„Es geht um das Wagnis der Erinnerung für jeden unter uns“

Der prominente Schauspieler, Autor und Regisseur Christian Berkel beschäftigt sich in zwei beeindruckenden Büchern auch mit seiner mehrfachen Identität: als Deutscher und Jude.

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© Reinhard Engel

WINA: Sie sind nicht nur einer der bekanntesten deutschen Film- und Fernsehschauspieler, Sie reüssieren auch auf internationaler Ebene: Als Wirt Eric waren Sie in Quentin Tarantinos Kinofilm Inglourious Basterds besetzt; an der Seite von Isabelle Huppert spielten Sie in dem mehrfach ausgezeichneten französischen Thriller Elle. Und in der ZDF-Serie Der Kriminalist gaben Sie von 2006 bis 2020 dem Hauptkommissar Bruno Schumann ein höchst eigenwilliges Profil. Vor Kurzem feierten Sie Ihr Debüt als Theaterregisseur bei den Festspielen Reichenau. Warum jetzt und warum hier?
Christian Berkel: Es hat sich jetzt einfach ergeben. Obwohl das etwas war, womit ich immer wieder geliebäugelt habe. Denn ich hatte in meinen Zwanzigerjahren an der Deutschen Filmakademie ein Regie- und Drehbuchstudium absolviert, aber danach ging das Spielen so extrem schnell los, dass ich gar keine Zeit mehr für Regie hatte. Aber letztes Jahr saßen wir mit Maria Happel beim Deutschen Filmpreis zusammen, die gerade mit meiner Frau, Andrea Sawatzki, die Komödie Freibad von Doris Dörre abgedreht hatte, der übrigens jetzt ins Kino kommt. Bei dieser Gelegenheit fragte mich Maria Happpel, ob ich glaube, dass man Frank Wedekinds Frühlings Erwachen heute noch aufführen kann. Als ich das bejahte, wollte sie wissen, ob ich Lust hätte, dieses Stück zu inszenieren. Ich war leicht verführbar, habe es sofort wieder gelesen und sehr schnell entschieden, dass ich es machen wollte.

Frühlings Erwachen ist ein 1891 erschienenes gesellschaftskritisch-satirisches Drama, in dem es vor allem um die existenzielle Lebenskrise von Jugendlichen in der Pubertät, um Gefühlskälte und um zerrüttete Familienverhältnisse geht. Sie sehen diese Thematik als aktuell an?
I Ich kenne tatsächlich kein Stück, keinen Roman, der diese schwierige Lebensphase gründlich erforscht. Kaum einer will in die Pubertät zurück, es findet sich kaum jemanden, der sagt, das war damals so schön – meistens wird diese Zeit massiv verdrängt. Das ist die erste Lebenskrise, die sehr intensiv erlebt wird, die Jugendlichen sind in dieser Phase hoch gefährdet, weil das Wachstum ohne Verletzbarkeit nicht möglich ist. Die Pubertät unterscheidet sich von späteren Krisen dadurch, dass wir zu diesem Zeitpunkt noch keine vergleichsweisen Erfahrungen gemacht haben, also noch keine Instrumentarien dafür haben. Nach drei durchlebten Krisen sagt man, ok, das habe ich geschafft, dann werde ich die vierte auch noch meistern.

CHRISTIAN BERKEL,
1957 in Berlin geboren, ist der Enkel des Schriftstellers und Anarchisten Johannes Nohl sowie der Großneffe des Pädagogen Hermann Nohl; seine jüdische Großmutter kämpfte mit den internationalen Brigaden in Spanien; eine Großtante war die aus Polen stammende französische Modeschöpferin Lola Prusac (Prussak), die bei Hèrmes lernte und später in ihrer eigenen Boutique die Duchesse of Windsor einkleidete. Berkel lebte ab seinem vierzehnten Lebensjahr in Paris. Seine erste entscheidende Begegnung mit dem Theater war dort die Arbeit von Marcel Marceau, dessen Pantomimen er zu Hause nachspielte. Bereits neben der Schule nahm er stundenweise Schauspielunterricht, nach dem Abitur machte er eine Ausbildung an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin. 1977, im Alter von 19 Jahren, besetzte ihn Ingmar Bergman für die Rolle des Studenten in Das Schlangenei. Bis 1993 war er an namhaften deutschsprachigen Bühnen engagiert, unter anderen bei Claus Peymann am Schauspielhaus Bochum und am Wiener Burgtheater sowie am Residenztheater München und am Schillertheater Berlin. Ab 2002 spielte er hauptsächlich in europäischen Spielfilmen und TV-Produktionen; Hollywood meldete sich 2007 mit der Kinoproduktion Operation Walküre – Das Stauffenberg-Attentat wieder, einem Thriller über das gescheiterte Hitler-Attentat von 1944.

