„Ein kritischer Historiker ist hier fremd zu Hause“

Dariusz Stola, renommierter Wissenschaftler und ehemaliger Direktor des POLIN-Museums in Warschau, spricht über Diskurskontrolle, die Schoah gestern und Antisemitismus heute.

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Dariusz Stola, 1963 in Warschau geboren, lehrt als Zeithistoriker an der Akademie der Wissenschaften und an der Universität Warschau. Er zählt zu den renommiertesten Experten für die Geschichte der Schoah und der polnisch-jüdischen Beziehungen. Er publizierte über die Aufarbeitung des kommunistischen Regimes im Nachkriegspolen. Stola leitete das POLIN-Museum von seiner Gründung 2014 bis Anfang 2020. © Stach Leszczyñski/picturedesk.com

WINA: Als Gast des Wiener Wiesenthal Instituts (VWI) haben Sie jüngst einen Vortrag über die verschiedenen Phasen der Aufarbeitung des Holocausts in Polen gehalten. Für die letzten 30 Jahre nannten Sie Polen als Vorbild unter den osteuropäischen Staaten, wie diese vielschichtige Materie angegangen wurde, nämlich mit einer breiten öffentlichen und schonungslosen Debatte. Aber mit dem Jahr 2010 datieren Sie nicht nur einen historischen Wendepunkt dieser Diskussionskultur, sondern konstatieren sogar einen dramatischen Rückschlag. Was ist da passiert?
Dariusz Stola: Fangen wir mit dem Positiven an: Mit der beginnenden Erosion des kommunistischen Regimes in den Achtzigerjahren, dem Erscheinen von Untergrundpublikationen, an denen ich auch beteiligt war, sowie der Ausstrahlung der TV-Serie von Claude Lanzmann erhielt diese Debatte Aufwind. Die Frage nach der eigenen kollektiven Identität drang 1987 durch die Solidarnosc-Bewegung stärker in das öffentliche Bewusstsein und damit auch das Verhalten der katholischen Polen zu ihren jüdischen Bürgern während der Schoah.

Wurde da auch postkommunistische Selbstkritik hörbar?
Ja, eindeutig. Denn der Mythos vom eigenen patriotischen Bild des nur „Opfers, das sich kämpferisch gegen die deutsche Aggression stellte“ begann dem Bewusstsein zu weichen, dass man die Juden den grausamen Mördern überlassen hatte. Ich behaupte, dass die polnische Bevölkerung großteils als passive Zuschauer alles gesehen, gehört und gerochen hat. Während die meisten Mittel- und Nordeuropäer „nur“ das plötzliche Verschwinden und die Deportationen ihrer Nachbarn sahen, wurde die Massenvernichtung der Juden vor den Augen der Polen ausgeführt. Eine alte Frau, die nur sechs Kilometer vom Vernichtungslager Belzec entfernt wohnt, erzählte mir, dass sie wegen des schrecklichen Gestanks aus dem Lager die Fenster nicht öffnen konnte. Wenn die Schoah ein beispielloses Verbrechen war, dann war das Zu- oder Wegschauen ebenso ein beispielloses Verbrechen.

»Mein Verhältnis zur polnischen Regierung
hat sich erst getrübt, als ich das sogenannte
Holocaust-Gesetz scharf kritisierte.«

Dariusz Stola

Wie ist die nicht-jüdische Bevölkerung damit nach 1945 umgegangen?
Sie haben eine Strategie entwickelt, um ein Minimum an seelischem Gleichgewicht zu halten, indem sie sich vom Schicksal der jüdischen Opfer distanzierten. Doch diese Verdrängung hatte einen Preis, den zahlten sie erst später. Unter der kommunistischen Herrschaft wurde das Thema unterdrückt, man durfte nicht darüber sprechen, und das führte zu posttraumatischen Zuständen. Erst die Intellektuellen, wie z. B. Czesław Miłosz, und Teile der Kirche thematisierten in den späten 1980ern die emotionalen und moralischen Aspekte und die als Christen begangenen Sünden.
Obwohl man der kommunistischen Version der Geschichte misstraute, gab es leider zu wenige jüdische Überlebende, die von ihren persönlichen Erfahrungen erzählen hätten können: Zu Beginn der deutschen Besatzung lebten 3,3 Millionen Juden in Polen, nur ein Zehntel davon überlebte die Schoah. Nach dem Pogrom von Kielce 1946 * verließen wiederum neunzig Prozent davon aus Angst das Land – der Großteil davon rettete sich mit Hilfe der Bricha nach Palästina.

Ab 1989/90 war die gesellschaftliche Aufbruchstimmung in Polen deutlich zu merken: Es gab kräftige Signale der Zivilgesellschaft, die mit der Vergangenheit in allen Bereichen des Lebens aufräumen wollte, um ein Teil der westeuropäischen Demokratien zu werden. Sie setzen den Rückschlag mit 2010 an, warum?
Da kamen einige Ereignisse zusammen: Der Flugzeugabsturz von Smolensk war so ein historischer Moment, der zum nationalen Trauma wurde. Dieses Unglück erweckte unterbewusst den Kult um den tragischen Heldentod und bescherte den rechten Medien im Land den Auftrieb, abstruse Weltverschwörungstheorien zu verbreiten. Unter anderem, dass der frühere EU-Präsident Donald Tusk gemeinsame Sache mit den Russen gemacht habe. Kaczynski persönlich und seine Partei wissen um die emotionale Bedeutung von Geschichte und wie man durch deren Umdeutung profitieren kann. Sie hören aufmerksam auf die rechten Stimmen im Land: Kaczynski oder Orbán sind vielleicht keine Antisemiten, aber sie tolerieren den Antisemitismus ungebremst.

