Am Abend des Samstag, 7. Oktober, saß ich mit meiner Frau und unseren zwei Hunden in unserem kleinen Schutzraum mit den dicken Mauern. Wir leben in Herzlia nördlich von Tel Aviv, rund 85 Kilometer vom Gazastreifen entfernt, und in unserem Abschnitt hatten die Alarmsirenen aufgeheult. Wir hörten mehrere dumpfe Explosionen, vermutlich nicht von Einschlägen, sondern von den Geschoßen des Abwehrsystems „Eiserne Kuppel“, das die anfliegenden Raketen in der Luft abgefangen hatte. Nach zehn Minuten gingen wir wieder in unser Wohnzimmer zurück. Wir haben da ja Routine.

Auf die Idee, Raketen auf israelische Ortschaften abzufeuern, sind radikale Palästinenser im Gazastreifen schon vor 22 Jahren gekommen. Seither hat der Raketenbeschuss nach und nach immer mehr Intensität und Reichweite bekommen. Im Süden Israels ist er, schon wegen der geringeren Distanz und mithin der kürzeren Vorwarnzeit, viel gefährlicher als im Zentrum. Und nein, es wäre absurd zu sagen, dass man sich „daran gewöhnt“ oder „damit abgefunden“ hätte. Aber man kennt das eben schon lange und weiß, wie man damit umgeht. Zuhause, am Arbeitsplatz, in der Schule hat man einen Schutzraum, im Freien presst man sich an eine Hausmauer oder legt sich flach hin, und es gibt eben die geniale „Eiserne Kuppel“.

Es waren also, trotz der noch nie dagewesenen Abschussfrequenz, nicht die Raketen, die dem Konflikt zwischen Israel und der Hamas an diesem leider historisch gewordenen Tag eine völlig neue Dimension gegeben haben, sondern geschätzte 1.500 bewaffnete Männer der dschihadistischen Palästinensergruppe, denen es gelungen ist, die Grenzbarriere zu überwinden. An rund zwanzig Stellen sprengten sie Breschen in den Zaun. Von dort schwärmten Kommandos auf Kleinlastern und Motorrädern im israelischen Staatsgebiet aus. Andere flogen mit Motorschirmen Richtung Israel. Die Überwachungskameras waren lahmgelegt. Die israelischen Soldatinnen und Soldaten wurden in ihren Grenzstellungen völlig überrascht und hatten keine Chance. Die Angreifer setzten geparkte Panzer in Brand und erbeuteten Armeefahrzeuge. Das allein hätte einen unglaublichen, vieles verändernden „militärischen“ Erfolg dargestellt.

„In Wirklichkeit reicht das Wort Massaker nicht aus – die deutsche Sprache hat kein Wort, das ausdrücken kann, was hier vorgefallen ist.“

 

Alle Regeln gebrochen Doch dann folgte etwas, das alle Regeln gebrochen hat. Die Hamas-„Kämpfer“ verteilten sich auf gut zwanzig Dörfer, schossen auf alles, was sich bewegte, gingen von Tür zu Tür, exekutierten Familien in ihren Wohnungen, schlachteten Babys ab, schnitten Köpfe ab, zündeten Häuser samt Menschen an. In der Nacht auf diesen Samstag hatten rund 3.000 junge Israelinnen und Israelis neben dem Kibbuz Re’im, sechs Kilometer vom Gazastreifen entfernt, bei einem Freiluftfestival getanzt und gesungen. Die Terroristen stießen auf jene, die in der Früh noch da waren, und veranstalteten eine Treibjagd mit Dauerfeuer aus allen Richtungen. Kurz und klar: Die „Operation“ der Hamas war ein systematisches, kaltblütiges, barbarisches Massaker an Zivilpersonen. In Wirklichkeit reicht das Wort Massaker nicht aus – die deutsche Sprache hat kein Wort, das ausdrücken kann, was hier vorgefallen ist. Fünf Tage danach, als israelische Soldaten endlich alle Dörfer freigekämpft und alle eingedrungenen Terroristen ausgeschaltet hatten, sprach man von 1.200 Toten, und da waren noch immer nicht alle Leichen geborgen, und noch immer wurden Menschen vermisst. Beinahe ebenso verstörend wie der Massenmord und ebenfalls präzedenzlos ist der Umstand, dass mehr als 100, vielleicht 150 israelische Kinder, Frauen und Männer in den Gazastreifen verschleppt worden sind.

Wie konnte das passieren? Das ist die Frage, die sich in Israel vom Laien bis zur Expertin sofort alle stellten. Das Fiasko war ein doppeltes. Die Hamas muss diesen großangelegten, komplexen Überfall über viele Monate im Detail vorbereitet haben, doch Israels legendäre Nachrichtendienste, die angeblich jede Katze im Gazastreifen erkennen können, sahen ihn nicht kommen. Und nachdem der Überfall begonnen hatte, waren die in der Zone stationierten Truppen zu schwach, um die Hamas-Männer zu stoppen. Man hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass jemand auch nur versuchen würde, den mit Radarsystemen und Sensoren bestückten Grenzwall, dessen Errichtung dreieinhalb Jahre gedauert und eine Milliarde Euro gekostet hatte, zu durchstoßen – und dann ging das ganz leicht.

