„Ich musste all diese Grenzen überwinden“

Ein Porträt des jungen israelischen Komponisten und Wahlwieners Dror Binder.

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„Es war wirklich ein sehr anderes Leben.“ Der junge israelische Komponist Dror Binder über seine Militär- und Studienjahre in Israel. © Lea Wildemann; Uri Binder

Es ist der 7. Oktober, als wir einander im wie immer liebevoll betreuten Social-ConceptStore „Schön & gut“ in der Nähe des Wiener Naschmarkts treffen. Dror Binder kommt pünktlich und sagt zur Begrüßung, während sein Handy kontinuierlich piepst, „es ist Krieg in Israel“. So ganz verstehe ich an diesem Vormittag nicht, was los ist. Noch nicht. Doch während unseres Gesprächs hören die Nachrichteneingänge nicht mehr auf, irgendwann beginnen dann an auch die samstäglichen Sirenen schier unaufhörlich wieder und wieder aufzuheulen. Ganz normal, sag ich, aber irgendwie stimmt auch das nicht mehr. Irgendetwas ist anders an diesem grauen Samstagmorgen, aber erst in den kommenden Tagen wird die Dimension der Katastrophe für uns alle, auch jene, die weniger enge Beziehungen nach Israel haben, keine Freunde, keine Familie, wie Dror Binder, deutlicher, dringt in unsere Tage und in unsere Nächte ein. Wochen später, während ich für WINA an dem Interview mit dem jungen, seit rund zwei Jahren in Wien lebenden israelischen Komponisten schreibe, wundere ich mich, dass wir an diesem Samstagmorgen vor einem Monat überhaupt ein so konzentriertes und intensives biografisches Gespräch führen konnten. Vier Wochen später fühlt es sich an, als wäre zwischen dem Leben, das ich an diesem Vormittag in einem Wiener Café kennenlernen durfte, und Dror Binders Leben nach diesem 7. Oktober eine riesige traumatische Kluft geschlagen worden.

Ein ganz normales Kinderleben. Dror Binders Eltern wurden bereits in Israel geboren. Die Eltern der Mutter kamen aus dem Iran, die Familie des Vaters stammt aus Deutschland; dass er einmal in Wien sein zweite Heimat finden würde, war für den jungen israelischen Komponisten eine so unvorhersehbare wie vor allem künstlerische Entscheidung. Dass er Musiker werden würde, stand auch nicht in den Sternen – einzig der Urgroßvater der Mutter war einst Musiker gewesen, wenn auch nur im privaten Rahmen, professionelle Musiker:innen gab es vor ihm keine, verrät Binder zu Beginn unseres Gesprächs; dennoch sei seine Familie sehr musikalisch, lacht der junge israelische Wahlwiener und erzählt von den Geschichten seiner Mutter, nach denen er zugleich zu sprechen wie zu singen begonnen hätte und schon als Kleinkind seine musikalischen Ambitionen unter Beweis stellte. So war es wohl auch kein Zufall, dass Drors Mutter ihren Sohn bereits im Alter von sechs Jahren mit dem Klavier bekanntmachte. „Das war aber schlichtweg zu viel für mich“, erinnert sich Binder an seine erste Begegnung mit der professionellen Welt der Musik; und so verweigerte er vorerst den für ihn vorgesehenen Instrumentalunterricht – ehe er nur ein halbes Jahr später dann doch seine Klavierausbildung begann. Dror Binder besuchte eine ganz „normale“ Volksschule, betont er, doch als man die Eltern des Hochbegabten nach dem ersten Jahr an einer höheren Schule bat, sie mögen Dror die zweite Schulstufe überspringen lassen, entschieden sich diese für einen anderen Weg und schrieben ihren Sohn in eine der wenigen israelischen Waldorfschulen ein. „Sie wollten einfach, dass ich eine ganz normale Kindheit habe, ohne den enormen Druck, den hochbegabte Kinder oft haben“, ist Binder dankbar, „und sie haben mich in der Waldorfschule sogar das erste Jahr wiederholen lassen, sie haben also das Gegenteil von allem gemacht, das man ihnen damals für mich empfohlen hat.“