Sie sehen noch einen einschneidenden Wendepunkt?
Meine These lautet, dass der Rechtsruck einiges mit der digitalen Revolution zu tun hat: Die Rechte war in der breiteren Öffentlichkeit marginalisiert, weil sie keine finanziellen Ressourcen für Massenmedien hatte. Aber seit 2006 gibt es in Polen Twitter und YouTube, seit 2008 Facebook. So bekam diese Gruppe einen leichten und billigen Zugang zu den sozialen Netzwerken und kann dort ihre hetzerischen und revisionistischen Inhalte gut verbreiten.

»In Polen gibt es immer wieder Proteste, vor allem von Menschen der Generation zwischen 50 und 60,
die sich noch gegen den Kommunismus
aufgelehnt haben.«
Dariusz Stola

Wo ist der berühmte Widerstandsgeist der Polen, die viel schneller und öfter protestieren als z. B. die Ungarn?
Viktor Orbán hat die autoritären Maßnahmen viel schneller durchgezogen. In Polen gibt es immer wieder Proteste, vor allem von der Generation zwischen 50 und 60, die sich – wie auch ich – noch gegen den Kommunismus aufgelehnt hat. Bei uns geht alles viel langsamer. Die PiS-Partei hat vier Jahre für die Veränderungen gebraucht.

Warum nehmen die proeuropäischen Jugendlichen z. B. die fortschreitende Aushöhlung der Justiz hin?
Die Regierung ist wegen ihrer großzügigen Sozialpolitik sehr beliebt. Der polnischen Wirtschaft geht es viel besser als der ungarischen – und die soziale Umverteilung funktioniert gut. Die Jugend protestierte sehr wohl gegen die „Justizreformen“, aber weil die EU langsam oder gar nicht reagiert, macht sich Resig­nation und Gleichgültigkeit breit. Diese zwei Faktoren, wie Zivilgesellschaft und EU reagieren, werden die Zukunft meines Landes bestimmen.

Diese Entwicklungen in Ihrer Heimat haben auch Ihr berufliches Leben verändert: Als renommierter Zeithistoriker forschen Sie bis heute zur Migration im 20. Jahrhundert, zur Schoah und den polnisch-jüdischen Beziehungen. Von 2014 bis Februar 2020 leiteten sie sehr erfolgreich das POLIN-Museum, in dem die Geschichte der polnischen Juden erzählt wird. Seit 2018 scheinen Sie bei den Regierenden in Ungnade gefallen zu sein?
Mein Verhältnis zur polnischen Regierung hat sich erst getrübt, als ich das so genannte Holocaust-Gesetz scharf kritisierte. Dieses Gesetz stellte jeden unter Strafe, der der polnischen Nation oder dem polnischen Staat eine Mitverantwortung am Holocaust gab. Unter dem Protest aus Israel und den USA entschärfte das Parlament das Gesetz später.

Sie wagten es aber auch, mit einem Teil der Ausstellung Fremd zu Hause die Kontinuität des Antisemitismus in Polen aufzuzeigen?
Der Anlass war unsere Ausstellung über Antisemitismus unter der kommunistischen Führung, die 1968 mit ihrer antizionistischen Kampagne tausende Juden aus dem Land vertrieben hatte. Wir haben mit aktuellen Zitaten von PiS-Politikern und ihren Anhängern klare Parallelen zur Gegenwart unter der nationalkonservativen Regierung gezogen. Das hat Kulturminister Piotr Gliski überhaupt nicht gefallen, und obwohl ich für eine neue Periode wiedergewählt wurde, weigerte er sich, meine Ernennung zu unterschreiben. Weil das POLIN unter dieser Situation zu leiden begann, machte ich den Weg frei.

Wie sehen Ihre Pläne für die Zukunft aus?
Ich bin an die Akademie der Wissenschaften und die Universität, wo ich auch vorher unterrichtet habe, zurückgekehrt. Ich erhalte laufend auch interessante Angebote aus den Ausland, aber ich möchte Polen ungern verlassen: Ich habe vier Söhne, einen Enkel, und meine Frau hat auch einen Job. Ein Freund, der aus Deutschland zurückkam, wird hier jetzt belästigt und verfolgt. So lange es möglich ist, bevorzuge ich zu bleiben. Aber in der Geschichtspolitik der PiS ist ein Warschauer Historiker wie ich zunehmend fremd zu Hause.

* Im Pogrom von Kielce wurden am 4. Juli 1946 über vierzig Juden ermordet und weitere 80 verletzt, nachdem ein Gerücht über die Entführung eines christlichen Jungen verbreitet worden war. Unter den Opfern befanden sich auch zwei nichtjüdische Polen, die den Angegriffenen zu Hilfe geeilt waren.

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