Zusätzlich zu bekannten Schauspielern arbeiteten Sie hier mit Studierenden des Max Reinhardt Seminars.Hat Ihnen das Inszenieren Spaß gemacht? Wollen Sie in Zukunft weniger spielen und öfter Regie führen?
I Sehr gerne, es hat mir großen Spaß gemacht. Es sind diese drei Ebenen, auf denen ich versuche, mich auszudrücken: Spielen, Inszenieren und Schreiben, denn es geht mir vordergründig immer um Sprache, wir sind Sprachwesen, das unterscheidet uns von anderen Lebewesen. Frisch geborene Säuglinge kommen aus Klangwelten. Erst zwischen zwei und drei Jahren kommen sie mit dem Sprechen in der Wirklichkeit an. Von da an konstruieren wir unsere Wirklichkeit über Sprache. Es gibt zwar einen Konsens über den Begriff Tisch, aber der ganze emotionale Bereich ist nicht mehr so eindeutig.

Sie haben mit Ihrem ersten Buch gleich einen Riesenerfolg gelandet: In Ihrem Roman Der Apfelbaum erzählen Sie nicht nur auf berührende Weise große Teile Ihrer eigenen dramatischen Familiengeschichte, sondern beleuchten ebenso die aufwühlende deutsche Geschichte zwischen 1932 und 1955. Dabei stehen auch das Leid und die Odyssee Ihrer jüdischen Mutter während der NS-Zeit im Zentrum. Gibt es Pläne, das Buch zu verfilmen?
I Natürlich befasse ich mich mit der Idee. Es ist schwierig, jemanden zu finden, der einem so viel Geld für die Produktion gibt. Denn der Stoff spielt ja in mehreren Ländern – in Frankreich, Spanien, Argentinien, Russland. Aber es geht auch um die Frage, welche Form man dafür wählt: Für eine Spielfilmlänge müsste man unglaublich viel reduzieren.

 

„Später sickerten immer mehr Geschichten durch, und ich bekam unglaubliche Schwierigkeiten mit dieser deutschen Identität […].“
Christian Berkel

 

Wie wäre es mit einer Serie?
I Ja, daran habe ich auch schon gedacht, warten wir es ab.

An einer Stelle heißt es in Der Apfelbaum: „Ich war Deutscher, ja, aber auch Jude, von einer jüdischen Mutter geboren. Katholisch erzogen, gut, aber aus dem Verein war ich schon früh ausgetreten. Und mein protestantischer Vater war zeit seines Lebens Atheist.“ Wann haben Sie persönlich erfahren, dass Ihre Mutter Jüdin ist?
I Unter besagtem Apfelbaum saßen wir an einem Sonntagnachmittag, als ich sechs oder sieben Jahre alt war, und empfingen Besuch aus Amerika. Ich freute mich darauf, zum ersten Mal einen „echten“ Amerikaner kennen zu lernen. Ich war verblüfft und enttäuscht, dass der Gast plötzlich Deutsch gesprochen hat. „Onkel Walter ist Jude und kommt aus der Emigration zurück“, erklärte mir meine Mutter und fügte wie nebenbei hinzu: „Und du bist auch ein bisschen jüdisch.“ Da fragte ich nach: „Nicht ganz?“ „Nein, nicht ganz, nur ein wenig“, lautete ihre Antwort. „Bin ich ganz deutsch?“ „Nein, das auch nicht ganz“, fügte sie hinzu. Daraufhin begann ich fürchterlich zu weinen, wahrscheinlich wegen der zwei kleinen Wörter „nicht ganz“. Für ein kleines Kind ist „nicht ganz“ etwas Kaputtes. Es war, als wäre etwas mit mir nicht in Ordnung, und das hat mich tief irritiert.