„Ich will als Künstler keine
Kompromisse mehr eingehen.“
Dror Binder

Die harten Jahre. Während der Highschool spielt Dror in verschiedenen Bands als Bassist und Sänger, ehe er nach dem Schulabschluss seinen dreijährigen Armeedienst antritt – und hier als „nationaler Musiker“ immerhin die Freiheit erhält, seine musikalische Ausbildung fortzusetzen. „Pro Jahr erhalten nur 20 Personen den Status ,national musician‘, und das ermöglicht ihnen, in der Armee zwar verpflichtend zu dienen, jedoch die eigene künstlerische Karriere weiterverfolgen zu können.“ Für Binder bedeutet das, seinen mehrstündigen täglichen Office-Job in der israelischen Armee zu leisten und parallel dazu an der Jerusalemer Kunstuniversität seinen Bachelor in Klavier zu absolvieren. „Ich war damals ausschließlich Pianist, und ich erinnere mich, dass es in diesen Jahren, die sehr intensiv und auch belastend waren, nichts anderes, wirklich nichts anderes gab als den Wunsch nach einer großen Karriere als Pianist“, erzählt Dror Binder und hält fest: „Es war wirklich ein sehr anderes Leben.“ Und es sollte auch nicht Binders Leben bleiben: Nach dem Ende des Militärdienstes und seinem Bachelorabschluss „rannte ich einfach weg“, schildert es der Komponist in der Rückschau. Neun Monate Indien, einige Monate mehr des Reisens, u. a. nach Deutschland, des Aussteigens, des Nachdenkens folgen, in denen Binder einen gänzlich neuen Weg für sich finden muss, den Druck der vorangehenden Jahre abbaut und für sich entscheidet, „dass ich wieder der ganz normale junge Mann werden wollte, der ich vor diesen vier Jahren des von Leistungs- und Karrieredruck dominierten Studiums gewesen war. Wenn ich heute, fast eine Dekade später, daran denke, dann glaube ich, dass es vor allem das Ende meines Weges als ,klassischer Pianist‘ war, weniger das Ende meines persönlichen musikalischen Weges“, setzt Binder seine Ausführungen fort und verrät lachend: „Ich sah mich damals nicht mehr als klassischen Pianisten, aber als ich nach diesem Jahr Auszeit zurückkam, war das Erste, das ist tat, mich zuhause an meinen großen Konzertflügel zu setzen und tagelang Musik zu machen.“ Doch nun waren es nicht mehr klassische Werke, sondern erste eigene Kompositionen, Jazz-Stücke, vor allem Improvisationen, die Binder auch in den kommenden Monaten zurück in Israel begleiten.

„Es ist wirklich schwer,
Kooperationen in klassischer
neuer Musik aufzubauen.“
Dror Binder

„Im Verlauf der folgenden eineinhalb Jahre, die ich wieder zuhause war, entstand dann der Wunsch, die improvisierten Stücke niederzuschreiben – das waren meine ersten Schritte als Komponist“, denen schon bald ein Kompositionsstudium an der Jerusalem Academy of Music and Dance und schließlich, Anfang 2020, ein Stipendium für die Liszt Academy of Music in Budapest folgen. „Es ist doch für fast alle Musiker:innen wichtig, einmal in Europa zu studieren“, reflektiert Binder seine damalige große Freude über die Einladung nach Budapest, wo er schließlich ein Jahr lang studiert. „Budapest war ein ganz besonderes Jahr“, ist Binder für die erneut intensive Studienzeit dankbar. Hatte er in den Monaten vor seiner Abreise als Ballett-Korrepetitor, als Hochzeitsmusiker und Mitglied mehrerer JazzFormationen gearbeitet, so war er nun, zum ersten Mal, „Vollzeitkomponist. Und es war auch während dieser Monate in Budapest, dass ich mich entschied, nicht mehr zu meinem bisherigen Musikerleben zurückzukehren, sondern den Weg als Komponist konsequent weitzugehen.“ In dieser Zeit gibt ihm auch sein damaliger Professor, Gyula Fekete, den Rat, nicht zurück nach Israel, sondern weiter nach Wien zu gehen.

2021 kommt Dror Binder schließlich nach Wien, um seine postgradualen Studien an der Universität für Musik und darstellende Kunst fortzusetzen – parallel dazu unterrichtet er bis heute Hebräisch. „Es war eine wichtige Entscheidung für mich“, erläutert er dazu näher, „zu sagen, dass ich mein Geld als Künstler nur noch als Komponist verdienen will – und alles andere nicht mehr, wie bis dahin, als Musiker in allen möglichen Kontexten. Ich will als Künstler keine Kompromisse mehr eingehen.“

Wiener Netzwerke. Wien 2021 bedeutet in mehrfacher Weise erneut eine Zäsur: „Ich habe schnell gemerkt, dass einen PhD zu machen für mich im Moment ein zu weites neues Feld eröffnen würde, und so habe ich das Studium um ein Jahr verschoben und in diesem zweiten CovidJahr vor allem komponiert. Dann kam das nächste Jahre – und die nächste Verschiebung. Und zurzeit sage ich mir, dass ich meinen PhD nächstes Jahr machen werden“, schmunzelt der junge Komponist. Dror Binder setzt sich seit Langem sehr bewusst mit dem enormen Erfolgsdruck auseinander, den eine künstlerische Biografie wie seine mit sich bringt; und er setzt kluge Strategien dagegen, zu denen auch der Aufbau stärkender, wertschätzender Netzwerke vor Ort wie international gehören. Noc

