Andrew Nagorski wurde in Edinburgh geboren, startete seine berufliche Laufbahn als US-HighSchool-Lehrer in Geschichte, wurde internationaler Korrespondent und später Buchautor.© Reinhard Engel

Eigentlich liegt das Manuskript schon beim Lektor in New York. Doch Andrew Nagorski ist – da man als geimpfter Amerikaner wieder nach Europa fliegen darf – noch einmal für ein paar Tage nach Wien gekommen, um ein paar Details zu checken, Atmosphärisches einzuatmen. Manches klingt nach Kleinigkeiten, aber auch die müssen stimmen. Ist Freud etwa von seiner Praxis und Wohnung in der Berggasse 19 zum Verlag der psychoanalytischen Gesellschaft auf Nummer 7 hinunter oder hinauf gegangen?
Nagorski, ein langjähriger internationaler Korrespondent für das US-Magazin Newsweek, ist es gewohnt, auch kleinste Details zu checken und noch einmal gegenzuchecken. Das gilt auch für seine historischen Bücher, von denen sich eines etwa der Wende im Zweiten Weltkrieg vor den Toren Moskaus im Winter 1941 widmet (meist gilt erst Stalingrad zwei Jahre später als Kipppunkt). Ein anderes beschreibt die Sicht der Amerikaner in Europa auf den erstarkenden Nationalsozialismus und wie ungefährlich oder gefährlich sie diesen einschätzten.
Nun aber Freud. Im Frühjahr soll das Buch Saving Freud. The Rescuers Who Brought Him to Freedom (Freuds Rettung. Die Helfer, die ihn in die Freiheit brachten) bei Simon & Schuster erscheinen. „Viele Menschen glauben, alles über Freud zu wissen“, erzählt Nagorski. „Aber das stimmt natürlich nicht, und viele haben auch eine ganz falsche Vorstellung. Selbst wenn schon zahlreiche Bücher existieren, gibt es immer noch interessante Aspekte, die nicht erzählt wurden.“ Sein aktuelles FreudBuch wird sich auf dessen Retter konzentrieren, die den Professor in das sichere England brachten, wo er im November 1939 an seinem Krebsleiden starb.
Wie kam es zum Sprung von politischen und militärhistorischen Themen zum Begründer der Psychoanalyse? „Ich habe Autoren-Freunde, die wissen schon während sie noch an einem Buch arbeiten, was das nächste sein wird. Bei mir ist das nicht so. Ich bin ganz in meinem jeweiligen Thema vergraben, und dann braucht es eine Zeit der Ruhe und des Überlegens, wohin es beim nächsten Buch gehen soll.“

Wir machen es uns mit der Geschichte oft einfach,
im Rückblick scheint alles logisch.
Aber in der Zeit, in der man selbst lebt, sind die Dinge komplizierter“

