Ein Budapester Ritter am Wiener Burgtheater

Adolf von Sonnenthal war einer der populärsten und bestbezahlten Schauspieler seiner Zeit – und spielte während seiner Zeit am Wiener Burgtheater nicht weniger als 400 Rollen.

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Adolf von Sonnenthal in seiner oppulenten Wiener Wohnung um 1900. © Charles Scolik sen. / Ullstein Bild / picturedesk.com
Übersetzung von Karl Pfeifer.

Das „Orczy’sche Haus“ war das bekannteste Gebäude in der Stadtmitte des alten Pest, dem späteren Budapest. Im „pro Stunde ein Goldstück“ bringenden Zinshaus wohnten bis zu seiner Demolierung 1937 zahllose Familien, darunter der zu seiner Zeit wohl bekannteste Schauspieler der Monarchie, Adolf Sonnenthal.
Das Orczy’sche Haus war damals das Zentrum der Pester Juden, in dem es außer Wohnungen auch Geschäfte und Büros gab. Im Hof standen zwei Synagogen, es fanden die Zusammenkünfte der Leitung der jüdischen Gemeinde statt, und der Oberrabbiner wohnte hier. Eine Zeitlang befanden sich auch ein jüdisches Spital, eine jüdische Schule sowie ein jüdisches Restaurant und ein Buchladen im Gebäudekomplex. Und es wohnten nicht nur Juden hier, sondern auch nichtjüdische Geschäftsleute, Drucker, Rechtsanwälte, Architekten, von denen wohl die meisten eine berufliche Verbindung zur Familie des Barons Orczy hatten.
Der Vater von Adolf Sonnenthal, Hermann Sonnenthal, wurde 1802 in Óbuda geboren und war Textilhändler. 1846 ging er in Konkurs, die Familie wohnte aber weiterhin im Haus. Hermann und dessen Frau Charlotte Weiss (1806–1864) hatten sieben Kinder, und Adolf (1834–1909) war das zweite des Ehepaars, das bis zuletzt in Budapest lebte. Die Geschwister Sonnenthals aber zogen, angezogen vom enormen Erfolg ihres Bruders, mit der Zeit alle ebenfalls nach Wien.
Adolf Sonnenthal besuchte bis 1846 die jüdische „Normalschule“, die damals deutschsprachig war, und zählte dort bald zu den besten Schülern. Nach Ausbruch der Revolution am 15. März 1848 kam es im April in Pest zu einer antijüdischen Zusammenrottung. Aufgehetzte Gesellen zerschlugen in der Gegend des Orczy’schen Hauses die Schaufenster und Geschäfte der Juden. Sonnenthal nahm eine Axt in die Hand und verteidigte als Anführer einer kleinen Gruppe von Jugendlichen den elterlichen Besitz gegen die besoffene, nach Beute gierende Meute.
Bald darauf beschlossen die Eltern, dass Adolf Schneider werden müsse. Nach zwei Jahren als Lehrling erhielt er den Gesellenbrief, ging, wie es damals üblich war, auf Wanderung und begann am 25. November 1850, bei Josef Peschek in Wien zu arbeiten. In der „Kaiserstadt“ wurde Sonnenthal rasch zu einem begeisterten Theaterbesucher und sammelte bald schon den Mut, den bekannten Schauspieler Bogumil Dawison eines Tages früh am Morgen zu besuchen, um diesem privat vorzusprechen. Er trug seinen Monolog aus Schillers Die Räuber mit derartigem Pathos und Schwung vor, dass, als er sich auf einen Stuhl warf, dieser in Stücke brach. Der überraschte Dawison lächelte und sagte: „Es ist nicht unbedingt notwendig, bei dieser Szene einen Stuhl zu zerbrechen, aber sonst haben Sie ganz geschickt vorgetragen.“
Dawison stellte den jungen Enthusiasten dem damaligen Burgtheater-Direktor Heinrich Laube vor, und da dieser das Talent Sonnenthals sofort erkannte, gab er ihm den Rat, an kleineren Theatern seine Fähigkeiten weiterhin zu beweisen.
So begann Adolf Sonnenthal seine Theaterlaufbahn zuerst in Temesvár (Timisoara), ging von dort an das Theater von Hermannstadt (Sibiu), wo er von 1852 bis 1854 blieb, und war danach in Graz in der Saison 1854–1855 engagiert, von wo er schließlich ins ferne Königsberg (Kaliningrad) zog. Am 18. Mai 1856 spielte Adolf Sonnenthal das erste Mal in Wien – vorerst noch als Gast und in der Rolle des Mortimer in Schillers Maria Stuart. Da der Erfolg auch in Wien nicht ausblieb, wurde er 1859 an das Burgtheater engagiert, Im Jahr darauf heiratete er Pauline Pappenheim, mit der er fünf Kinder hatte: Felix, Hermine, Edmund, Sigmund und Paul.
Adolf Sonnenthal wurde rasch zum großen Vorbild seiner Generation: Die Kleider, die er trug, beeinflussten die Wiener Mode, Zeitungen publizierten seine Sprüche und berichteten über alles, was ihn betraf – von seinem Beinbruch über den frühen Tod seiner Ehefrau 1872 bis zu den Geschichten seiner Kinder und Enkelkinder.