Ehrliche Dankbarkeit. Dror Binder ist ein gleichermaßen einnehmender wie nachdenklicher Künstler, dem das
Aufbauen von Netzwerken ein echtes Herzensanliegen ist. © Lea Wildemann; Uri Binder

h ist es kein einfacher Weg, den Binder für sich gewählt hat – er initiiert seine Projekte selbst, bemüht sich stetig und mit der ihm eigenen herzlichen Offenheit um neue Kontakte, wie aktuell mit dem 2020 in Wien gegründeten Kandinsky Quartet, und um interessierte Spielorte wie die Alte Schmiede, wo Binders neueste, dem von ihm hochgeschätzten jungen Quartett gewidmete Komposition Little Kiss (2023) vor Kurzem im Rahmen von Wien Modern uraufgeführt wurde. „Es ist wirklich schwer, Kooperationen in klassischer neuer Musik aufzubauen“, gibt der bereits mehrfach international ausgezeichnete Nachwuchskomponist zu, „es ist eine Frage der Zeit, die allen zur Verfügung steht, sei es für das Erproben neuer Werke, sei es eben auch für das Aufbauen von Netzwerken, für das Organisieren von Aufritten und so vieles mehr – Wien nimmt hier im positiven Sinne eine Sonderstellung ein, denn es ist möglich, hier Orte zu finden, um neue Musik zu spielen; in anderen Städten sieht die Situation wesentlich anders aus, und das verlangt sehr viel an Ressourcen und mag auch mit ein Grund sein, warum, vielleicht, manche zurückhaltender sind, wenn es um das Knüpfen neuer Kontakte geht.“

Auf der anderen Seite, ist Binder sicher, sind in dem künstlerischen Feld, in dem er tätig ist, Kollaborationen „wichtiger als Preise“. Dass er nun mit einem Ensemble, dessen Arbeit er schätzt, an einem für avancierte zeitgenössische Musik so traditionsreichen Ort wie der Alten Schmiede und bei einem weltweit so bekannten Festival wie Wien Modern gespielt wurde, ist für Binder ein berufliches Geschenk: „Es ist alles bisher so gut gelaufen, dass ich es noch gar nicht glaube; alle sind so unterstützend, so offen und wertschätzend“, auch wenn seine Projekte trotz all der positiven Erfahrungen finanziell weiterhin schwer zu stemmen sind.

Wahlheimat Wien. So bewusst sich Dror Binder in den letzten Monaten für seinen Weg als Komponist entschieden hat und diesen konsequent verfolgt, so sicher ist der einstige leidenschaftliche Mozart- und Chopin-Interpret, dass es Orte „mit einer nahezu mythischen Aura“ gibt. „Wien! Das ist der schönste Ort der Welt für klassische Musiker:innen – das ist, was ich mein halbes Leben lang gehört habe. Das mag nicht ganz falsch sein – aber, wenn ich ehrlich bin: Ich wusste nicht, als ich kam, wohin ich kam und wohin mich mein Weg als Künstler führen würde. Ich bin gekommen und habe in den ersten Monaten in Wien einfach nur … gesucht!“ Binder erzählt auch, dass er, bereits in Wien, noch einige Zeit gebraucht hat, Grenzen innerhalb der Musikgeschichte zu überwinden: „Ich habe ein Jahr gebraucht, um über die ,Schönberg-Schwelle‘ zu kommen. Ich kannte bis dahin die Musik bis Ravel, die Musik bis Hindemith, es gab auch eine Zeit, in der ich lernen musste, eine Symphonie von Brahms zu hören, dann kamen die Grenzen Bartók und Schönberg – ich musste all diese Grenzen überwinden, um meinen Weg als Komponist zu finden.“

Dror Binder komponiert heute immer noch mit dem Klavier, daneben mit dem Synthesizer, aber auch mit dem Computer. Sein Studio teilt er sich jedoch nicht mit anderen Musiker:innen, sondern mit mehreren bildenden Künstler:innen. Auch seine jüngere Schwester will diesen Weg einschlagen und wurde vor Kurzem zum Studium an der Wiener Akademie der bildenden Künste aufgenommen. „Meine Schwester war in gewisser Weise smarter als ich und hatte schon viel früher einen sehr konkreten Plan, was sie studieren würde. Sie war auch schon mehrere Male in Wien und ist dann meistens viel länger geblieben als geplant.“

Wien, sagt Dror Binder an diesem 7. Oktober am Ende des Gesprächs, während sein Handy langsam in ein Dauersurren eintaucht, sei für ihn zur zweiten Heimat geworden. „Ich freue mich daher umso mehr, dass meine Schwester hier an die Akademie aufgenommen wurde, denn seit ich hier leben, habe ich das Gefühl, dass meine Familie hier in Wien ein Stück weit zuhause ist. Auch mein Eltern und mein Bruder kommen, seit ich hier lebe, mehrmals im Jahr hierher – und ich bin froh, dass wir von nun an für unsere vielen Besucher:innen zwei Wiener Wohnungen haben. Wien passt einfach zu mir.“

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