Das Jüdische Museum Hohenems beschäftigt sich seit vielen Jahren intensiv mit dem Thema Flucht: Tausende jüdische und andere Flüchtlinge, etwa Homosexuelle, Widerstandskämpfer, Deserteure, Kriegsgefangene flohen ab 1938 bei Hohenems in die Schweiz. Die Topografie bot dafür gute Voraussetzungen: Der Lauf des Rhein war 1923 verändert und eine Kurve quasi stillgelegt worden, erzählt Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, im Gespräch mit WINA. „So entstanden acht Kilometer seichtes Gewässer mit Sandbänken. Man musste kaum schwimmen, konnte, um in die Schweiz zu gelangen, großteils durch das Wasser waten.“
Auf der anderen Seite der Grenze sorgte zunächst der St. Galler Polizeikommandant Paul Grüninger dafür, dass die Flüchtenden durchgelassen wurden. Er widersetzte sich den Anordnungen aus Bern, wonach die Grenze zu schützen wäre, und rettete so bis zu seiner Abberufung schließlich hunderte mehrheitlich jüdische, aber eben nicht nur, Flüchtlinge. Vielen anderen aber blieb das lebensrettende Queren der Grenze verwehrt. Das wiederum ist in der Schweiz das zentrale Thema, wenn es um die NS-Zeit geht, wie Loewy erläutert.
Entlang des damals neu regulierten Rheins versuchten zahlreiche, vor allem jüdische Flüchtlinge, in die rettende Schweiz zu gelangen. © Dietmar Walser; Juedisches Museum Hohenems
„Von Fluchtbewegungen war die Landesgrenze im Rheintal auf ihrer ganzen Länge betroffen“, wird auch in einer Pressemitteilung des Kantons St. Gallen zum Memorial erläutert. Durch ein neuartiges Ausstellungs- und Vermittlungskonzept sollen Besucherinnen und Besuchern das Geschehen und seine Bedeutung vermittelt werden. „Aufgrund der Expertise und der Nähe sollen die Entwicklung und der Betrieb dieser Ausstellungselemente durch das Jüdische Museum Hohenems erfolgen“, wird zudem festgehalten.
Davide Scruzzi ist Generalsekretär im Departement des Inneren in St. Gallen. Er betont gegenüber WINA, dass der Standort Bern künftig dem Erinnern und dem Holocaust als Ganzes beziehungsweise den NSOpfern gewidmet sein wird, der Standort im Rheintal dem Vermitteln und Vernetzen, wobei hier ortsbedingt das Thema Flucht im Kontext der NS-Verfolgung im Fokus stehen solle. „Die Fluchtgeschichte muss in einer Schweizer Erinnerung an den Holocaust ein großes Gewicht haben“, betont er, „denn in der Abweisung und Aufnahme von Flüchtlingen berührte das behördliche, politische und zivilgesellschaftliche Schweizer Handeln unmittelbar und konkret das menschliche Leid, das durch den Holocaust und weitere Verfolgungen verursacht wurde. Das Thema Flucht bietet für das Schweizer Publikum einen sehr guten Zugang zum Thema Holocaust als Ganzes und zum Antisemitismus in all seinen üblen Ausprägungen.“
Geschichten digital und als Buch. Das Jüdische Museum Hohenems hat in der Vergangenheit bereits gezeigt, wie hier eine zeitgemäße Vermittlungsarbeit aussehen kann. Durch die in der Covid-Pandemie forcierten Outdoor-Aktivitäten inspiriert, konzipierte das Museum einen schließlich 2022 eröffneten Radweg entlang der österreichisch-Schweizer Grenze, der in 52 Stationen 52 Fluchtgeschichten zwischen 1938 und 1945 erzählt. Grenzsteine mit Namen von Geflüchteten, aber auch Fluchthelfern bilden den Rahmen, QR-Codes auf den Steinen führen zu einer Website, auf der die einzelnen Geschichten erzählt werden. Nachzulesen sind diese inzwischen auch in dem heuer erschienenen Buch Über die Grenze. Darunter findet sich beispielsweise die Geschichte von Sophie Mehl, später Sophie Haber, die 1930 mit ihrer Familie von Krakau nach Wien gezogen und deren Flucht von ihren Brüdern organisiert worden war. So wurde sie im Oktober 1938 als 16-Jährige vom Altacher Fluchthelfer Edmund Fleisch von Hohenems bis zur Grenze gebracht. Gemeinsam mit einem Ehepaar und dessen Kindern gelang ihr, über den Alten Rhein nach Diepoldsau zu kommen. In St. Gallen sorgte Paul Grüninger dafür, dass sie bleiben konnte und von der Israelitischen Flüchtlingsvorsorge betreut wurde. 1941 heiratete sie den Wiener Emigranten Karl Haber, 1945 kehrte das Paar nach Wien zurück.
