Ein Klavier erzählt die Geschichte der Familie Lipschütz

Im Presseclub Concordia steht seit Kurzem ein Bösendorfer, der dem Mitbegründer der Kronenzeitung gehört hatte: Leopold Lipschütz. Von den Nazis verfolgt, setzte er seinem schöpferischen Leben 1939 in Nizza selbst ein Ende.

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Gustav Davis und Leopold Lipschütz schrieben gemeinsam Theaterstücke und mit der Kronenzeitung österreichische Mediengeschichte. © Luiza Puiu; concordia

Er trägt den gleichen Schnauzbart wie sein Großvater und ähnelt ihm auch in der Statur: Der Enkel Salvador Lipschutz ist braungebrannt, kommt er doch aus dem sonnigen Madrid – der Vergleich mit seinem Großvater Leopold Lipschütz gelingt nur anhand von Schwarz-weiß-Fotos aus den 1930er-Jahren. Der 66-jährige Salvador bewegt sich sehr bescheiden und zurückhaltend im Foyer des Presseclubs Concordia, wo sich Ende Oktober 2022 viel Wiener Prominenz zu einem Benefizabend eingefunden hat. Niemand kennt den Gast und großzügigen Spender, der allen Grund dazu hätte, sich hier aufzuspielen: Salvador Lipschutz schenkte dem Presseclub einen komplett restaurierten Bösendorfer-Flügel aus dem Jahr 1911, der an diesem Abend durch den weltberühmten Pianisten Rudolf Buchbinder mit einem Konzert wieder zu hörbarem Leben erweckt wurde.

Die Familiengeschichte von Salvador Lipschutz hängt vielfach mit dem Presseclub zusammen, aber nicht an seiner heutigen Innenstadt-Adresse Bankgasse 8: Denn als sein Großvater von 1926 bis 1938 unter vielem anderen auch Präsident der Concordia war, befand sich der Verein österreichischer Schriftsteller und Journalisten noch in der Werdertorgasse 12. Der Bösendorfer-Flügel „diente“ schon damals insofern den Zielen des Presseclubs, als sein Besitzer Lipschütz in der Hartäckerstraße 18 nicht nur gesellige, kulturell hochwertige Abende – unter anderen mit Maria Jeritza, Franz Lehár, Leo Slezak, Hermann Leopoldi, Karl Farkas und Hugo Wiener – veranstaltete, sondern die Einnahmen sozialen Projekten widmete.

Pionier der österreichischen Medienlandschaft. Das Leben und Wirken des am 16. April 1870 in Bielitz (heute Polen) geborenen Leopold Lipschütz ist vergessen, obwohl dieses untrennbar mit Österreichs Mediengeschichte und dem Presseclub Concordia verbunden war und ist. Lipschütz hat sein Jusstudium 1882 in Wien mit dem Doktorat abgeschlossen, trotzdem wandte er sich sehr bald der Publizistik zu: Zuerst schrieb er für unterschiedliche Tageszeitungen, ab 1892 war er bereits Redakteur der Neuen Freien Presse und ging Ende der 1890er-Jahre für diese als Korrespondent nach Paris. Dort verfasste Lipschütz seinen ersten Roman in französischer Sprache: Pariserinnen. Inhalt des Romans sind die amourösen Abenteuer eines Wieners in Paris. Gemeinsam mit Gustav Davis, einem ehemaligen Offizier und Chefredakteur der Zeitung Reichswehr, schrieb er das Schauspiel Die Galeere, den Schwank Levy, das Lämmchen sowie den Roman Prinz Ary und seine Liebschaften. Über die Qualität seiner Stücke steht im Österreichischen Biographischen Lexikon: „Seine oft schmackhaft angelegten Werke blieben jedoch trotz gelegentlicher ironisch-satirischer Ansätze dem Publikums- und Zeitgeschmack, häufig einem Klischee zu sehr verhaftet.“

©concordia

Dieser frühe Hang zum Boulevard sollte Leopold Lipschütz später noch sehr nützlich sein, denn er gründete gemeinsam mit Gustav Davis die Kronenzeitung, war ihr erster Chefredakteur und Miteigentümer. Am 2. Jänner 1900 erschien das Blatt zum ersten Mal, der Name rührt übrigens vom Preis her: Nach der Währungsumstellung von Gulden auf Kronen kostete das Monatsabonnement genau eine Krone, die Einzelausgabe vier Heller. Die Zeitung war anfangs keinesfalls das Erfolgsblatt, zu dem es sich später entwickelte. Das änderte sich am 11. Juni 1903, als einige serbische Offiziere in den Königspalast eindrangen und König Alexander I. und seine Gattin Draga ermordeten. Davis und Lipschütz handelten für damalige Zeitungsverhältnisse revolutionär und entsandten ein Team von Reportern nach Belgrad, das vor Ort über den Königsmord berichtete. Diese richtungweisende Aktion bescherte der Kronen Zeitung nachhaltig Popularität und ließ die Auflagenzahl in die Höhe schnellen.

