Oeuvre 65 Musikstücke, u.a. Kammermusik, Lieder, Songs und Stücke für Klavier. Außerdem vertonte er Gedichte von Eichendorff, Rilke, Shakespeare, Robert Frost u.v.a. Der Komponist bezeichnet seine Stücke selbst als „post-modern“, Einflüsse aus seiner alten und neuen Heimat vermischen sich. Auch zur restaurierten Fassung des Stummfilms Die Stadt ohne Juden verfasste er die neue Filmmusik. 2011 übergab Arlen im Rahmen einer Gedenkmatinee im Volkstheater seinen Vorlass der Wienbibliothek im Rathaus. Daraufhin veranstaltete diese in den Jahren 2012 bis 2015 insgesamt drei Konzerte mit Klaviermusik des Komponisten. Auch der Musikverlag Doblinger veröffentlichte 2014 und 2015 einige seiner Kompositionen. Arlens Nachlass wird die Musikuniversität erhalten.

Ein wunderbares Filmprojekt artet in eine familiäre Beziehung aus

  „Im Mai 2015 habe ich Walter kennengelernt, da war er 95 Jahre alt, kam aus Los Angeles und hat uns mit seinem Charme in kurzer Zeit ‚eingekocht‘. Wir waren von seinem Auftritt und seiner ganzen Persönlichkeit begeistert,“ erinnert sich der 1967 in Südtirol geborene Regisseur und Drehbuchautor Stephanus Domanig. Bis zur Ausfinanzierung und Herstellung seines Dokumentarfilms Das erste Jahrhundert des Walter Arlen vergingen vier Jahre.

Der Absolvent der Wiener Filmakademie, der sowohl Dokumentar- als auch Spielfilme für ORF, 3sat, ZDF und ARTE gemacht hat, scheute weder Mühe noch Lebenszeit für Reisen, um Arlen und seinen Partner Howard Myers zu Proben, Konzerten und Empfängen und bei Spaziergängen in Ottakring und in Bad Sauerbrunn zu begleiten, um „Unwiederbringliches festzuhalten“, wie er selbst das Leben und Wirken Arlens im Wina-Magazin (Jänner 2019) bezeichnet. Dieses Porträt ist nicht nur berührend-menschlich geworden, es ist auch voll wienerisch-jüdischem Humor und sogar ein wenig Schmäh. Er zeigt ein Leben erfüllt und getragen von Musik, Liebe, Ironie und bittersüßer Nostalgie, die sich auch aus unvergessenen Verletzungen nährt. Der Film dient nicht nur als Familien- und Liebesgeschichte, sondern als ein bedeutendes zeitgeschichtliches Dokument.

Auch wenn sich im Rahmen von längeren Filmarbeiten oft enge menschliche Beziehungen zwischen den Machern und den Protagonisten entwickeln, halten diese nach der Veröffentlichung meist nur kurz. „Ja, genau so habe ich das bei mehreren Filmprojekten nach den Dreharbeiten erlebt.“ Also, was war hier anders, dass sich Domanig die letzten vier Jahre so intensiv und selbstlos um Walter und Howard gekümmert hat? „Es  ist eine tiefe Freundschaft zu Walter und Howard entstanden, weil auch viel im Leben der Beiden passiert ist, vor allem gesundheitlich,“ schildert der zweifache Vater. „Der um ein gutes Jahrzehnt jüngere Myers ist selbst krebskrank, hat sich aber als gute Seele mit rührender Sorgfalt und praktischer Hilfestellung um seinen Partner gekümmert; auch deshalb haben wir oft drei bis vier Mal in der Woche miteinander telefoniert – und als die Pandemie ausbrach und ich nicht mehr nach Los Angeles fliegen konnte, artete das in stundenlange Gespräche mit Howard aus.“ So etwas plane man nicht, sagt der Filmemacher, aber irgendwann könne man nicht zurück, meint der „transatlantischen Kümmerer“.

Als Walter Arlen einen Monat nach seinem 103. Geburtstag seine schalkhaften Augen für immer schloss, rief Howard Myers den treuen Freund in Wien an und dieser tauchte nach zwei Tagen in Los Angeles auf und kümmerte sich drei Wochen lang um den 91-jährigen Witwer und den zahlreichen Erledigungen. Nach einer schönen Abschiednahme bei einem Memorial im Thomas Mann House in Pacific Palisades flogen beide zusammen nach Wien.

Walter Arlen führte im August 2010 ein Gespräch mit Christoph Irrgeher von der Wiener Zeitung und beendete es mit folgendem Satz: „Ich bin dem Schicksal entronnen als Mensch, aber nicht emotional.“

*Michael Haas, PhD, war viele Jahre Plattenproduzent bei Decca und Sony, sowie 1994/5 Vizepräsident von Sony Classical in NY. Er ist mehrfacher Grammy-Gewinner und initiierte und leitete die Decca Aufnahmereihe „Entartete Musik“. Von 2002 bis 2010 arbeitete er im Jüdischen Museum Wien als Musik-Kurator. 2013 hat Yale University Press sein Buch „Forbidden Music – the Jewish Composers Banned by the Nazis“ veröffentlicht. 2000 bis 2015 war er Direktor des Jewish Music Institute der University of London und 2015/16 Research Associate am University College London, School of Jewish and Hebrew Studies. Als Mitbegründer von exil.arte ist er seit 2016 Senior Researcher des Exilarte Zentrum der mdw.

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