„ICH WEISS,WER ICH BIN“

„Ich glaube, ich habe mit 34, 35 Jahren erst zu leben begonnen“, resümiert Schauspielerin, Performerin, bildende Künstlerin, Coachin und Kuratorin Anat Stainberg am Ende ihres Gesprächs mit WINA, bei dem sie über ihren künstlerischen Weg erzählt, der sie von Tel Aviv nach New York und wieder zurück und von Amsterdam schließlich nach Wien geführt hat.

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Anat Stainberg. Die in Wien lebende multidisziplinäre israelische Künstlerin, hier in einem Film von Miriam Bajtala. © Miriam Bajtala; Anat Stainberg

Es war keine einfache Kindheit, erzählt Anat Stainberg, als eine von vielen israelischen „Armeewaisen“ (Yetomat Zaha’l). In Tel Aviv geboren, stirbt ihr Vater, ein hoher Offizier des israelischen Militärs, als sie 16 ist. Die Mutter ist Malerin, ein Beruf, von dem sie in Israel nicht leben kann, und bringt die drei Kinder nach der frühen Trennung der Eltern allein durch. Keine einfache Kindheit.

Heute weiß Stainberg: „I know, who I am“ (ich weiß, wer ich bin), Israelin und Teil der Mehrheitsbevölkerung ihres Geburtslandes. Jüdinnen und Juden, die in anderen Ländern und als Mitglieder dortiger Minoritäten aufwachsen, haben es, ist sich Stainberg bewusst, wesentlich schwerer, wenn es um das Thema Zugehörigkeit(en) geht, brauchen „eine andere Erkenntnis“. Stainbergs „Erkenntnis“ galt einer anderen wesentlichen Frage des Lebens: ihrem beruflichen, und das heißt in ihrem Fall: ihrem ganz persönlichen künstlerischen Weg, der sie über einige wichtige Stationen vor 15 Jahren nach Wien geführt hat.

Zweifel & Aufbruch. Mit 20 geht sie nach New York – „eine verrückte, intensive Zeit“, erinnert sie sich. Nach einem halben Jahr, in der sie der „Big Apple aufgefressen“ hat, kehrt sie nach Tel Aviv zurück, studiert an der dortigen Universität Theater, Film und Anthropologie und bald schon an der Yoram Loewenstein Acting School – „eine fantastische Schule“ –, der sie ihre profunde Ausbildung als Schauspielerin verdankt. Es folgen fünf Jahre, in denen sie intensiv in der israelischen Theater- und Filmbranche arbeitet. Eine Rolle folgt der anderen, doch sie gleichen einander, schieben die Schauspielerin in ein Rollenklischee, aus dem sie bald schon auszubrechen versucht.

„Ich […] wollte herausfinden, was in mir vorgeht,
was ich ganz ohne Einfluss von außen – den ich ja
so stark aus den Theaterjahren in Israel gewohnt war
– entwickeln
kann.“

Anat Stainberg

 

Der scheinbar vorgegebene künstlerische Weg langweilt sie, die angebotenen Stücke entsprechen so gar nicht ihrer Vorstellung von zeitgenössischem Theater. Sie beginnt, am eingeschlagenen beruflichen Weg zu zweifeln, eigene Projekte zu entwickeln und erste Soloperformances zu realisieren, für ein paar Wochen geht sie schließlich in die Niederlande, um dort einen Sommerkurs zum Thema „The performer and the mediated image“ zu absolvieren. Das öffnet ihr ganz neue Welten, die sie in Medienkunst und experimentelle Videoarbeit führen und weit über ihre bisherigen Theatererfahrungen hinausreichen. Vor allem aber verstärken sie in Stainberg den Wunsch, ihrem bisherigen Berufsweg den Rücken zu kehren und sich neuem, unbekanntem Terrain zu widmen. Sie entdeckt DasArts in Amsterdam, eine der herausragendsten Theater- und Tanzakademien weltweit, bewirbt sich mit Beispielen ihrer bisherigen Soloarbeiten in Israel – und wird aufgenommen. Vier Jahre lang studiert, lebt und arbeitet Stainberg in den Niederlanden. „Bis dahin habe ich gar nicht gewusst, dass bestimmte Dinge in der Kunst existieren“, erzählt sie. Sie nimmt sich nun ganz bewusst den dringend gesuchten kreativen Raum für all die Entdeckungen und vor allem ihre persönliche Entwicklung. „Ich habe in dieser Zeit wenige Freunde gehabt und mich sehr zurückgezogen. Ja, ich habe mich damals ziemlich isoliert und wollte herausfinden, was in mir vorgeht, was ich ganz ohne Einfluss von außen – den ich ja so stark aus den Theaterjahren in Israel gewohnt war – entwickeln kann: ,Was kann ich selbst kreieren?‘, das war die zentrale Frage dieser Jahre. Bergmanns Persona – bähm! Das war ich damals. Ich wusste nicht mehr, wer ich bin. Und das hat mich damals sehr verwirrt.“ Im Laufe dieser vier Jahre findet Stainberg ihren Weg – und bereits 2006 wird sie für eine Soloperformance im Tanzquartier ein erstes Mal nach Wien eingeladen. Damals lernt sie ihren späteren Mann und Vater der beiden gemeinsamen Söhne, den Musiker Martin Siewert, kennen, pendelt von da an zwischen den beiden Städten und zieht, bereits schwanger, nach eineinhalb Jahren nach Wien. Eine neue Sprache, neue Freundschaften, ein gänzlich neues künstlerisches Umfeld empfangen die Künstlerin.

