Schlüssel zur Seele

Gabor Maté ist 1944 in Budapest als Kind jüdischer Eltern auf die Welt gekommen. Als seine Mutter sich Sorgen machte, weil der kleine Gabor unentwegt schrie, meinte der Arzt nur, er könne nicht viel machen, derzeit weinen alle jüdischen Kinder. Als renommierter Arzt in Vancouver widmet er sich seit über fünfzig Jahren der Sucht- und Traumaforschung. Wissenschaftlich wurden die genetischen Veränderungen bei Menschen, die in ihrer frühesten Kindheit traumatisiert wurden, bereits nachgewiesen. Traumata und ihre destruktiven Auswirkungen gibt es aber nicht nur auf der persönlichen, sondern auch auf gesellschaflicher Ebene.

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Gabor Maté. Der jüdisch-kanadische Arzt arbeitet seit vielen Jahren zum Thema Traumafolgen. ©Gabor Gastonyi-Clare Day / CC BY-SA 3.0

Sucht hat viele Formen. Drogen, Spiele und Alkohol sind „Klassiker“, aber auch Sex, Internetkonsum, Shoppen und Macht sind Formen von Sucht. Gabor Maté, ein kanadischer Arzt und Psychiater, hat den Fokus seiner Arbeit auf die Erforschung des Suchtverhaltens konzentriert und wurde zu einem international gefragten Experten auf diesem Gebiet.

Gabor Maté versteht Suchtkranke nicht als „Täter“, wie sie das Rechtssystem sieht, sondern als diejenigen, die in einer sehr frühen Lebensphase schwere emotionale Verletzungen erfahren haben. Für ihn hat sich kein Süchtiger dafür entschieden, abhängig oder psychisch krank zu werden, genauso wenig wie sich niemand entscheidet, Krebs oder Arthritis zu entwickeln. Für Maté ist die Sucht oder psychische Dysfunktion das Ergebnis eines Kindheitstraumas, das in einigen Fällen eine genetische Veranlagung überlagert. Neben den persönlichen medizinischen Erfahrungen aus seiner Praxis, haben groß angelegte Bevölkerungsstudien auch bewiesen, dass die Widrigkeiten der Kindheit der häufigste Vorläufer von Suchtverhalten bei Erwachsenen sind.

Sucht wird von Maté als jedes Verhalten definiert, das einem Menschen vorübergehend Erleichterung und Freude verschafft, aber auch negative Folgen hat und zu dem der Einzelne immer wieder zurückkehrt. Im Mittelpunkt von Matés Theorie steht der Glaube, dass es so etwas wie eine „süchtig machende Persönlichkeit“ nicht gibt. Sucht entsteht für ihn aus dem Bedürfnis einer Person, ein Problem zu lösen – ein sehr tief sitzendes Problem, das zumeist mit Verlust zu tun hat. Um eine Sucht zu verstehen, muss der zugrunde liegende Schmerz verstanden werden. Sie ist nach Gabor Maté keine Krankheit, sondern eine normale Reaktion auf anormale Leidensumstände, die zumeist in der Kindheit aufgetreten sind.

„Alles, was falsch an dir ist,
begann als Überlebensmechanismus in deiner Kindheit.“
Gabor Máté

 

Abhängigkeiten sind die Flucht, dem Schmerz zu entkommen, egal in welcher Form sie auftreten – sei es durch Substanzen wie Alkohol oder Heroin oder durch Verhaltensweisen wie Einkaufen, promiskuitives Sexualverhalten, Glücksspiel oder zwanghaftes Surfen im Internet. Das Ausmaß der Schmerzen kann von Person zu Person sehr unterschiedlich sein, aber die grundlegende Frage für Maté ist nicht, warum die Sucht bei einem Patienten existiert, sondern warum der Schmerz. Die Erinnerung des Patienten an das ursprüngliche Trauma muss dabei nicht offensichtlich sein, sondern vielmehr der emotionale Verlust, den ein Kind ertragen musste und danach als Erwachsener entflieht. Dieser entstandene Schmerz brennt, und Drogen wie Heroin, Morphium, Codein oder Kokain und Alkohol sind auch Schmerzmittel, die auf die eine oder andere Weise lindernd wirken.