„Sie oder wir“ Doch nach den Fehlern und den Schuldigen wird man erst viel später suchen können. Prioritäres Ziel der Armee war es, die komplette Kontrolle über das Gelände im Süden wiederzugewinnen. Zugleich begann Israel, zu einem gewaltigen Schlag gegen die Hamas auszuholen. Von Experten, Militärs und Politikern, von Ex-Generälen und früheren Geheimdienstchefs, auch von solchen, die immer als zurückhaltend galten, hörte man unisono, dass jetzt alles anders sei. Frühere Denkmodelle von irgendwelchen Arrangements würden nicht mehr gelten. Es gebe keine andere Lösung, als die Hamas völlig zu zerschlagen. Mit so einem Nachbarn könne man nicht leben, die Frage sei nur noch „sie oder wir“. Das Ziel sei es jetzt, eine Situation herbeizuführen, in der es eine Bedrohung durch die Hamas einfach nicht mehr geben werde.

Sofort setzten rollende Luftangriffe auf Kommandostellungen, Kommunikationseinrichtungen, Versammlungsorte der Hamas im Gazastreifen ein. Alles, was auch nur entfernt mit der Hamas zu tun hat, gilt jetzt als legitimes Ziel. Dabei wurden in Gaza-Stadt schon ganze Straßenzüge dem Erdboden gleichgemacht. Doch allen ist klar, dass die Hamas aus der Luft nicht eliminiert werden kann. Dazu ist der Einmarsch von Bodentruppen nötig. Und damit sind viele Fragen verbunden. Es wird zu langen, blutigen Gefechten kommen, die das Leben vieler israelischer Soldaten kosten können. Und was ist, wenn die Hamas mit der Hinrichtung von Geiseln beginnt? Wenn die libanesische Hisbollah-Miliz aus dem Norden mit Raketensalven angreift? Wenn die Palästinenser im Westjordanland unruhig werden?

„Es gibt keine Hamas mehr – das ist eine Sache der Vergangenheit.“
Reservegeneral Israel Siv

In Israel scheint jetzt die grimmige Einstellung vorzuherrschen, dass man auf all das keine Rücksicht nehmen kann. Man müsse und werde jetzt den Gazastreifen unter der Hamas wie einen feindlichen Staat behandeln, mit dem man im totalen Krieg stehe. Im Krieg liefere man einem Feind gar nichts, keine Lebensmittel, kein Wasser, keinen Strom, keinen Treibstoff. Durch die systematische Ermordung und die Verschleppung von Zivilisten habe die Hamas alle humanitären Normen geschändet und könne deren Einhaltung nicht mehr einfordern.

Unbändiger Kampfgeist Der Schock wird für immer nachwirken, das Vertrauen in die Armee ist erschüttert. Doch eben diese Armee, der an dem schwarzen Samstag der vielleicht schlimmste Fehler ihrer Geschichte unterlaufen war, schien wenige Tage danach wieder ein perfekt funktionierender Apparat zu sein. Unbändiger Kampfgeist war zu spüren. Mit zusammengebissenen Zähnen ließen mehr als 300.000 Bürgerinnen und Bürger alles liegen und folgten den Mobilmachungsbefehlen. Hunderte junge Israelinnen und Israelis, die in aller Welt unterwegs waren und nun nichts anderes wollten, als ihr Land zu verteidigen, drängten sich zu den Flugzeugen, die ausgeschickt worden waren, um sie heimzuholen. Von enormer Bedeutung für die weitere Entwicklung ist die Haltung der USA. Präsident Joe Biden gab eine Erklärung ab, die in Israel als „historisch“ gewertet wurde und den Menschen in Israel die Tränen in die Augen trieb. Man spürte, dass er Israels Lage verstanden hat – er sprach nicht über Interessen, sondern über die unfassbaren Gräueltaten der Hamas und gemeinsame Werte. „Wir stehen hinter Israel, und wir werden sicherstellen, dass Israel alles hat, um seine Bürger zu versorgen, sich zu verteidigen, und diesen Angriff zu beantworten“, sagte Biden. „Für jedes Land, jede Organisation, jeden, der daran denkt, diese Situation auszunützen, habe ich ein Wort: Tut das nicht. Tut das nicht.“ Und es blieb nicht bloß bei Worten der Solidarität: Zu diesem Zeitpunkt war Richtung östliches Mittelmeer schon der gewaltige Flugzeugträger „Gerald Ford“ samt Begleitkonvoi unterwegs – ein beeindruckendes Abschreckungssignal an die Hisbollah und ihren Sponsor Iran.

Wann die Bodenoffensive gegen die Hamas beginnt und ob die Hisbollah sich einschaltet, war bei Redaktionsschluss noch unklar. Aber für Israel ist ganz klar, dass die Hamas durch ihren Zivilisationsbruch ihren eigenen Untergang herbeigeführt hat. In den Worten des Reservegenerals Israel Siv: „Es gibt keine Hamas mehr – das ist eine Sache der Vergangenheit.“

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