Auf den Stiegen und im Keller des Museumsgewölbes ist es ganz still. Man hört sie nicht, man sieht sie nur: Ungefähr ein Dutzend Mädchen eines OberstufenGymnasiums lauschen aufmerksam und konzentriert den Ausführungen von Joachim Innerhofer. Der Direktor des Jüdischen Museums von Meran erzählt die Geschichte der Juden dieser Stadt. „Die Initiative für diese Besuche kommt vom Lehrkörper diverser Schulen, sogar Volksschulklassen kommen hierher. Das Interesse ist enorm groß, teilweise müssen wir sie auf spätere Termine vertrösten, auf Monate hinaus“, freut sich der gebürtige Meraner mit der Häkel-Kippa auf dem grau melierten Haar.
Gut formulieren und erzählen kann Joachim Innerhofer, der nach seinem Studium an der Universität Innsbruck mehrere Jahre als Redakteur für die Neue Südtiroler Tageszeitung gearbeitet hat. „Unsere Gemeinde-Präsidentin fragte mich, ob ich nicht das Museum leiten möchte. Es ging darum, allen Besuchern das Judentum näher zu bringen – und das versuche ich aktiv seit 2008“, lacht Innerhofer, dessen jüdische Wurzeln mütterlicherseits liegen. Erst mit fünfzehn Jahren erfuhr er von seinem Onkel, dass er Jude sei. Daraufhin begann er sich intensiv mit seiner Familiengeschichte und dem Judentum zu beschäftigen. „Nach meinen Recherchen habe ich mich an die Gemeinde gewandt, es war kein Problem, Mitglied zu werden.“
Die Zahl der eingeschriebenen Gemeindemitglieder ist nicht höher als 49, es gibt aber auch zahlreiche Ehepaare, von denen ein jüdischer Partner gerne an den angebotenen Aktivitäten teilnimmt. „Unser Glück ist, dass trotz der Überalterung der einheimischen Mitglieder mehrere Familien mit kleinen Kindern hierher ziehen“, freut sich der Direktor. „Das sind zum Beispiel israelische Frauen, die Italiener geheiratet haben und aus beruflichen Gründen hier leben. Nächstes Jahr haben wir eine Bar Mitzwa aus so einer Familie.“ Innerhofer ist auch froh, dass eine israelische Wissenschaftlerin, die in Bozen und Trier an den Universitäten unterrichtet, mit fünf Kindern nach Meran gezogen ist. „Es sind Architekten, Ingenieure darunter, die mit ihren Kindern zu Purim, Chanukka und den Herbstfeiertagen zu uns kommen.“ Kulturell kann man nicht viel bieten, obwohl ein Anne-Frank-Kulturzentrum gleich gegenüber der Synagoge und des Museums existiert. Hier sind auch die kleine Bibliothek und das Sekretariat der Gemeinde untergebracht, die koschere Küche kann auf Anfrage und nach Bedarf betrieben werden. „Unsere Präsidentin, Dr. Elisabetta Rossi-Borenstein, ist im Vorstand des jüdischen gesamtitalienischen Verbands vertreten. Die Meraner Gemeinde gehört zur UCEI – Unione delle Comunità Ebraiche Italiane, deren Sitz in Rom ist. Aber auch den wenigen jüdischen Menschen bietet man Shiurim (eine Art Talmud-Thora) und religiöse Dienste an. Der ehemalige Oberrabbiner von Triest, Umberto Piperno, der jetzt hauptberuflich in Verona ist, kommt für den Unterricht und die Feiertage in die Stadt. Simone Bordon, der Chassan (Kantor), stammt aus Genua, lebt aber in Bozen und hat es daher nicht weit nach Meran.
„Unser Glück ist,
dass trotz der Überalterung der einheimischen Mitglieder
mehrere Familien mit kleinen Kindern hierher ziehen.“
Joachim Innerhofer
Der jüdische Beitrag zur Blüte des Kurortes Meran. Bereits aus dem Mittelalter sind erste Spuren jüdischen Lebens in Tirol überliefert. In der Stadtchronik heißt es, dass bereits 1297 „der Jude Maisterlino auf der Töll“ oberhalb von Meran Steuereintreiber war. Um 1311 verwaltete ein Jude aus Görz namens Bonisak die Meraner Münzstätte. Im Jahr 1403 erhalten Isaak und Samuel mit ihren Familien von Bischof Ulrich II. das Privileg, in Brixen eine Kreditbank zu betreiben.
