Gefangen im Netz obskurer Mächte

In seinem zeitgeistigen Cyber-Thriller Schwachstellen ortet Yishai Sarid in der internationalen Hacker-Szene die Gefahren für kleine und große Fische.

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Yishai Sarid: Schwachstellen. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Kein & Aber, 288 S., € 24,70

Faszinierend dicht am Puls der Zeit und der israelischen Realität sind Yishai Sarids Szenarien immer. In seinem Politthriller Limassol war es ein einsamer Agent im Wettlauf mit der tickenden Zeitbombe eines Terroristen, die unsauberen Machenschaften windiger Immobilienhaie nahm er in Alles andere als ein Kinderspiel ins Visier und in Monster den Auschwitz-Tourismus aufs Korn. In Siegerin kämpft eine Militärexpertin für die Psychologie des Tötens mit ihren moralischen Konflikten.

Skrupel, Selbstzweifel, ethische Fragen treiben Sarids gebrochene Helden und Heldinnen in diverse dramatische Situationen, aus denen sie nicht immer unbeschadet herausfinden. Als Meister des feinen psychologischen Suspense spinnt der israelische Bestsellerautor genau aus diesen Konflikten seine raffinierten Spannungsbögen.

Doch rückblickend erscheinen all diese Szenarien harmlos. Denn so finster, so dystopisch wie in seinem jüngsten Wurf war es bisher noch nie. Dystopisch? Sind die in Schwachstellen skizzierten Verhältnisse nicht bereits unsere Wirklichkeit, eine abseitige Welt, von der wir mehr oder minder persönlich betroffen sein können?

Labiler Computernerd Doch vorerst zur Fiktion, die so nah an dieser Welt dran ist:
Siv ist Mitte zwanzig, als ein Headhunter den genialen Hacker direkt vom Militärdienst für eine Cyberfirma anwirbt, die von Israel aus in verschiedenen Ländern tätig ist. Wie so viele Computernerds ist der junge Mann in der analogen Welt im Grunde unsicher, labil und voller Minderwertigkeitsgefühle. In der Beziehung zu Frauen hat er kein Glück, und daheim gibt’s jede Menge familiäre Probleme. Die Ehe der Eltern zerfällt, seine Schwester, für die er sich verantwortlich fühlt, driftet als Drogen-Junkie immer tiefer in kriminelle und sexuelle Verstrickungen ab. Nur vor seinem Laptop ist der Ich-Erzähler ein Held, der richtige Mann für schwierigste, heikelste Spezialoperationen, deren Legalität er nicht hinterfragen darf.

 

„Der Mensch muss verstehen, dass das,
was er hinter verschlossener Tür macht,
für alle einsehbar ist.“

 

So schickt ihn denn auch sein Chef allein in ein gebirgiges kaltes Land irgendwo im Osten Europas. Aserbaidschan, Kasachstan? Jedenfalls ist es offenbar eine postsowjetische Militärdiktatur, die ihre Gegner mit den brutalsten Mitteln verfolgt und nicht zögert, sie auf der Stelle zu töten. Siv wird dabei nolens volens ihr Helfershelfer, denn mit seiner Technologie kann er die angeblichen „Terroristen“ überall orten, sich in ihre Mobiltelefone einloggen und alle ihre Aktivitäten mitansehen und -hören lassen. Verglichen mit diesen Möglichkeiten ist George Orwells Big-BrotherVision ein unschuldiges Ammenmärchen.

Einschub: Assoziationen zu den seit den Netzwerken unseres Exkanzlers auch hierorts bekannt gewordenen israelischen Unternehmungen wie NSO, das seine Überwachungssoftware Pegasus vermutlich auch übel beleumdeten Staaten verkauft, lassen sich da nicht vermeiden. Ohne Zweifel hat Sarid als Rechtsanwalt und ehemaliger Nachrichtenoffizier der israelischen Armee diesbezüglich wasserfest recherchiert, wie sich überhaupt alle seine Bücher durch gründlichste Recherche auszeichnen.

Zurück zu Siv, der schnell zur internationalen Elite der „Schwachstellenentdecker“ zählt, die Sicherheitslücken in IT-Systemen aufspüren. Aufkommende ethische Skrupel, was die Ziele seiner Auftraggeber betrifft, wischt er selbst dann noch weg, als er die mit seiner Hilfe Gefangenen in Käfigen vor sich sieht.

„Ich bin nicht schuld, sagte ich mir, bin nur eine kleine Figur in einem großen Spiel, dessen Regeln andere bestimmt haben. Mich interessiert nicht, wer gewinnt und wer verliert. Ich tue nur meine brillante Arbeit.“ Eine israelische Richterin soll quasi als Koscher-Stempel für etwaige Moralprobleme der Mitarbeiter zuständig sein.

Souverän knackt Siv fremde Geräte wie „Sonnenblumenkerne“, doch wird diese Routine auch in seinem privaten Umfeld für ihn zur unkontrollierbaren Sucht und der unkontrollierte Mensch als sensibelste Schwachstelle letztlich für das Überwachungssystem zum Problem.

Beunruhigende Studie. Wie einen Code entschlüsselt Sarid die psychologischen Mechanismen der Sucht und die Psyche eines naiven Helfershelfers obskurer Organisationen, Fragen, denen der Autor bereits in anderen Romanen nachgegangen ist. Gespenstisch ist diesmal nicht nur das hoffnungslose individuelle Schicksal des Protagonisten als vielmehr die beängstigende kollektive Perspektive. Längst sind alle Arten von Privatsphäre Illusion und die neuen Cyberwaffen im Dienste anonymer Mächte die Schwachstellen unserer Zivilisation. Wieder einmal hat Yishai Sarid vom israelischen Mikrokosmos aus globale Problemfelder angeleuchtet.

„Der Mensch muss verstehen, dass das, was er hinter verschlossener Tür macht, für alle einsehbar ist. Sogar das, was er im Kopf hat. […] Er ist selber schuld, wenn er nicht merkt, dass die Zeiten sich geändert haben.“

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