 

Lipschütz’ Schicksal steht beispielhaft für viele
Journalistinnen und Autoren, die verfolgt, vertrieben, ermordet oder in den Suizid getrieben wurden.

 

Schon ab 1905 bekleidete Lipschütz verschiedene Ämter im Presseclub Concordia, ehe er im Jahr 1926 zu dessen Präsident gewählt wurde. Von Beginn seiner Amtszeit an setzte er sich mit der Concordia gegen Einschränkungen der Pressefreiheit und gegen Zensur ein. Aber es gab auch Kritik: Die Arbeiter-Zeitung (AZ) befand, dass Lipschütz im Austrofaschismus nicht vehement genug gegen die Zensur gekämpft hätte. 1933 habe die Concordia zwar harte Forderungen an das Regime gestellt, formulierte diese aber „stets sehr untertänig“, zitiert die Journalistin Sandra Paweronschitz die AZ.*

Presse, Volk & Vaterland. Obwohl sich die Concordia ab 1934 dem Regime anpasste, nutzte ihr das nichts, denn sie wurde sukzessive in ihrer Bedeutung beschränkt. „Zu den indirekten Folgen der Unruhen im Februar 1934 gehörte die Umstrukturierung alter und in Verbindung damit die Schaffung neuer regimetreuer Presseorganisationen, in denen die ‚Concordia‘ mitarbeiten sollte.“**

Lipschütz gab dabei kein sehr rühmliches Bild ab, denn im November 1934 verkündete er anlässlich einer Concordia-Feier im Festsaal der Universität, „oberste Pflicht der Journalistik“ sei es, dem „Vaterland und dem Volk“ zu dienen, und drückte Schmerz, Wehmut, Treue und Dankbarkeit gegenüber Dollfuß aus. „Wir Journalisten haben die besondere Aufgabe, den österreichischen Gedanken täglich in die Seelen der Bevölkerung einzuhämmern“ (Eppel, S. 245). Dennoch schaffte es Lipschütz 1936 gemeinsam mit der Concordia, die Wahrung der Interessen der Journalisten im Urheberrecht und Verwertungsgesetz durchzusetzen – dafür kürte ihn Bundeskanzler Schuschnigg zum Vizepräsidenten der neu gegründeten Pressekammer. 1937 erhielt er von Bundespräsident Miklas das Komturkreuz des Österreichischen Verdienstordens und versprach, seine Arbeit so wie bisher fortzusetzen, „stets und einzig geleitet von heißer Liebe zum Vaterland Österreich“. In seiner Ära als Chefredakteur erhielt Lipschütz auch einen Brief von einem 14-jährigen Jungen, der vom Journalismus begeistert war. „Chefredakteur Lipschütz persönlich gab mir den Rat, Schriftsetzer zu lernen, weil einem dieses Handwerk beim täglich notwendigen Umgang mit dem Druckereipersonal sehr hilfreich sein könne. Daneben sollte ich versuchen, in einer Abendschule die Matura zu machen“, erinnerte sich der spätere Krone-Eigentümer Hans Dichand in seinen Memoiren.

Salvador Lipschutz schenkte den frisch renovierten Familien-Flügel dem Presseclub Concordia. © concordia

Obwohl Leopold Lipschütz noch im Februar 1938 als Präsident der Concordia wiedergewählt wurde, halfen ihm nach dem „Anschluss“ weder Ämter noch Würden. Für ihn und Gustav Davis wurde der 12. März 1938 zum Schicksalstag: Von vielen Häusern Wiens wehte bereit die deutsche Flagge mit dem Hakenkreuz, als um 6 Uhr abends der gesamte Redaktionsstab der Kronenzeitung zusammengerufen wurde. Am Schreibtisch saß aber nicht mehr Gustav Davis, sondern der deutsche Offizier Major von Derda, der ankündigte, dass die Leitung der Zeitung vom nationalsozialistischen Deutschland übernommen werde und alle nichtarischen Mitarbeiter binnen 30 Minuten das Haus zu verlassen hätten. Bald darauf wurde diese österreichische Zeitung zur Kleinen Kriegszeitung umgetauft und am 31. August 1944 gänzlich eingestellt.

 

Ab 1905 bekleidete Lipschütz verschiedene
Ämter im Presseclub Concordia,
ehe er im Jahr 1926 zu dessen Präsident gewählt wurde.

