Nach seiner wunderbaren musikalischen und darstellerischen Leistung als berühmtester Hofnarr der Opernliteratur – Guiseppe Verdis „Rigoletto“ an der Wiener Staatsoper – stieß der britische Bariton zu einem kleinen Freundeskreis, der gerade die gelungene Aufführung im Restaurant „Sole“ beredete und feierte. Da bot sich die Gelegenheit, Simon Keenlyside um ein Interview für das WINAMagazin zu bitten. Aber bevor dieser noch reagieren konnte, rief ein illuminierter Gast aus der Runde: „Was willst du von dem, der ist ja kein Jude!“ Da erklang die wohltimbrierte Stimme: „Oh, doch, bin ich! Meine Mutter heißt Ann Leonie Hirsch.“ Dieses Impromptu ereignete sich im Winter 2022, das nachstehende Interview führten wir bei den Salzburger Festspielen 2023. Sir Simon sang und spielte die Rolle des „Ford“ in der neuen Falstaff-Produktion: Mit einem Radler und zwei Brezeln begnügte er sich während des Gesprächs im Biergarten.
WINA: Die Inszenierung des heurigen Falstaff durch den Schweizer Regisseur Christoph Marthaler wurde von der Kritik nicht sehr freundlich aufgenommen. Wie haben Sie als Sänger diese Produktion erlebt?
Simon Keenlyside: Ich kenne Christoph als offenen und sensiblen Regisseur, und ich mag ihn. Wir haben vor einigen Jahren einen wunderbaren Wozzeck in Paris zusammen gemacht. Er hat immer viele Ideen, die alle gleichzeitig auf der Bühne realisiert werden müssen. Da ist es für einen Sänger schon schwieriger, den ersehnten intensiven Dialog mit dem Publikum, dem Orchester, sogar mit dem Dirigenten zu führen. Aber ich habe da einen pragmatischen Zugang: Falls man der Interpretation des Regisseurs gar nichts abgewinnen kann, muss man einfach gehen. Bleibt man jedoch, dann muss man sein Bestes geben und dem gesamten Team bei der Umsetzung helfen. Auch in einer kniffligen Produktion findet man einen Freiraum für sich, der einen nährt und auch Spaß macht.
Wissen Sie schon vor einem Engagement, wer die Regie macht?
I Meistens nicht, ich kenne nicht viele Regisseure. Aber was geschieht, wenn man es ein Jahr vorher weiß? Dann macht man sich das ganze Jahr Gedanken darüber … nein, das tue ich nicht. Mir reicht es, wenn ich alles mit Probenbeginn erfahre. Ich hatte auch immer Glück, es gab nie jemanden, mit dem ich gar nicht arbeiten konnte oder wollte.
Lenkt es den Sänger nicht ab, wenn sich auf der Bühne sowie um ihn herum so viel gleichzeitig abspielt?
I Klar, auch die Kunst der Regie sollte den Text unterstützen, denn der kommt zuallererst, das heißt, wir Sänger und Sängerinnen bemühen uns, über Wort und Musik zum Kern des Werks und den Herzen des Publikums vorzudringen. Natürlich besteht die Gefahr, dass je mehr Ebenen in das Geschehen eingezogen werden, nichts mehr beim Zuschauer ankommt, denn unsere Sinne können nicht alles aufnehmen. Ich habe von John Cranko*, dem Halbbruder meiner Mutter, der mit ihr in Südafrika aufgewachsen ist, einen wichtigen Leitspruch für mein Bühnenspiel gelernt, und daran halte ich mich: „Mache nicht drei Sachen gleichzeitig, denn man verfolgt sie nicht, bereits zwei sind schwer wahrzunehmen – daher wähle einen Fokus und bleib’ dabei.“
„Auch in einer kniffligen Produktion findet man einen Freiraum für sich, der einen nährt und auch Spaß macht.“
Simon Keenlyside
Ihre Ernennung zum Österreichischen Kammersänger im Jahr 2017 – ein Jahr, bevor Sie von (damals noch) Prinz Charles zum „Ritter“ (Sir) geschlagen wurden – zeigt Ihre Popularität beim Publikum der Wiener Staatsoper. In einer Broschüre dazu liest man: „Was Simon Keenlyside stimmlich wie darstellerisch auf der Bühne entwirft, sind Menschenbilder von unglaublicher Lebendigkeit. Er beglaubigt die von ihm dargestellten Charaktere durch hochintelligente psychologische Tiefenbohrungen, Facettenreichtum, eine Meisterschaft im Nuancenbereich sowie durch eine die Kollegenschaft ansteckende Hingabe– all das ließ ihn zu einem der feinsten und bedeutendsten Interpreten seines Faches werden.“ Wann sind Sie wieder in Wien zu hören?