Wie ging es dann weiter?
I Später sickerten immer mehr Geschichten durch, und ich bekam unglaubliche Schwierigkeiten mit dieser deutschen Identität – ich wollte das nicht mehr sein. Da ich zweisprachig aufgewachsen bin, wollte ich einfach Franzose werden. Noch in Frankreich, mit 16 Jahren, wurde mir klar, dass ich vor meiner Geschichte nicht fortlaufen kann und mich damit auseinandersetzen muss. Deshalb kehrte ich auch nach Deutschland zurück.

War das Jüdisch-Sein später noch ein Thema zwischen Ihnen und Ihrer Mutter?
I Das blieb ein ewiges Streitthema zwischen meiner Mutter und mir, denn sie hat darauf bestanden zu sagen, dass sie Halbjüdin ist, weil ihr Vater kein Jude war. Ich sagte ihr, das sei im jüdischen Sinne absurd, das wäre komplett falsch. „Diese Halb-, Viertel-, Achtel-Jude-Bezeichnungen sind reine NS-Diktion, Teil der Nürnberger Rassegesetze: Du kannst doch nicht die Definition deiner Verfolger übernehmen!“ Aber es muss für sie etwas anderes bedeutet haben, nämlich nur halb deutsch zu sein. Sie wollte sich zugehörig fühlen. Da ihre jüdische Mutter sie verlassen hatte, als sie erst sechs Jahre alt war, hat sie ihr Jüdisch-Sein auch relativ spät erfahren. Da beide Eltern Atheisten waren, wäre sie ohnehin nicht jüdisch erzogen worden, daher hatte sie diesen unmittelbaren Bezug zum Judentum nicht.

 

„Es war ein Gefühl von ‚zu Hause sein‘ in dem Moment,
in dem ich die Synagoge betreten habe.“
Christian Berkel

 

So wie viele ihrer Generation, die erst Hitler zu Juden stempelte. Die Verfolgung war eigentlich ihre erste Berührung mit dem Judentum.
I Ja, das stimmt. Ich habe damit im Grunde genommen mein Leben lang gehadert. Ich bedauerte das so sehr, weil mir ein Stück meiner Identität, meiner Kultur vorenthalten worden ist. Nicht böswillig, aber als ein Faktum.

Haben Sie aus eigenem Antrieb nach Ihren jüdischen Wurzeln geforscht?
I Ernsthaft gesucht und richtig recherchiert habe ich erst viel später, als ich mit meiner Mutter bei ihrer beginnenden Demenz schon für das Buchprojekt versucht habe zu sprechen. Wesentlich früher kam der Tag, als meine Kinder in Berlin jüdische Schulkollegen hatten. Wir freundeten uns mit deren Eltern an, ich erzählte meine Geschichte, und sie luden uns gleich für den nächsten Schabbat ein. Das war für mich schon sehr beeindruckend. Unser älterer Sohn wurde dann auch zur Bar Mizwa dieses Jungen eingeladen. Da habe ich die erste Bar-Mizwa-Zeremonie erlebt, ich saß da, und mir liefen die Tränen herunter. Aber nicht, weil ich traurig war, sondern weil es mich unheimlich bewegt hat. Es war ein Gefühl von „zu Hause sein“ in dem Moment, in dem ich die Synagoge betreten habe. Ich kann es gar nicht anders erklären. So war es.

Hat das bewusste Wissen um Ihr Judentum Ihr Leben verändert?
I Eher erleichtert, weil ich, wie schon gesagt, sehr früh mit mehreren Identitäten konfrontiert wurde. Mein Lehrer in Paris hat mich konkret dazu ermahnt, mich zwischen der französischen und deutschen Identität zu entscheiden. Solche Sätze habe ich auch später oft gehört. Aber durch das Schreiben über meine Familie habe ich immer klarer empfunden, dass ich mich gar nicht entscheiden muss: Es gibt Menschen mit mehreren Identitäten, deshalb bin ich Schauspieler geworden, das ist eine davon.