Kaiser Maximilian I. erließ 1520 die Ausweisung aller in Tirol ansässigen Juden. Da Bozener Juden davon ausgenommen waren, zogen einige Tiroler Juden dorthin. Doch nur wenige Jahrzehnte später, 1573, verordnete Ferdinand II. für die Grafschaft Tirol, dass in Bozen wohnhafte Juden und Juden, die nur auf der Durchreise waren, ein Kennzeichen tragen mussten. Das „Judensymbol“ bestand aus einem kreisförmigen gelben Stoffstück mit einem Durchmesser von 8,5 cm und hatte gut sichtbar aufgenäht zu werden.
Jüdische Familien prägten und veränderten Meran und das südliche Tirol, besonders die Familien Schwarz, Biedermann und Bermann (siehe dazu Kasten). Ihre Namen stehen dafür, dass Bozen und Meran, Letzteres noch ein unbedeutendes Provinzstädtchen, sich zu angesehenen Handels- und Tourismuszentren entwickelten. Die Familie Schwarz förderte mit ihrer Privatbank den Ausbau der Infrastruktur in Südtirol, im Trentino und in Meran. Mitglieder der Familie bauten unter anderem die Eisenbahn in Garda und die Standseilbahn auf den Virgl bei Bozen, die bei ihrer Eröffnung 1907 als steilste Standseilbahn Europas galt.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen viele Juden in die Stadt an der Passer: Händler, Ärzte, aber auch einfache Menschen. Die Meraner Kultusgemeinde entstand im späten 19. Jahrhundert. Ab 1894 lud die Königswarter Stiftung Kurgäste und die jüdischen Einwohner Merans zu Gottesdiensten in den Betsaal des Asyls für mittellose Juden, das ein Jahr zuvor aus weltweiten Spenden eröffnet worden war. Diese Räumlichkeit wurden bald zu klein: Die Meraner Synagoge wurde am 27. März 1901 als erstes jüdisches Bethaus Tirols eröffnet. Aron Tänzer, damals noch Landesrabbiner für Tirol und Vorarlberg und später, von 1905 bis 1907, Rabbiner in Meran, nahm die Einweihung vor. Die Synagoge wurde während Südtirols NSBesetzung von September 1943 bis April 1945 als Magazin verwendet, das Gebäude und ein Teil der Einrichtung blieben jedoch erhalten.
Eigenständig wurde die Meraner Gemeinde erst Ende des Jahres 1921, nachdem die völkerrechtlichen Aspekte der Übernahme Südtirols durch Italien geklärt waren. In den 1920er-Jahren lebten rund 50 jüdische Familien in Meran. Innerhalb nur eines Jahrzehnts vergrößerte sich die Zahl der hier lebenden Juden auf knapp 1.000: Die meisten waren als Ärzte, Kaufleute, Intellektuelle und Künstler aus Deutschland und der einstigen Habsburger Donaumonarchie eingewandert, einige kamen aber auch aus Osteuropa. Bis 1938 stieg ihre Zahl auf rund 1.500, dazu zählten bereits einige hundert Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland und Österreich.
In Südtirol gab es einen religiösen Antisemitismus, wie seit Jahrhunderten, aber keinen politischen. Allerdings war Meran 1933 auch die einzige Stadt in Italien, in der es zu antisemitischen Aktionen kam: Bereits seit 1931 gab es in der Stadt eine NSDAP-Ortsgruppe, die aus reichsdeutschen Staatsbürgern bestand. Als die italienischen Rassengesetze im Jahr 1938 in Kraft traten, mussten Juden ohne italienische Staatsbürgerschaft das Land verlassen. Bereits davor schloss man sie aus dem öffentlichen Dienst aus.
1940 wurde ein Teil der noch in Meran lebenden Juden inhaftiert, einige Tage später aber wieder freigelassen. Wer danach nicht untertauchen konnte, musste Zwangsarbeit leisten. Unmittelbar nach dem Einmarsch der deutschen Truppen am 8. September 1943 begann die Jagd des Südtiroler Ordnungsdienstes (SOD) und des Sicherheitsdienstes auf die hier noch lebenden Juden – darunter auch Menschen, die vor der nationalsozialistischen Verfolgung Zuflucht gefunden hatten. Ihr Leidensweg führte über das Lager Reichenau (bei Innsbruck) geradewegs in das Vernichtungslager AuschwitzBirkenau. Man plünderte die verlassenen Wohnungen der deportierten Juden, ihr Eigentum wurde konfisziert. Mindestens 50 Juden aus Meran wurden Opfer der Shoah.