Gabor Maté erforscht jene inneren Räume in uns selbst, die oft ohne Liebe sind, gefüllt mit Trauer, Schmerz oder einem Gefühl der Leere. Diese Leere versuchen Süchtige von außen zu füllen. © Stills aus The Wisdom of Trauma

Wissenschaftliche Studien haben wiederholt gezeigt, dass das Gehirn von Suchtkranken in Bereichen, in denen Lust, Belohnung, Motivation und Impulse gesteuert werden, nicht normal funktioniert. „Dennoch stigmatisieren wir Menschen und erklären sie zu Kriminellen, obwohl ihre Gehirnfunktion durch das emotionale Umfeld als kleines Kind beeinträchtigt wurde“, beklagt Gabor Maté den Zugang der Gesundheits- und Rechtssysteme gegenüber Süchtigen in seinem neuesten Buch The Myth of Normal: Trauma, Illness & Healing in a Toxic Culture (2023).

Der renommierte Arzt und Redner sieht die Grundlage der meisten chronischen Krankheiten des Geistes und des Körpers in Kindheitstraumata und Stress im Erwachsenenalter. „Unsere derzeitige Lebensweise vom Standpunkt der menschlichen Bedürfnisse und der menschlichen Evolution ist eigentlich anormal und die Ursache vieler körperlicher und geistiger Beschwerden.“

Die eigene Erfahrung. Gabor Maté spricht aus seiner eigenen traumatischen Erfahrung als Baby. Er wurde 1944 in Budapest als Sohn jüdischer Eltern geboren, zwei Monate vor dem Einmarsch der Nationalsozialisten. Als er kurz danach begann, ununterbrochen zu weinen, rief seine Mutter einen Kinderarzt. Der Arzt musste der besorgten Mutter mitteilen, dass fast alle seine kleinen jüdischen Patienten seit dem Einmarsch weinten. Als die politische Situation in Budapest zu bedrohlich wurde, übergab Gabors Mutter ihn für mehrere Wochen einem völlig Fremden, da sie Angst hatte, nicht zu überleben. Als Säugling konnte Gabor Maté diesen Stress der Mutter und die Verlassenheit nur als Zurückweisung erleben, als jemand, den keiner will, der nicht liebenswert ist. Weil Säuglinge und kleine Kinder hauptsächlich auf sich bezogen denken, übernehmen sie auch noch die Schuld, dass die Mutter traurig oder gestresst ist. Säuglinge absorbieren den Stress und die Depression ihrer Eltern, und das wirkt sich auf ihr Nervensystem aus.

© Stills aus The Wisdom of Trauma

All das führt dann zu problematischen Verhaltensweisen im Erwachsenenalter. „Für dieses enorme Gefühl von Schuld und Scham, das mit einem Trauma einhergeht, braucht es keine historische Katastrophe mit Ausmaßen, wie die des Nationalsozialismus. Es braucht keinen Krieg oder Völkermord. Noch vor sechzig Jahren gab es zum Beispiel die kinderärztliche Anordnung, Babys nach einem strikten Zeitplan zu füttern und nicht, wenn sie es meistens weinend signalisierten. Dieses Versagen eines frühkindlichen Grundbedürfnisses wie Hunger ist schon ein Trauma. Denn welche Botschaft bekommt ein wenige Wochen altes Baby? Dass seine Bedürfnisse nicht wichtig sind, dass es allein ist, dass die Person, die es liebt, sich nicht genug kümmert. Und diese Art von Trauma ist in allen Gesellschaften weit verbreitet.

Drogen hat Gabor Maté nie konsumiert, aber er wurde ein Workaholic. Wie er selbst beschreibt, wollte er endlich gebraucht werden, wenn seine Eltern ihn vermeintlich ablehnten. So konnte er das Gefühl, nicht gewollt zu sein, ausgleichen. Gerade als Arzt ist das Gefühl, gebraucht zu werden, in besonderem Ausmaß vorhanden. Jeder Notruf bedeutet eine Dopaminausschüttung. Und das macht mit der Zeit süchtig. Eine weitere Folge war, dass er die ganze Zeit arbeitete, und, wenn er nicht arbeitete, sich unendlich viele CDs mit klassischer Musik kaufte. Er erzählt in einem Interview, dass er an einem Tag 8.000 Dollar für CDs ausgab.

