Hysterie und Vernunft

Das Coronavirus hat die Welt fest im Griff. Welches Land wird die Krise am Ende am besten bewältigt haben?

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Woran wird man sich im Rückblick zuerst erinnern, wenn man an das Jahr 2020 denkt? An tausende Geflüchtete, die versuchten, von der Türkei nach Griechenland und damit die EU zu gelangen, nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Grenze geöffnet hatte? Oder an das Virus Covid-19, das sich rasch von China aus in alle Welt verbreitete – Globalisierung funktioniert auch analog.
Noch sind wir in beiden Themen massiv verstrickt, wobei sich Ersteres vor allem in Form von Bildern, Videos und Berichten den Weg in unseren (Medien-)Alltag bahnt, während das Virus sehr nah gerückt ist. Theoretisch kann man sich jederzeit auf der Straße, am Arbeitsplatz, in der U-Bahn oder im Supermarkt mit dem Coronavirus anstecken. Praktisch auch.

Mitten in einer Krise sieht man oft den Wald vor lauter Bäumen nicht, heißt es gerne.
Was ist der richtige Weg?

Mitten in einer Krise sieht man oft den Wald vor lauter Bäumen nicht, heißt es gerne. Was ist der richtige Weg? Das Land und seine Menschen sofort abschotten? Oder einmal abwarten und sehen, was passiert? Schließlich schwächeln auch schon die Börsen – ist es das Virus, ist es der Ölpreis? China ist jedenfalls in weiter Ferne, die TV-Berichte über Menschen, die in Wuhan ihre Häuser nicht verlassen durften und ein Spital, das binnen Tagen hochgezogen wurde, waren eindringlich, aber eben doch gefühlt sehr weit weg.
Die Reportagen aus Italien haben da schon ganz andere Sprengkraft. Italien ist das Stück Sonne, das in wenigen Zug- oder Autostunden zu erreichen ist. Durch Mailand schlendern, in Südtirol wandern, in Venedig die Seele baumeln lassen, das ist vielen nahe. Nicht nur geografisch, sondern auch emotional. Die Berichte aus dem Nachbarland sind dramatisch, die Zahl der Toten erschüttert. Und es stellt sich die Frage: Warum breitet sich in Italien das Virus so viel schneller aus als in anderen Ländern? Hat man zu spät reagiert? Kam das Schließen von Schulen, Kinos, Museen zu zögerlich?
Indessen machte sich Israel Anfang März daran, das Land sukzessive abzuriegeln. Zunächst wurde den Bürgern verschiedener Länder, darunter auch Österreich, die Einreise verboten und Israelis, die aus diesen Staaten zurückkehrten, eine zweiwöchige Heimquarantäne verordnet. Der nächste Schritt war, alle Rückkehrenden in Quarantäne zu schicken.
Was für eine Hysterie, sagten derweilen immer noch viele Österreicher. Panikmache! Es gebe viel mehr Grippeinfizierte und auch Grippetote, Jahr für Jahr, als nun durch das Coronavirus zu beklagen seien. Und Israel? Naja, da herrsche ja grundsätzlich Paranoia. Und man neige dort zu überzogenen Reaktionen. Österreicher nicht mehr einreisen lassen! Aber wehe, das würde umgekehrt passieren, da würde man sofort wieder die Antisemitismus-Keule zu spüren bekommen! Das hörte ich in Variationen beim Friseur, beim Warten vor der Supermarktkasse, in der U-Bahn. No joke.
Und ich dachte mir indessen: Aber Krisenmanagement kann Israel. Bei Österreich war ich mir da zuerst nicht so sicher, inzwischen wählte die Regierung aber einen strikten Weg mit Shutdown, ohne die Versorgung mit Notwendigem zu gefährden. Und während rundherum immer noch besonders Coole meinen, ah, betrifft ja eh nur Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen, denke ich mir erstens, schlimm genug – wir haben alle Eltern, Großeltern, liebe Freunde, die keine 20 oder 30, sondern schon 60 oder 70 Jahre alt sind. Und zweitens macht sich das Bedürfnis breit, sich einzuigeln und selbst das Einkaufen im Supermarkt zu vermeiden, um seine Familie und sich zu schützen. Ist das Hysterie? Ist das Vernunft? Das werden wir alle wohl erst im Rückblick sehen. Nun aber verändert sich täglich die Lage. Vielleicht sieht morgen alles schon viel besser aus. Oder viel schlimmer.

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