Andrew Nagorski

Mit Wien verbunden. Auf Freud war er durch Stefan Zweigs Die Welt von Gestern gestoßen und auf die persönliche Beziehung der beiden Männer. Zweig war laut Nagorski sicher der politischere der Freunde, und er hatte sich früher für die Emigration entschieden. Bei Freud sollte es länger dauern, und er wollte die Notwendigkeit nicht sehen, hielt den österreichischen Ständestaat für weit weniger gefährlich als Nazi-Deutschland, dachte auch zunächst, er werde als alter Mann nicht mehr ins Ausland flüchten.
Nagorski: „Er war sehr mit Wien verbunden, hatte seine täglichen Routinen mit Spaziergängen am Ring und Kaffeehaus-Besuchen, und trotz aller internationaler Kontakte als Arzt und in der psychoanalytischen Gesellschaft wollte er hier bleiben.“ Die USA waren ihm überdies nicht sympathisch, bei einem Besuch im Jahr 1907 beklagte er sich im klassischen Muster des gebildeten, versnobten Europäers, der auf die geldgierigen, oberflächlichen Amerikaner herabsieht.
Und doch kümmerte sich eine Gruppe von sehr unterschiedlichen Menschen darum, dass der Professor nach dem „Anschluss“ rechtzeitig Großdeutschland verließ. Eine wichtige Rolle spielte dabei seine Tochter Anna, die bereits als Psychoanalytikerin arbeitete. Freud sagte einmal, nur weil sie noch ein Leben vor sich habe, sei er überhaupt bereit zu gehen Für die praktischen Aspekte der Emigration sollten aber etwa folgende Personen von Bedeutung werden, und mit einer Ausnahme waren diese Helfer keine Juden: William Christian Bullet, ein amerikanischer Journalist, Autor und Diplomat, unter anderem Botschafter in der Sowjetunion und in Frankreich.
Marie Bonaparte
, eine Patientin Freuds und angeheiratete Prinzessin der griechischen und dänischen Königsfamilien. Sie streckte unter anderem Geld für die Reichsfluchtsteuer vor und brachte Freud auf der ersten Station der Flucht nach England in Paris bei sich unter.
Ernest Jones, ein walisischer Psychoanalytiker, der nach dem Konflikt mit C. G. Jung eine zentrale Rolle unter Freuds Anhängern erlangt hatte. Jones verfügte laut Nagorski in London über beste Beziehungen und besorgte die notwendigen Papiere zu einer Zeit, als die westlichen Länder alles andere als freundlich gegenüber jüdischen Einwanderern waren.
Max Schur war Freuds Arzt in Wien, Jude wie er, zwar um viele Jahre jünger, aber mit ihm sehr eng verbunden. Er sollte ihn auch in London bis zu seinem Tod weiter betreuen, nachdem er zuvor in Amerika die Bürokratie für die Flucht seiner eigenen Familie erledigt hatte.
Und dann war da noch Anton Sauerwald, ein Wiener Nazi, der als Kommissarischer Leiter die „Arisierung“ von Freuds Praxis und des psychoanalytischen Verlags betrieb. Sauerwald begann während seiner „Arbeit“ Freud zu schätzen und half ihm insofern, als er nicht über dessen Fremdwährungskonten berichtete. „Das hätte ihm eventuell die Ausreise verunmöglicht“, erklärt der Autor.
Zur persönlichen Motivation Nagorskis für dieses Thema: „Wir machen es uns mit der Geschichte oft einfach, im Rückblick scheint alles logisch. Aber in der Zeit, in der man selbst lebt, sind die Dinge komplizierter. Man kann manches nicht sehen oder will es nicht sehen. Ich habe mich gefragt, ob ich – wäre ich zu dieser Zeit Korrespondent in Deutschland gewesen – verstanden hätte, wie sich die Lage entwickelt.“ Und Nagorski hat noch eine persönliche Motivation: die Emigrationsstory seiner eigenen Familie. Sein Großvater, ein bürgerlicher Anwalt in Warschau, arbeitete in London während des Zweiten Weltkriegs für die polnische Exilregierung. Sein Vater, ein junger Offizier in der polnischen Armee, schlug sich, nachdem sein Panzerbataillon von den Deutschen überrollt worden war, auf abenteuerliche Weise über Ungarn und Jugoslawien nach Frankreich durch und meldete sich zur British Army. In Schottland wurde er zum Fallschirmjäger ausgebildet, kam aber nicht zum Einsatz, sondern arbeitete in einer Presseabteilung des Militärs. Andy wurde 1947 in Edinburgh geboren, wuchs aber in den USA auf. „Meine Mutter hielt es in Schottland nicht aus, und mein Vater meinte, in Großbritannien werden wir nie dazugehören, die USA sind ein Einwandererland, wo jeder sein Glück machen kann.“ Die ersten Jahre der Nagorskis waren mühsam, der Vater verkaufte Enzyklopädien und Geschirr, doch dann bekam er einen Job im diplomatischen Dienst, schließlich sogar einige interessante Auslandsposten, auf die er die Familie mitnahm: Kairo, Seoul, Paris. Die häufigen Ortswechsel und verschiedenen Kulturen sollten später für Nagorski Junior als Auslandskorrespondent zu seinem beruflichen Leben werden. Doch Ost- und Mitteleuropa ließen ihn nie aus, hier hat er seine Wurzeln, hier sucht er auch weiter nach Details – über und unter der Oberfläche.

AUSWEISUNG ALS ARBEITSBEWEIS
Andrew Nagorski lernte als Newsweek-Korrespondent die unterschiedlichsten Menschen und Regime kennen.
Nach dem Geschichtsstudium in Amherst unterrichtete Nagorski drei Jahre lang an einer US-High-School, hatte es bereits zur Pragmatisierung gebracht. Doch die Schule langweilte ihn, und obwohl er für eine Familie mit zwei kleinen Kindern verantwortlich war, kündigte er und zog nach New York, um es im Journalismus zu probieren. Zuvor hatte er erfolglos bei den Tageszeitungen Boston Globe und Christian Science Monitor angeklopft, das Magazin Newsweek gab ihm eine Chance. In seiner sechsmonatigen Probezeit war er wöchentlich kündbar, an den Stress erinnert er sich heute noch mit Schrecken. Er wurde aber aufgenommen und schrieb zunächst Korrespondentenberichte und Agenturmeldungen um, bis auch für ihn eine erste Auslandsstelle frei wurde: Hong Kong mit Zuständigkeit für eine Reihe südostasiatischer Länder.
Dabei sollte es nicht bleiben. Er berichtete aus Bonn und Rom, aus Berlin und Moskau. Dort war er übrigens einer der letzten internationalen Reporter, der wegen kritischer Berichterstattung kurzfristig ausgewiesen wurde. Das sollte dann sein erstes Buch werden. Ehe er sich ganz dem freien Autorentum widmete, baute er noch für Newsweek eine Reihe von internationalen Tochtermagazinen auf: in Polen, in Russland, in Argentinien.
Nagorski, damals in Bonn stationiert, engagierte mich als Wiener ständigen Mitarbeiter von Newsweek im Winter 1985, nach den Terroranschlägen auf Juden in Wien und Schwechat. Er hatte einen Stringer gesucht, ich war bereits der lokale Korrespondent der New Yorker Jewish Telegraphie Agency und schrieb für den Londoner Economist. Bald darauf sollte die Waldheim-Affäre eine intensivere Berichterstattung notwendig machen. Und noch einmal, viele Jahre später, arbeiteten wir wieder direkt zusammen, als Nagorski von Berlin aus für das vereinigte Deutschland und für Osteuropa verantwortlich war.

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here