»Es ist nicht unbedingt notwendig, bei dieser Szene einen Stuhl zu zerbrechen, aber sonst haben Sie ganz geschickt vorgetragen.«
Bogumil Dawison

 

Realistischer Gestus. Berühmt wurde Sonnenthal unter anderem für sein großes Erinnerungsvermögen, das ihm das Erlernen immer neuer Rollen erleichterte. Während der 53 Jahre, die er am Burgtheater verbrachte, spielte er nicht weniger als 400 Rollen, die er alle später stolz in seinen Memoiren auflistete. Selten gab es einen Monat, in dem er lediglich eine Rolle spielte – in seinen ersten vier Bühnenjahren trat er während der Theatersaison monatlich in drei bis vier Neuinszenierungen auf. Sonnenthal zeichnete sich in allen Sparten des Theaters aus, Faust, Wallenstein, Karl Moor, Don Carlos, König Lear, Hamlet, Nathan, Macbeth und Clavigo zählten zu seinen legendärsten Rollen, er war aber auch in Komödien erfolgreich und galt als einer der ersten großen „Konversationsschauspieler“. Er war einer der ersten Schauspieler, der die pathetische Bühnendeklamation durch natürliches Sprechen und realistischen Gestus ersetzte, sein Name war auf der ganzen Welt bekannt und man lud ihn mehrmals zu Gastspielen, darunter
nach Russland (1884, 1900) und in die USA (1885, 1899, 1902), ein.
Deutsch war Sonnenthals Muttersprache, doch auch seine Französischkenntnisse waren beachtlich, und so übersetzte der Schauspieler, Regisseur und spätere Intendant in seiner kargen Freizeit eine beachtliche Anzahl an damals populären französischen Stücken.
1870 wurde er Hauptregisseur und Direktor des Burgtheaters, 1884 dessen Generaldirektor. 1881 wurde der hochgerühmte Künstler von Kaiser Franz Joseph mit der „Eisernen Krone“ und dem Ritter-Titel ausgezeichnet, 1906 folgte das Offizierskreuz des Franz-Joseph-Ordens, weitere Ehrungen erhielt er vom Badener Großherzog und vom bulgarischen Fürsten. Doch nicht nur Publikum und Adel verehrten ihn, sondern auch seine Kollegen: So wurde Sonnenthal zum ersten Präsidenten des Verbandes österreichischer Schauspieler ernannt, und zu seinem 40-jährigen Bühnenjubiläum überraschten ihn seine Kollegen mit einem aus reinem Gold gefertigten Lorbeerkranz, der die Aufschrift „Dem Meister des deutschen Schauspiels – die Schauspielkünstler der Burg 1. Juni 1896“ trug; auf einem der äußeren Blätter kann man heute noch die Jahresangaben „1856–1896“ erkennen.
Mit seinem Elternhaus und seiner Geburtsstadt Budapest blieb Adolf Sonnenthal sein Leben lang eng verbunden, verzichtete aber dennoch 1889 auf seine ungarische Staatsbürgerschaft, was eine Reihe von Budapestern damals auch verärgerte. Solange es existierte, war er Mitglied des Ensembles des Deutschen Theaters in Pest, und sein gelegentliches Auftreten galt für seine Verehrer stets als vielbeachtetes Fest. Und so war es nur einem glücklichen Zufall des Schicksals geschuldet, dass er am 20. Dezember 1889, dem Tag, an dem das Theater durch einen Brand zerstört wurde, trotz der vorherigen Ankündigung seines Besuchs nicht auftrat.
Als einer der bestbezahlten Schauspieler der Monarchie nahm Sonnenthal immer wieder an damals populären Benefizveranstaltungen teil, zu denen auch solche für jüdische Wohltätigkeitsvereine gehörten. Sein Judentum war kein Geheimnis, und seine Popularität wurde vorerst durch den aufkommenden Antisemitismus nicht gemindert. Doch zur Jahrhundertwende war der Antisemitismus in Wien bereits derart erstarkt, dass seine Ernennung zum Ehrenbürger der Stadt nicht mehr durchgesetzt werden konnte.
Sein 50-jähriges Berufsjubiläum feierte das Burgtheater mit einer Aufführung von Nathan der Weisen; und während seiner letzten Lebensjahre bearbeitete er Shakespeares Kaufmann von Venedig mit dem Wunsch, durch eine neue Interpretation des Shylock als dem in seinen Rechten verletzten wahren Helden des Stücks dem Antisemitismus auf seine Weise entgegenzutreten.
Adolfs Sonnenthal starb am 4. April 1909 während eines Gastspiels am Deutschen Theater in Prag. Alle Zeitungen der Monarchie brachten ausführliche Nachrufe, Kaiser Franz Joseph lud Sonnenthals Kinder zu sich ein, um persönlich sein Beileid auszudrücken, und am 5. November 1911 wurde ihm zu Ehren eine Büste im Burgtheater aufgestellt. Heute erinnert eine Gasse in Ottakring an den einst vielgeliebten Charakterdarsteller.
Von seinen Nachfahren folgte ihm zwei Frauen auf Bühne: Seine Enkelin Helene von Sonnenthal (1893–1953) wurde Theaterschauspielerin und trat in Tschechien, Deutschland und Österreich auf. Eine weitere Enkelin, die sieben Jahre jüngere Sängerin und Schauspielerin Luise „Luzi“ von Sonnenthal, heiratete 1924 keinen Geringeren als den weltberühmten Komponisten Erich Wolfgang Korngold (1897–1957). 1932 emigrierte sie mit ihrem Mann in die USA, wo sie 1962 in Hollywood starb.
In der Datenbank von Yad Vashem findet man unter den ermordeten Juden 13-mal den Namen Sonnenthal.

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