RÄCHEN, DASS DIE WELT IN DEN GRUNDFESTEN ERBEBT“

Das Thema der jüdischen Rache war nach dem Krieg lange ein Tabu, auf Seiten der NS-Täter und ihrer Nachkommen aus Angst vor den Rächern, jüdischerseits oft aus Angst, damit erneut antisemitische Ressentiments hervorzurufen. Ganz ohne Scheu widmen sich nun die Ausstellung Rache. Geschichte und Fantasie in Frankfurt und ein neues Buch diesem verdrängten Sujet.

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Max Czollek, Erika Riedel, Miriam Wenzel: Rache. Geschichte und Fantasie. Hanser 2022, 176 S., € 26,80

Die gleichnamige Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt ist bis 17. Juli 2022 zu sehen.
juedischesmuseum.de

Vom so gern missgedeuteten Bibelvers „Aug um Auge“ bis zum Bild „Wie Schafe zur Schlachtbank“, also von der „alttestamentarischen“ Rachsucht der Juden bis hin zu ihrer Opferrolle in der Shoah spannt sich ein Bogen der Vorurteile in der Geschichte. Gleichsam in Bestätigung des Klischees, „die dritte Generation will sich an das erinnern, was die zweite zu vergessen sucht“, beleuchten gerade Angehörige der besagten dritten Generation diese Vorurteile und ihre Folgen.
Bereits in seiner Streitschrift Desintegriert euch! (2018) hatte der junge Publizist und Lyriker Max Czollek gegen das deutsche „Versöhnungstheater“ gewettert, in dem „Juden für Deutsche“ ihre scheinbar einzig mögliche Rolle spielen. Czolleks Idee, das Sujet „Rache“ in einem Ausstellungsprojekt aufzuarbeiten, wurde vom Jüdischen Museum in Frankfurt aufgenommen und jetzt verwirklicht. Auch ohne vor Ort zu sein, gibt der Begleitband zur Schau einen vielstimmigen Einblick in das kontroverse Thema von der Bibel bis hin zur Pop- und Digitalkultur.
Aus jüdisch religiöser Sicht scheint es sehr komplex zu sein. Eine moralische Rechtfertigung findet Rache zwar schon in der Bibel, wie Admiel Kosman in einem Essay des Katalogs aufzeigt, beginnend von der göttlichen Strafe für die Ägypter, die die Juden versklavten. Doch auch Warnungen davor, „sich der Rache G’ttes zu erfreuen, weil auch die Feinde Israels seine Geschöpfe seien“, und sogar explizite Racheverbote lassen sich in der Thora nachweisen.

 

„Die wenigen aber, die bleiben werden,
müssen ihre ermordeten Brüder rächen.“

Margarete Bolchower

 

Nach Jahrzehnten einer „Erinnerungskultur“, die sowohl tatsächliche Rachehandlungen wie auch entsprechende Fantasien tabuisierte, öffnete Quentin Tarantinos Film Inglourious Basterds 2009 gleichsam ein Ventil, auch wenn die Begeisterung über jüdische Partisanen, die Nazis zur Strecke brachten, in Tel Aviv und New York weit größer war als beim deutschen Publikum. Der Baseballschläger, der im Film für einen Racheakt an einem Wehrmachtssoldaten genutzt wurde, ist nun eines der symbolischen Exponate der Frankfurter Schau. Inspiriert wurde der Streifen von tatsächlichen Vergeltungsakten der „Jewish Brigades“ der britischen Armee. Doch diese waren nur eine von mehreren Organisationen, die Täter aufspürten, verfolgten und an ihnen Selbstjustiz übten. So entwarf insbesondere auch die Gruppe „Nakam“ (hebr. Rache) um Abba Kovner nach 1945 diverse Pläne, um sich an möglichst vielen Deutschen für das vergossene jüdische Blut zu rächen. Den Auftrag und die Legitimation dazu wollen sie von den Toten selbst erhalten haben.

„Die Zeit heilt keine Wunden!“
Michel Bergmann

 

Die wenigen aber, die bleiben werden, müssen ihre ermordeten Brüder rächen. Rächen, dass die Welt in den Grundfesten erbebt. Sonst werden die in den Massengräbern keine Ruhe finden“, schrieb Margarete Bolchower 1943 aus ihrem Versteck in Galizien. Es ist nur eines der erschütternden Zeugnisse, in denen Opfer zur Vergeltung aufrufen.
Rachefantasien sind wohl allen Menschen vertraut, sie auszuleben verbieten Vernunft, moralische Schranken und manchmal auch Mut. Enttäuscht und frustriert von der Nachkriegsjustiz in Deutschland und Österreich breiteten sich in jüdischen Kreisen vielfach Rachefantasien oder symbolische Rachehandlungen aus. Gleichsam in Umkehrung der Nazi-Parole „Kauft nicht bei Juden!“ wurden etwa deutsche Produkte boykottiert, wurde Deutschland nicht bereist. Stellvertretend erfreute man sich vielleicht insgeheim am „Ruhm“ jüdischer Gangster in Amerika, die selbstermächtigt antisemitische Angriffe rächten und jüdische Gemeinde mit der Waffe verteidigten.
Sublimiert wurden und werden Rachefantasien in der Kunst, in der Literatur ebenso wie in Comics über die Shoah oder sogar in digitalen Spielen, wofür die Ausstellung Beispiele bietet. „Die Zeit heilt keine Wunden!“, bilanziert der aus einer Opferfamilie stammende Autor Michel Bergmann in seinem Beitrag nie verjährende Rache.

 


EIN ANWALT FÜR DIE VERGELTUNG

Achim Doerfer: Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen. Kiepenheuer & Witsch, 368 S., € 24,95

Familiär geprägt als Angehöriger der dritten Generation, geht Achim Doerfer, ein deutscher Anwalt Jahrgang 1965, in seinem Buch Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen dem „Märchen deutsch-jüdischer Versöhnung“ und dem Wunsch nach Vergeltung nach. Wie sich entgegen dem Klischee der wehrlosen jüdischen „Schafe“ Widerstandsgruppen in Deutschland, in den Ghettos, in den Konzentrationslagern formierten und arbeiteten, wie jüdische Partisanen um Abba Kovner und die Jewish Infantry Brigade Group Racheakte planten und ausführten, kann man hier gut recherchiert im Detail nachlesen. Das Versagen der deutschen Justiz nach 1945, das Täter systematisch verschonte und damit wieder in die Gesellschaft eingliederte, zeigt er in einem weiteren Teil einerseits akribisch genau, andererseits mit spürbarer Emotion und Wut auf. Mit diesen beiden nahezu synchronen Stimmen scheint die intellektuelle Debatte um das so lange totgeschwiegene Thema Rache eröffnet, sie ist aber sicher noch lange nicht zu Ende.

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