Ein Bericht über die „mörderische Heimat“. „Nach 1945 weigerte man sich, Überlebende für ihre materiellen Verluste zu entschädigen. Die Erinnerung an die jüdischen Nazi-Opfer wurde lange verdrängt“, erzählt Joachim Innerhofer, der gemeinsam mit Sabine Mayr auch durch das Buch Mörderische Heimat (2015) diesem Zustand ein Ende setzte. „Südtirols Juden liebten ihre Heimat und leisteten unschätzbare Beiträge in der Medizin, Wirtschaft und im Tourismus. Indem wir die Spuren jüdischen Lebens in der Geschichte Südtirols aufzeigen, wird ihnen wenigstens eine kleine, wenn auch sehr späte Anerkennung zuteil.“ Den von den Nazis ermordeten Meraner Juden wurde lange Zeit das Andenken verweigert. Sie tauchten auch nicht in der Südtiroler Opferliste auf. Ebenso hüllte die offizielle Geschichtsschreibung einen Mantel des Schweigens um die rege NSMittäterschaft.
Wenn man heute in der Schillerstraße den begrünten Hof zur Synagoge betritt, kommt man an einer großen Steintafel vorbei, auf der alle Meraner Shoah-Opfer namentlich verewigt sind. Die Ehrentafel des Friedhofs enthält bekannte Namen: jenen des Schriftstellers Karl Wolf, des Arztes Franz Tappeiner, nach dem das Krankenhaus und der Panoramaweg benannt sind, oder des Buchhändlers und Druckers Wilhelm Ellmenreich, Mitgründer der Spar- und Vorschusskasse, der heutigen Volksbank. Hier findet man auch den Namen von Davide Wischkin, 1910 in Riga, Lettland, geboren, in Meran 1976 gestorben. „Wischkin war Allgemeinarzt und für die Meraner Spitäler St. Anna und Lorenz Böhler tätig“, weiß Chaim Lazar, Wischkins Großneffe und Mitglied der jüdischen Kultusgemeinde in Meran.
Die Synagoge in Meran strahlt heute eine würdevolle Stimmung aus: Warmes braunes Holz vertäfelt die Wände, schweres rotes Tuch ist zu sehen, goldene Leuchter, der Thoraschrein und Kultgegenstände. Indessen versammelt sich draußen schon die nächste Touristengruppe: Diesmal sind es Israeli, die die umtriebige Dalit Katzenellenbogen von der israelischen Reiseagentur Italia Viva herangekarrt hatte. „Es besuchen uns Menschen aus der ganzen Welt, von nicht jüdischen Polen bis zu den ultraorthodoxen Besuchern, den Breslauer Chassidim“, schmunzelt Joachim Innerhofer. „Wir freuen uns über jedes Interesse, egal aus welchem Eck es kommt. Aber für die Bildung der Jugend, die es in die nächsten Generationen trägt, ist es besonders wichtig. Damit endlich die Vorurteile gegen Juden abgebaut werden“, hofft der Optimist in Meran.
FAMILIE BERMANN: von Mähren über Meran nach St. Moritz
Wer in unserer Gemeinde in den späten 1970er-Jahren über ein gut gefülltes Portemonnaie verfügte und die Strapazen vor und während der Pessach-Feiertage vermeiden wollte, fuhr in das koschere Hotel Edelweiss in St.Moritz. Hatte man Kinder im heiratsfähigen Alter, ergab sich noch eine tolle Ausrede: Ins Edelweiss reisten auch Familien aus Zürich, Antwerpen, London und Milano an – und so blühte hier der Heiratsmarkt. Die Wirtsleute Bermann waren streng und nicht übermäßig herzlich, aber wer auf koscheres Essen und Minjanim (Gemeinschaftsgebete) Wert legte, hatte nicht viel Auswahl. Israel war damals noch kein attraktives Ziel. Bei der Recherche über das jüdische Meran entdeckte ich die beeindruckende Familiengeschichte der Bermanns. Die Chronik beginnt mit Josef Bermann, geboren 1827 in Kremsier in Mähren, der zuerst im slowakischen Brezova nahe dem Kurort Piest’any lebte und anschließend in Kobersdorf, einer der Siebengemeinden des Burgenlands, die damals beide zu Ungarn gehörten. Um 1870 kam die Familie nach Meran und eröffnete drei Jahre später Bermann’s Koscher-Restauration. 15 Jahre danach kauften Josef und Katarina Bermann die Pension Starkenhof, bauten auch diese in einen koscheren Betrieb aus und trugen so wesentlich zur Blüte der Kurstadt bei. Die Geschichte des Edelweiss in St. Moritz beginnt mit einem Wunsch des Baron Willi von Rothschild, der im Meraner Starkenhof Stammgast war: Der Baron wollte auch nach St. Moritz zur Kur, doch nicht auf eine koschere Verpflegung verzichten. Er engagierte den Sohn von Josef Bermann, Leopold, zuerst als Schächter in St. Moritz. 1896 eröffnete dieser dann das Hotel Edelweiss, das wiederum dessen Sohn Josef und von 1953 bis 2006 sein Enkel Leopold weiterführte. Nach vier Generationen Bermann wurde im Sommer 2010 das Hotel Edelweiss für immer geschlossen.