„Ein jüdischer Sänger, offenbar bekannt“

In einem berührenden Roman beschreibt der Schweizer Lukas Hartmann das Künstlerleben und die Fluchtgeschichte von Welttenor Joseph Schmidt.

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© Österreichisches Theatermuseum/picturedesk.com

„Also Jude“, sagte der Beamte auf der Polizeistation Zürich-Löwenstrasse und wiederholte mit zynischer Genugtuung: „Ein jüdischer Sänger, offenbar bekannt.“ Allein, zu Fuß und seinen einzigen Koffer nachschleifend, hatte im September 1942 der weltberühmte Sänger Joseph Schmidt verarmt und erschöpft die Grenze bei Genf in die vermeintlich rettende Schweiz überquert. Dem Befrager war er nicht böse, dieser hatte ihn nicht erkannt. Aber „sein Publikum“, das ihm erst vor knapp einem Jahr in dieser Stadt zugejubelt hatte, werde ihn wieder auf jenes Podest heben, von dem er so brutal vom NS-Regime gestoßen wurde. Seine wunderschöne, alle Höhen erklimmende Stimme füllte seit den 1920er-Jahren Konzertsäle, betörte die Damenwelt, eroberte in Deutschland, Europa und Amerika ein Millionenpublikum.
Schmidt bat um Arbeitserlaubnis, um seinem „Gastland“ dienlich zu sein und unentgeltlich zu singen. Diese wurde ihm verweigert. Der kaltherzige Bürokrat beschied ihm, dass sein rumänischer Pass ungültig war, folglich sei er des illegalen Grenzübertritts schuldig. Von den Strapazen geschwächt, brach Schmidt in Zürich auf offener Straße zusammen, wurde zwar als der berühmte Sänger identifiziert, aber trotzdem in das Internierungslager Girenbad zur Abklärung des Falles gebracht. Hier waren etwa 300 jüdische Flüchtlinge untergebracht, darunter viele Prominente und Intellektuelle. Die Kälte des unbeheizten Lagers, die Schwerarbeit ebenso wie der antisemitische Lagerkommandant und der zuständige Arzt setzten dem bereits geschwächten Mann zu. Mit einer schlimmen Halsentzündung wurde er in das Kantonsspital Zürich gebracht. Dort ignorierte man Schmidts Hinweise auf seine starken Herzschmerzen und behandelte nur die Laryngitis. Als „Simulant“ beschimpft, galt er offiziell geheilt und musste am 14. November 1942 in das Auffanglager Girenbad zurückkehren.
Nur zwei Tage später starb der weltbekannte Sänger im nahegelegenen Gasthof Waldegg: Die mutige Wirtin ermöglichte ihm, statt auf dem kalten Lagerboden in ihrem Wohnzimmer zu ruhen. Obwohl Manès Sperber, sein Landsmann und berühmter Schriftsteller, im Lager Geld für die Bleibe gesammelt hatte, verweigerte die Wirtin jede Bezahlung. Kurz darauf verstarb Joseph Schmidt an Herzversagen. Einen Tag nach seinem Tod lag seine Arbeitserlaubnis vor – er wäre frei gewesen.

»Wie tief war er gefallen vom Podium, wo er einst umjubelt wurde, in die Versenkung eines tristen Lagers für unerwünschte Heimatlose.«

haMeschorer haMefursam – Fluch und Fall. Diese drastische Fluchtgeschichte erweckt der Schweizer Autor Lukas Hartmann in seinem bedrückend-berührenden Künstlerroman zum Leben. Seine Nacherzählung der Ereignisse, aufbauend auf zwei umfangreichen Schmidt-Biografien, ist so plastisch und gefühlvoll, dass man mitleiden muss: Man riecht die verschmutzte Kleidung, man liegt mit ihm auf dem dünnen Strohsack, wo die Kälte des Betons durchdringt, hustet mit ihm, fühlt den Schmerz in seiner Brust, die auch der demütigenden Erniedrigung geschuldet ist. Hartmann, 1944 in Bern geboren, rekonstruiert die Lebensgeschichte des jüdischen Wundertenors, den die Nazis zu Tode hetzten, aus reichen Quellen und mit fiktionalen Elementen: „Wie tief war er gefallen vom Podium, wo er einst umjubelt wurde, in die Versenkung eines tristen Lagers für unerwünschte Heimatlose. Was für einen bitteren Weg hatte er zurückgelegt von den Orten seiner Erfolge in ein Land, das ihn gar nicht wollte!“ 1942 stand Deutschland auf dem Höhepunkt seiner Macht, die Schweizer Politik fürchtete Repressalien. Hartmann dazu: „Man fragte sich damals: Wollen wir die provozieren? Im Nachhinein weiß man, wie feige das war.“