 

Erbe & Verantwortung. Die Pressefreiheit war zerstört, Zeitungen eingestellt und das deutsche „Schriftleitergesetz“ gültig, das die Berufsausübung an einen „Ariernachweis“ band. Auch der Presseclub Concordia wurde am 17. März 1938 geschlossen, dessen gesamtes Vermögen beschlagnahmt. Gustav Davis, Schriftsteller, Librettist von Johann Strauss und ehemaliger Oberleutnant seiner apostolischen Majestät, musste sich auf das Gut Hohenlehen (oberes Ybbstal), das von den Nazis als „wehrwirtschaftlich wichtiger“ Betrieb eingestuft wurde, zurückziehen, wo er 1951 starb. Concordia-Präsident Lipschütz wurde angeblich vom englischen Diplomaten Baron Vansittart of Denham*** gewarnt und flüchtete noch rechtzeitig mit seiner Frau Therese nach Frankreich. Dort folgte das tragische Ende: Gemeinsam mit seiner Frau beging er im Alter von 69 Jahren Selbstmord.

„Angeblich passierte der Doppelselbstmord in Nizza“, erzählt Enkel Salvador, der auf die Frage, seit wann er sich für seine Familiengeschichte interessiere, klar sagt: „Seit immer.“ Er weiß, dass sein Vater Frank in Frankreich geboren wurde, wo auch Salvador 1956 zur Welt kam. Seine Mutter stammt aus Mexiko, er selbst ist schon in Madrid aufgewachsen. „Ich wurde der Erbe jener Villa in der Hartäckerstraße 18 im 19. Bezirk, wo dieser Bösendorfer-Flügel stand und auch benützt wurde“, erzählt Lipschutz, der sich 2019 entschied, die inzwischen restituierte Villa seines Großvaters zu verkaufen.

Diese Villa birgt eine eigene illustre Geschichte: Der Industrielle Emil Gerhard Pick (1862–1928) besaß die größte Baumwollspinnerei der Monarchie und bezog das vom Architektenduo Ernst Spielmann und Alfred Teller erbaute Palais im Jahr 1923. Erst 1929/30 verzeichnet das Wiener Adressbuch Dr. Leopold Lipschütz als Bewohner. Nutznießer der „Arisierung“ wurde der deutsche Verleger Friedrich Bohnenberger, der in der Villa Pick residierte und gemeinsam mit seiner Frau noch drei arisierte Damenmodengeschäfte führte: „Elegance“ war der klingende Namen der drei Top-Adressen. Die kommunistische Volksstimme nannte Bohnenberger am 7. Oktober 1945 einen „reichsdeutschen Großschieber“, und vom „Übernazi“ berichtete der Kurier. Nach 1945 wurde das Palais als österreichische Zentrale des Marshallplans genutzt, danach wurde es zur Residenz des irischen Botschafters. Und auch die Botschaft nutzte den Konzertflügel, wie Jahrzehnte zuvor sein Käufer, für Konzerte bei Abendgesellschaften.

Diesen Bösendorfer aus dem Jahr 1911 ließ Salvador Lipschutz vom Wiener Klaviermachermeister Heinz Letuha fachgerecht restaurieren und schenkte ihn dem Presseclub Concordia, damit er an seinen Großvater Leopold Lipschütz erinnere und „den österreichischen Schriftstellern, Journalisten und deren Unterstützern erneut dienlich sein möge“.

Salvador Lipschutz, der im künstlerisch-audiovisuellen Bereich in Mad­rid arbeitet, spricht ein wenig Deutsch, verstehen kann er aber etwas mehr. Ob er den Dank und die Rede des Concordia-Präsidenten Andreas Koller oder die Würdigung seines Großvaters durch Generalsekretärin Daniela Kraus verstanden hat, ist nicht gesichert. Was ihm aber wortwörtlich übersetzt wurde, war der Zweck dieses Abends: Die Erlöse aus dem Concordia-Benefizabend gehen an den JX Fund, der Journalisten und Journalistinnen im Exil auf vielfältige Weise unterstützt.

In diesem Sinne schließt sich der historische Kreis, weil der Eigentümer des Klaviers schon vor 111 Jahren seinen Kolleginnen und Mitstreitern geholfen hat und jetzt die Concordia in der aktuellen Krise helfen kann. Lipschütz’ Schicksal steht beispielhaft für viele Journalistinnen und Autoren jener Epoche, die verfolgt, vertrieben, ermordet oder in den Suizid getrieben wurden.

 


*Sandra Paweronschitz: Zwischen Anspruch und Anpassung. Journalisten und der Presseclub Concordia im Dritten Reich. Wien: Edition Steinbauer 2006.

** Peter Eppel: „Concordia soll ihr Name sein.“ 125 Jahre Journalisten- und Schriftstellerverein. Wien: Böhlau 1984.

*** Robert Gilbert Vansittart, ein Cousin zweiten Grades von Thomas Edward Lawrence (Lawrence von Arabien), war als Diplomat ein scharfer Kritiker der Appeasement-Politik von Premier Chamberlain und veröffentlichte 1940/41 antideutsche Berichte via BBC Radio.

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