Für kleine Kinder ist Vorhersehbarkeit wichtig

Was macht die aktuelle Coronakrise mit kleinen Kindern? Wie beeinflusst sie ihre Entwicklung? Dazu sprach WINA mit der Entwicklungspsychologin Stefanie Höhl. Sie rät Eltern, auf ihre eigene psychische Gesundheit zu schauen, um ihren Kindern Sicherheit vermitteln zu können.

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Stefanie Höhl, geb. 1983 in Darmstadt/Deutschland, Entwicklungspsychologin. 2013 Habilitation an der Ruprechts Karls Universität Heidelberg, von 2016 bis 2019 Forschungsgruppenleiterin der Research Group on Early Social Cognition am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, seit 2017 Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Wien. © Daniel Shaked

WINA: Wir befinden uns seit einem Jahr in einer Pandemie. Die Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens – wie Masken zu tragen, Abstand zu halten, einander nicht die Hand zu geben, niemanden zu sich nach Hause einzuladen – haben unseren Alltag sehr verändert. Wie beeinflusst all das die Entwicklung von kleinen Kindern?
Stefanie Höhl: Eine umfassende Antwort werden wir erst geben können, wenn die Pandemie vorbei ist. Es laufen hierzu weltweit viele Studien, und diese Frage wird uns sicher noch Jahre beschäftigen.

Was man sich vor Augen führen muss: Für Erwachsene ist es ein großer Einschnitt im Alltagsleben. Für Kinder ist ein Jahr ein sehr langer Zeitraum. Und ganz kleine Kinder kennen inzwischen fast nichts anderes mehr.
Wir wissen aus der Forschung, dass Kinder resilient sind und sich schnell anpassen können. Dabei ist es aber wichtig, dass sie Bezugspersonen haben, die trotz allem für sie eine sichere Umgebung schaffen, einen sicheren Hafen, von dem aus sie normalerweise die Welt erkunden würden. Und da sehe ich die Schwierigkeit: Vielen Eltern fällt es durch die momentane Dauerbelastung durch die Pandemiesituation schwer, den Kindern diese Sicherheit zu vermitteln.

Worüber ich mir mehr Gedanken mache, sind die mangelnden Möglichkeiten für ältere Kinder, unbeschwert Zeit mit Gleichaltrigen zu verbringen.

Wie können Eltern in dieser Krisenzeit einen sicheren Hafen schaffen?
Idealerweise, indem man dem Kind vermittelt, die Situation unter Kontrolle zu haben. Bezugspersonen müssen verlässlich sein. Das verlangt Eltern gerade derzeit sehr viel ab. Aber die psychische Gesundheit von Eltern ist prioritär, wenn es um die Gesundheit der Kinder geht. Das soll nun kein Vorwurf an Eltern sein, sondern ein Appell: Wenn man das Gefühl hat, dass man sich selbst nicht mehr helfen kann, ist es wichtig, sich professionelle Hilfe zu suchen.
Generell aber gilt: Gerade für kleine Kinder ist Vorhersehbarkeit sehr wichtig. Wenn Kinder also derzeit nicht in den Kindergarten gehen können, ist es gut, wenn man versucht, den Tag trotzdem zu strukturieren und Routinen zu haben. Das Kind wacht auf, weiß, es gibt Frühstück, dann ist Spielzeit, dann wird ein Spaziergang gemacht. Daran kann es sich festhalten. Das ist schwer für Eltern, aber wenn sie es schaffen, den Kindern Sicherheit zu geben, ist viel gewonnen.

Wie merken Eltern, dass sie selbst nicht stabil sind?
Das ist tatsächlich nicht so einfach. Gewisse Stimmungsschwankungen sind im normalen menschlichen Erleben da. Dass man im Einzelfall die Geduld mit dem Kind verliert, ausrastet, sogar schreit, ist nicht ideal, aber das passiert nun einmal im Alltag. Wenn man aber merkt, dass das immer öfter passiert, dann muss man sich fragen, ob man im Umfeld Ressourcen aktivieren kann, wie den Partner, die Familie, jemanden, der einem helfen kann, Last abnehmen kann. Wenn ich in der Früh nicht mehr aus dem Bett komme, ist es höchste Zeit, professionelle Hilfe zu suchen. Wichtig ist zu wissen: Da muss man nicht allein durch. Es gibt Menschen, die einem helfen. Aber auch: Es geht vielen so. Und es gibt Wege heraus aus dieser Krise und professionelle Anlaufstellen.