Lukas Hartmann: Der Sänger. Diogenes 2019, 283 S., € 22

„Joschi“, wie ihn seine Mutter liebevoll nannte, wuchs mit drei Geschwistern in Dawideny und in Czernowitz in einer orthodoxen deutschsprachigen Familie auf. In seinem Geburtsjahr 1904 gehörte die Bukowina zur österreich-ungarischen Monarchie und fiel nach dem Ersten Weltkrieg an Rumänien; 1940 kam ein Teil zur Sowjetunion, heute liegen diese Orte in der Ukraine. Joseph Schmidt sang schon sehr früh als Kantor in der Synagoge von Czernowitz. Ab 1925 studierte er an der Königlichen Musikschule Berlin. Zwischen 1929 und 1933 nahm er zahlreiche Schallplatten auf und sang für den Berliner Rundfunk in 38 Opern. Der populäre Tenor war der Star erfolgreicher Musikfilme. Da er nur 1,54 m groß war, blieb ihm eine Karriere auf der Opernbühne verwehrt. Trotzdem verkörperte er im Januar 1939 in Brüssel die Rolle des „Rudolf“ in Puccinis La Bohème und ging mit der Produktion in Europa auf Tournee: Innerhalb eines Jahres spielte er diese Rolle 24-mal.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten sang er am 20. Februar 1933 zum letzten Mal im deutschen Rundfunk, eine Woche darauf wurde ihm der Zugang zum Funkhaus verwehrt. Nach der Premiere seines Films Ein Lied geht um die Welt am 9. Mai 1933 floh er im Dezember zunächst nach Wien, gastierte 1934 in Palästina; 1937 debütierte er in New York in der Carnegie Hall. Obwohl es ihm gelang, ein Visum nach Kuba zu bekommen, wurde der Schiffsverkehr auf die Insel nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour eingestellt. Wegen seiner unversorgten Mutter kam er 1938 in das inzwischen annektierte Österreich zurück, floh zuerst nach Belgien und im November 1940 nach Frankreich. Hier wurde er als Deutscher in der damals noch unbesetzten Zone Frankreichs, in La Bourboule, von der Vichy-Regierung zwangsinterniert.
Schmidts letzter nachweisbarer Auftritt fand in der Oper von Avignon am 14. Mai 1942 statt.
Bestseller-Autor Lukas Hartmann, studierter Germanist und Psychologe, versetzt sich in seinem Roman auch in die Perspektive der Peiniger Schmidts: In kursiv gesetzten Kapiteln lässt er kaltschnäuziges schweizerisches Juristendeutsch und fadenscheinige Rechtfertigungen diverser Akteure hören. Und auch Positives: Schwärmende Dorfmädchen wollen einen Blick ihres Idols erheischen, die helfende Wirtin kommt als eine Schweizer Ausnahme zu Wort. „Wie er Leute bezaubern konnte, spielt eine große Rolle. Sein berühmtestes Stück, Ein Lied geht um die Welt, haben bis heute auf Youtube 650.000 Leute angeklickt das ist enorm“, begeistert sich Hartmann.
Joseph Schmidt ist auf dem Israelitischen Friedhof Unterer Friesenberg in Zürich-Wiedikon begraben. Sein Grabstein trägt auf Deutsch die Inschrift „Ein Stern fällt … Joseph Schmidt Kammersänger 1904–1942“ sowie auf Hebräisch die Worte hameshorer hamfurssam („der berühmte Sänger“). Im Gasthof, in dem er starb, hängt eine Gedenktafel. In der alten Synagoge von Czernowitz findet man eine Inschrift im Andenken an Joseph Schmidt – doch die Synagoge ist heute ein Kino.

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