Wie haben Sie es bei ihren beiden Söhnen mit der Religion gehalten?
I Meine Söhne sind nicht getauft. Der Jüngere erlebte in seinem Umfeld mehrere Bat und Bar Mizwas und sagte eines Tages, er würde gerne zum Judentum übertreten. Weder meine Frau noch ich hatten etwas dagegen. Wir berieten uns mit einem Rabbiner, der uns als Erstes auf die nötige Beschneidung hinwies. Als wir unserem Sohn erklärten, dass dies bei einem Zehnjährigen anders wäre als bei einem achttägigen Baby, ging sein Drang ein wenig zurück. Ich hätte ihm in diesem Sinne auch kein richtiges jüdisches Leben bieten können. Daraufhin hat sich das alles ein wenig verlaufen.

In Frühlings Erwachen verursacht das Schweigen der Elterngeneration viel Leid. Sie haben, angefangen vom Ursprungsort in Łódź, die Vergangenheit ihrer Familie mütterlicherseits akribisch erforscht. In Ihrem stark autobiografisch geprägtem Roman (siehe Kasten) arbeiten Sie sich auch am Schweigen Ihrer jüdischen Mutter über die NS-Zeit ab. Werfen Sie ihr das vor?
I Unmittelbar persönlich nicht, innerlich bestimmt. Durch das Schreiben erlebt man einen Prozess, der es einem ermöglicht, sich in die verschiedenen Schicksale hineinzuversetzen. Man muss sehr vorsichtig sein bei der Beurteilung dieser Lebenswege, denn aus heutiger Perspektive lässt es sich relativ leicht richten. Man sollte niemandem vorschreiben, wie er damit umzugehen hat.

Der Ruf nach dem „endgültigen Schlussstrich unter die Debatte über die NS-Zeit und ihre Gräuel“ erhallt sowohl in Österreich wie auch in Deutschland immer wieder. Sie thematisieren das teils sehr emotional in Der Apfelbaum: „Es geht um das Wagnis der Erinnerung für jeden unter uns. Erst mit der Erinnerung gewinnt unser Leben ein Gesicht.“ Sie sprechen da aus eigener Erfahrung?
I Wollen wir mit dem Satz „Irgendwann muss doch mal Schluss sein“ die Menschen von damals noch einmal ermorden? Wie viele Namen wollen wir denn mit einem sauberen Schlussstrich eliminieren? Ich will jedenfalls nicht wie ein Buch dastehen, aus dem einzelne Kapitel herausgerissen wurden, unverständlich für andere wie für mich selbst. Ich will versuchen, die leeren Seiten zu füllen. Für mich. Für meine Kinder. Für meine Familie. Zuerst stirbt der Mensch, dann die Erinnerung an ihn. Für diesen zweiten Tod tragen wir Nachgeborenen die Verantwortung.


Christian Berkel: Der Apfelbaum. Ullstein 2019, 416 S., € 11,90
HEITER BIS WOLKIG: EIN MUTTER-SOHN-DIALOG

Wie man schwierige Lebenssituationen nicht nur in den Griff bekommt, sondern diese humorvoll, berührend und durchaus politisch erzählen kann, zeigt Christian Berkel in seinem ersten Buch mit dem Titel Der Apfelbaum.

„Jahrelang bin ich vor meiner Geschichte davongelaufen. Dann erfand ich sie neu“, gesteht der Autor sehr offen und nicht ohne Augenzwinkern. Entstanden ist ein großer Familienroman vor dem Hintergrund eines ganzen Jahrhunderts deutscher Geschichte, konkret zwischen 1932 und 1955, die Erzählung einer ungewöhnlichen Liebe.

Mit großem sprachlichen Können belebt Christian Berkel die spannungsreiche Geschichte seiner Familie: Diese führt über drei Generationen von Ascona, Berlin, Paris, Gurs und Moskau bis nach Buenos Aires. Am Ende steht die Geschichte zweier Liebender, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch ihr Leben lang nicht voneinander lassen.

Mit diesem Debütroman gelang dem vielfältigen Darsteller der Durchbruch zum Literaten. Dieser Erfolg ermutigte ihn, die Verknüpfung seiner Familie mit der deutschen Geschichte zu einer Trilogie auszuweiten. Der zweite Band heißt Ada: Darin geht es um Wirtschaftswunder, Mauerbau, die 68er-Bewegung – und eine vielschichtige junge Frau, die aus dem Schweigen der Elterngeneration heraustritt. Wenn Berkel von der Schuld und der Liebe, von der Sprachlosigkeit und der Sehnsucht, vom Suchen und Ankommen schreibt, beweist er sich wieder als mitreißender Erzähler.

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