 

„Keine Gesellschaft kann sich selbst verstehen,
ohne ihre Schattenseiten zu erkennen.“
Gabor Maté

 

Aber Gabor Maté sieht sein eigenes Verhalten auch in einer Fortsetzung bei seinen Kindern. Denn sie erhielten die gleiche Nachricht wie er als Baby, nämlich dass sie nicht erwünscht sind, weil der Vater abwesend war. Das Trauma wurde so unbewusst von einer Generation zur nächsten weitergegeben.

Doch das frühkindliche Trauma hat noch weitere tiefgreifende Folgen. Die Ablehnung oder Abwesenheit der Eltern zwingt das Kind, sich von seinem authentischen Selbst zu trennen, um sich an das familiäre oder soziale Umfeld besser anzupassen. Als natürlicher Selbstschutz entsteht ein Verhalten und Handeln, um zu gefallen, zu beeindrucken oder geliebt zu werden. „Als Workaholic wurde ich ein sehr erfolgreicher Arzt, so getrieben war ich davon, andere zu beeindrucken, meinen Wert zu beweisen und zu zeigen, dass die Welt mich brauchte. Dieser äußere Erfolg wurde von innerer Depression, Angst, Entfremdung und gestörten persönlichen Beziehungen begleitet“, beschreibt Gabor Maté seine persönlichen Erfahrungen. „Die Menschen haben hauptsächlich Angst vor dem Tod, anderen Menschen und ihrem eigenen Verstand. Sucht füllt die innere Leere von außen. Aber um nicht süchtig zu werden, müssen wir uns von innen füllen.“


BUCHTIPPS
Eine Auswahl der Bücher von Gabor Maté:


 

Es gibt wohl kaum Menschen, die nicht in irgendeiner Form ein frühkindliches Trauma auf die eine oder andere Weise erlebt haben. Daher stellt sich die Frage, warum neigen manche Menschen eher dazu, süchtig zu werden? Eine mögliche Antwort dürfte in der Dopamin- und EndorphinAusschüttung liegen. Die meisten Drogen wirken stimulierend auf diese körpereigenen Substanzen. Studien haben erwiesen, dass missbrauchte Kinder reduzierte oder keine Dopamin- und Endorphinkreisläufe haben. Wenn keine oder zu wenig Liebe und Zuneigung in einem frühen Leben einem Menschen gegeben wird, können sich diese Gehirnkreise nicht ausreichend entwickeln. Die Droge gibt daher dem Süchtigen die Wärme, die ihm in der realen Welt fehlt. Im Extremfall verursacht das Trauma, so Gabor Maté, den Zusammenbruch, eine Psychose oder andere Formen psychischer Erkrankungen. Gabor Maté sieht aber auch in der Wunde des Traumas ein Portal, das sich dem Gefühl dahinter öffnet und eine Veränderung möglich macht. „Wo immer wir verwundet sind, bildet sich Narbengewebe, und Narbengewebe ist immer härter, weniger belastbar und weniger flexibel als das Gewebe, das es ersetzt. Wenn ein psychologisches Trauma passiert, wird unsere Psyche starrer und härter und weniger flexibel. Wenn wir unsere Wunden erforschen, finden wir Räume in uns selbst, die oft ohne Liebe sind, gefüllt mit Trauer, Schmerz oder einem Gefühl der Leere. In diesen Räumen, wo die Risse entstehen, beginnen wir zu sehen, was jenseits und hinter unserem Schmerz und Trauma liegt.“

Zur individuellen Erkenntnis eines Traumas beschreibt Gabor Maté bestimmte Anzeichen oder Symptome, wie eine Abwehranspannung von Körper und Psyche, eine Einengung, die eine Schmerzauslösung verursacht, die dem aktuellen Reiz nicht entspricht und eine traumatische Erinnerung hervorruft. Wobei das intellektuelle Verstehen allein noch nicht zur Transformation führt. „Wenn Trauma Trennung ist, dann ist Heilung Wiedervereinigung oder die Entdeckung der Verkörperung dieser Verbindung.“ So versteht Gabor Maté das schmerzhafte emotionelle Erkennen des persönlichen Traumas und die Entwicklung von Resilienz, die Akzeptanz eigener Emotionen und den möglichen Beginn eines Heilungsprozesses.

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