Ich habe schon von meinen eigenen Kindern gehört: Nach Corona ist nie.
Stefanie Höhl

Kinder entwickeln im ersten Lebensjahr ihr Urvertrauen. Was macht das mit ihnen, wenn ihnen ihre Eltern keine Sicherheit vermitteln können?
Dazu gibt es viel Forschung, aber noch nicht direkt zu Covid-19. Wir wissen aber, dass beispielsweise Mütter, die an einer postpartalen Depression oder Angststörung leiden, oft nicht die Möglichkeit haben, für ihr Kind so da zu sein, wie es das bräuchte. Im ersten Lebensjahr ist die Verlässlichkeit so wichtig. Man kann Neugeborene nicht verwöhnen. Die Bezugspersonen kümmern sich, und das Baby weiß, ich kann mich immer darauf verlassen, dass mein Bedürfnis befriedigt wird. Kinder, die so eine sichere Bindung aufgebaut haben, können dann im Alter von eineinhalb, zwei Jahren frei in ihrer gewohnten Umgebung losgehen und explorieren, auf fremde Menschen zugehen, ohne dabei aber mit diesen so umzugehen wie mit ihren Bezugspersonen. Kinder, die keine sichere Bindung entwickelt haben, klammern dann – sie haben die Sorge, wenn ich weggehe, ist die Bezugsperson vielleicht weg. Das ist die Gefahr. Für das Kind ist die Welt dann nicht so offen.

Das ist also ein Plädoyer dafür, trotz Krisenzeit auf die eigene psychische Verfassung zu achten.
Wenn wir davon ausgehen, dass das Baby noch keine Möglichkeit hat, sich zu regulieren, lernt es das durch die Koregulation. Die Bezugsperson nimmt wahr, das Kind braucht etwas – nimmt es hoch, wickelt es, füttert es, beruhigt es. Darauf aufbauend, lernen die Kinder, sich auch selbst zu beruhigen. Um diese Koregulation aufbauen zu können, braucht es Eltern, denen es selbst gut genug geht, um das bieten zu können.

Kinder im Kindergartenalter kennen die Vor-Corona-Welt noch. Nun sind sie angehalten, nicht mehr die Hand zu geben, Abstand zu halten. Was macht das mit ihnen?
Es ist eine neuartige Situation, mit der wir noch nicht konfrontiert waren. Es gibt da noch keine Vergleichswerte. Ich glaube aber, dass Kinder grundsätzlich relativ flexibel sind, dass sie sich an neue Verhaltensnormen rasch gewöhnen. Kinder sind evolutionär darauf vorbereitet, Verhaltensweisen von anderen Menschen zu lernen.
Worüber ich mir mehr Gedanken mache, sind die mangelnden Möglichkeiten für ältere Kinder, unbeschwert Zeit mit Gleichaltrigen zu verbringen. Das unbefangene Zusammensein mit Freunden ist wichtig bis in die Teenagerzeit hinein. Einen Kindergeburtstag kann man nachholen. Aber nun befinden wir uns bereits im zweiten Jahr der Pandemie. Und da frage ich mich, ob das nicht dazu führt, dass Kinder den Eindruck bekommen, dass die Erwachsenen die Situation nicht im Griff haben. Ich habe schon von meinen eigenen Kindern gehört: Nach Corona ist nie.

Machen sich bei Kindern bereits Verhaltensauffälligkeiten bemerkbar?
Vor Kurzem gab es dazu einen Offenen Brief von klinisch arbeitenden Kollegen und Kolleginnen. Bei Kleinkindern treten vermehrt Trennungsängste auf, im häuslichen Rahmen gibt es mehr unkontrollierte Wutausbrüche, Aggression und Schlafprobleme. Die kleinen Patienten und Patientinnen, die hier vorgestellt werden, sind jünger als normalerweise. Das sind kleine Kinder bis zum Schulalter.

Wann sollen Eltern den Kinderarzt oder eine Psychologin aufsuchen?
Wenn sich das Kind anders verhält als sonst. Oder wenn es plötzlich öfter über Bauchschmerzen oder Kopfschmerzen klagt und nicht mehr gut schläft oder isst. Bei kleinen Kindern äußern sich psychische Probleme oft durch körperliche Symptome.

Wie wissen Eltern, ob das nicht nur eine Phase ist?
Es ist wichtig, immer im Austausch mit einem Netzwerk zu sein: mit Eltern anderer Kleinkinder, Großeltern, Geschwistern. Man kann dann auch besser einordnen, wie viel an Stress und Sorgen bei einem selbst zusammengekommen ist.

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