In Diepoldsau soll nun auch die neue Vermittlungs- und Vernetzungseinrichtung entstehen. Der Ort ist nur wenige Kilometer von Hohenems entfernt. So könnten Interessierte künftig beide Orte – das Jüdische Museum und die Einrichtung, die sich mit dem Thema Flucht in der NS-Zeit befassen soll – an einem Tag besuchen, erzählt Loewy. Dass sein Haus nun damit betraut wurde, das Konzept für diese Vermittlungsstätte zu entwickeln, sieht er auch als Würdigung dessen, was das Jüdische Museum seit Jahren hier inhaltlich leiste.
„Jede Vermittlung von Ereignissen im Kontext des Holocaust muss zwingend zu einem Nie-wieder-Erlebnis führen.“
Davide Scruzzi
Das untermauert auch Scruzzis Antwort auf die Frage, wie es zu der Kooperation mit dem Jüdischen Museum gekommen sei. „Am Anfang stand auf Schweizer Seite die Idee, die Fluchtgeschichte im Raum Diepoldsau im St.Galler Rheintal zu vermitteln. Da ist es keine Kunst, an das Jüdische Museum zu denken, das in der Nachbargemeinde Hohenems steht und just zum Thema Flucht in den letzten Jahren sehr gute Projekte realisiert hat, etwa einen internationalen Radweg. Die Besucherinnen und Besucher des Memorials an der Landesgrenze können in Hohenems nicht nur ein eigenständiges hochkarätiges Museum besuchen, sondern auch bauliche Zeugen der früheren jüdischen Gemeinde erleben. Die Kooperation mit einem nicht schweizerischen Partner hat uns zudem rasch eine spannende internationale Vernetzung gebracht.“
Was sollen Menschen und insbesondere junge Menschen künftig von diesem Vermittlungsangebot mitnehmen? „Jede Vermittlung von Ereignissen im Kontext des Holocaust muss zwingend zu einem Nie-wieder-Erlebnis führen“, betont dazu Scruzzi. Wichtig sei daher die Auseinandersetzung mit Demokratie, Grundrechten, Schutz von Minderheiten und dem Kampf gegen jede Form von Antisemitismus. „Es soll aber auch klar werden, dass durch die Fluchtbewegungen zunächst unbeteiligte Länder, auch einfache Menschen auf Schweizer Seite, plötzlich in der Verantwortung standen und Einfluss nehmen konnten auf das individuelle Schicksal von Menschen – positiv wie negativ.“
Einen konkreten Zeithorizont können weder Loewy noch Scruzzi nennen. Erste Realisierungsschritte seien aber ab 2025 denkbar, verrät Scruzzi, und im Jüdischen Museum Hohenems arbeitet man derzeit an einem Konzept, das im Lauf des kommenden Jahres fertig sein soll, und organisiert zudem eine internationale Fachtagung. Dazu wurde bereits eine Leistungsvereinbarung mit dem Kanton St. Gallen abgeschlossen. Seine Arbeit aufgenommen hat auch schon ein wissenschaftlicher Beirat.