I Mitte Oktober komme ich mit Gustav-Mahler-Liedern im Rahmen einer Konzerttournee des Cleveland Orchestra unter der Leitung von Franz Welser-Möst nach Wien, aber zuerst gastieren wir in San Francisco und dann in Tel Aviv. Mein musikalisches Leben ist in zwei Sparten geteilt: Ich liebe die französischen und deutschen Lieder und natürlich die Oper. Das sind zwei ganz unterschiedliche Welten: Während die Oper meist die sozialen, politischen, sexuellen Ungerechtigkeiten und die religiösen Freiheiten verhandelt, geht es in den Liedern meist um Individuelles, nämlich Liebe, Verlust, Tod, Heimat und Sehnsucht. Ich liebe beide Ausdrucksformen.
Waren Sie schon früher beruflich oder privat in Israel?
I Vor rund 20 Jahren war ich in Israel und konzertierte mit Zubin Mehta. Ich habe eine große Familie dort, kenne sie aber nicht. Obwohl ich damals niemandem etwas gesagt habe, lief mein Hoteltelefon heiß, weil alle paar Minuten irgendein Onkel oder Cousin anrief. Ich muss mindestens zwanzig Tanten und andere Verwandte dort haben …
Apropos Familie: Ihr Großvater, der bekannte Violinist Leonard Hirsch, wurde in Dublin geboren. Wussten Sie als Kind, dass Ihre Mutter jüdisch ist?
I Es war ein purer Zufall, dass Leonard Hirsch in Irland zur Welt kam. Seine Familie war eigentlich von Riga auf dem Weg nach New York. Seine Mutter war hochschwanger mit ihm, und die Behörden befahlen ihnen, in Irland von Bord zu gehen. Mein Großvater ging bereits mit 17 Jahren ans Royal Manchester College of Music, wo ihn Adolf Brodsky** die nächsten acht Jahre unterrichtete. Er machte eine tolle Karriere als Solist, Kammermusiker, Dirigent und Lehrer und initiierte im Zweiten Weltkrieg nicht nur Konzerte in Luftschutzbunkern, sondern spielte selbst an einem Abend drei Mal. Er sprach sein Leben lang Jiddisch; und ich liebte ihn, weil er so humorvoll und voll jüdischem Charme war.
Also hat er Ihnen das „Jüdischsein“ schmackhaft gemacht?
I Ja, eigentlich schon. Ich erinnere mich, dass ich ihn gefragt habe, ob ich jüdisch bin. Und wie antwortet der Großvater? Natürlich mit einer Gegenfrage: „Willst du jüdisch sein? Dann bist du es!“
Jetzt fehlt uns noch die Geschichte Ihrer Mutter.
I Glücklicherweise merkten meine Eltern, die in den 1940erJahren noch keine britischen Staatsbürger waren, dass die Stimmung gegen „Fremde“ zu kippen begann und die Briten viele Juden als Häftlinge nach Australien verschickten. So wanderten sie nach Südafrika aus, wo sie frei und sicher waren. Dort wuchs Ann Hirsch auf, sie kam erst mit 16 Jahren, als ihre Mutter gestorben war, in die jüdische Gemeinde nach North Hampstead. Mein Vater, Raymond Keenlyside, war ein klassischer Geiger, durch und durch „englisch“. Trotzdem hatte er nur jüdische Geiger als Vorbilder und in seinen diversen Streichquartetten. Er konnte gut Jiddisch sprechen, und ich bin überzeugt, er hat meine Mutter nur geheiratet, weil sie Jüdin war – und er sich mit ihrem Vater so gut verstand.
Ihre Familie hatte ein starkes jüdisches Bewusstsein, war aber assimiliert. Was bedeutet Ihnen Religion?
I Ich habe kein Talent für die Religion: Ich glaube, ich werde mich in das Universum verflüchtigen, wo ich hergekommen bin. Aber ich weiß genau, dass ich keinerlei Affinität zum Britischen habe. Ich verstehe weder sie noch ihre Kultur, alles ist eng und kalt. Schauen Sie auf den Brexit und die Corona-Pandemie: Sie haben alle Künstler und Künstlerinnen kaltherzig stehen lassen, sie hassen, was wir tun und wofür wir stehen. Ich bin in einem ganz anderen Umfeld aufgewachsen. Wir brannten für eine westliche Demokratie in unserem Europa, das Jüdischsein ist dabei ebenso wichtig, es ist ein Teil meiner Mischung. Ich amüsiere mich immer, wenn jemand zu mir sagt: „Du bist so typisch Englisch mit deiner ärmellosen Weste.“ Denn darauf reagiere ich so: „Ja, ja, und meine Mutter ist Ann Leonie Hirsch, schönen guten Tag!“
* John Cranko (1927–1973) war ein britischer Tanzregisseur und Choreograf. Er war ab 1961 Leiter des Stuttgarter Balletts, das er innerhalb weniger Jahre zu einer der führenden Ballettkompanien der Welt machte.
** Adolf Brodsky (1851–1929) war ein russisch-jüdischer Geiger und Musikpädagoge, der mit neun Jahren sein erstes Konzert in Odessa gab. Ein reicher Mann entdeckte ihn dort und finanzierte sein Studium am Wiener Konservatorium, wo der berühmte Joseph Hellmesberger (1828–1893) sein Lehrer war.