Anat Stainberg: Part of the city aus der Serie Body Forms, Acrylic auf Papier, 2019. © Miriam Bajtala; Anat Stainberg

Schauspielerin & Performerin. „Der Grund hierherzukommen war eigentlich, dass wir hier eine ,Oma‘ hatten.“ Das ermöglicht dem Künstlerpaar, die je eigenständigen künstlerischen Wege weiterzuverfolgen und dennoch als Familie in Wien leben zu können, einer Stadt, weiß Stainberg, in der Kunst und Kultur einen weitaus größeren Stellenwert haben, als sie es von Israel gewohnt war. „Es gibt in Israel viele und unglaublich gute Künstler:innen. Aber der Platz, den sie in der Gesellschaft haben, ist wesentlich marginaler als in Österreich. Und damit meine ich nicht nur den Aspekt der öffentlichen Förderungen. Die Situation von Künstler:innen in Israel ist auf so vielen Ebenen wesentlich prekärer als hier.“ Auch das ist etwas, das sie in den letzten 15 Jahren in Wien kennen und schätzen gelernt hat. Und sie lernt eine Reihe von Künstler:innen kennen, mit denen sie seither mal enger, mal loser, immer aber in ungewöhnlichen und bereichernden Begegnungen zusammenarbeitet und die Wien zu ihrer „künstlerischen Heimat“ werden lassen. Obwohl, lacht Stainberg, vor allem die Sprache – bis heute – eine große Herausforderung für sie bedeutet. „Und Wienerisch kann ich noch immer nicht!“

Über Vermittlung ihres Mann begegnet sie bald nach ihrem Umzug dem seit den 1990er-Jahren hier lebenden israelischen Regisseur Yosi Wanunu und dessen Theatergruppe toxic dreams.. „Das war damals aber eher auf privater Ebene, denn natürlich haben sich unsere Freunde gedacht: Anat ist Israelin, Yosi ist Israeli: Die beiden müssen sich mögen. Und natürlich haben wir einander sympathisch gefunden, aber miteinander arbeiten: Das wollten wir beide nicht. Ich habe mir zwar alle seine Projekte angeschaut, und er hat sich alle meine Projekte angeschaut – aber, nein, wir haben uns künstlerisch nicht gleich ineinander verliebt. Er hat nicht nach einer Performerin gesucht – und ich wollte nicht mehr als Schauspielerin arbeiten“, verrät die Schauspielerin, die in den ersten Wiener Jahren vor allem mit dem Koproduktionshaus brut zusammenarbeitet, wo sie 2008 The Loop, 2011 Things und 2013 Splitter, eine Kollaboration mit der Filmemacherin und Musikerin Billy Roisz, realisiert.

Anat Stainberg: An everlasting performance. Assorted works and one conversation. 2018–2022. Wien: echoraum 2022.

Erst 2015 lädt Wanunu sie ein, am Projekt The Circus of Life A–Z mitzuwirken, einer performativen „Weltausstellung im Kleinen“, bei der Stainberg erneut im Tanzquartier Wien zu sehen ist. Kurz darauf wirkt sie auch in dessen „Screwball Comedy“ Thomas B or Not mit. „Ich sollte eine israelische Regisseurin spielen – und das hat großen Spaß gemacht.“ Seither ist Anat Stainberg kontinuierlich – und mit viel Publikumszuspruch – in Arbeiten der frei produzierenden Wiener Gruppe zu sehen – zuletzt vor wenigen Wochen in The Unreal Housewives, einer intelligent-bösen Persiflage des gleichnamigen internationalen Reality-TV-Franchise-Formats. Als Darstellerin ist sie auch in zahlreichen experimentellen Filmen zu sehen, u.a. von Lisa Kortschak, Thomas Marschall und Miriam Bajtala. Und ganz aktuell wird schon am nächsten Projekt der Gruppe toxic dreams gearbeitet, die vor Kurzem mit dem Österreichischen Kunstpreis 2022 ausgezeichnet wurde.

„Im Dezember hat How to be happy im Wiener WUK Premiere, bei dem wir uns mit dem Hype der ,Happiness-Industrie‘ der letzten Jahre beschäftigen. Ein sehr spannendes und herausforderndes Projekt, auch, weil wir ein neues diskursives Format ausprobieren werden“, freut sich Stainberg über die derzeit sehr intensiven Probenwochen.

Kuratorin & bildende Künstlerin. Noch ein weiterer Bereich hat sich für Anat Stainberg eröffnet: Seit 2020 gehört sie zum kuratorischen Team der monatlichen Veranstaltungsreihe Der Blöde Dritte Mittwoch, die im November im Rahmen des Festivals Wien Modern ihre unglaubliche 122. Ausgabe präsentiert. „Eigentlich wollte ich diese neue Aufgabe zuerst gar nicht annehmen“, gesteht Stainberg. Doch dann hat es sie doch gereizt. „Wir bieten an jedem Abend drei sehr unterschiedliche künstlerische Positionen aus verschiedenen Disziplinen an“, erläutert die Kuratorin, die für den performativen Bereich verantwortlich zeichnet, das Konzept der Reihe, „wobei zwei meist aus dem Bereich der neuen, experimentellen Musik kommen und eine aus der zeitgenössischen Performance.“ Wichtig sei dabei, so Stainberg weiter, „dass wir nicht versuchen, im Vorhinein schon eine bestimmte Sichtweise auf den Abend und die gezeigten Projekte vorzugeben. Doch in dem man bei jeder Ausgabe drei Positionen in zeitlicher Abfolge sieht, ,summieren‘ sich diese stets zu einem Erlebnis, das immer spannend und für uns alle überaus bereichernd ist. Es ist immer ein sehr spezieller Abend – und ich liebe diese Arbeit sehr, bei der es ganz stark um Beziehungen und Begegnungen geht.“

Es ist aber die Malerei, die für das Multitalent „das Authentischste ist, das ich in meinem ganzen Leben produziert habe. Und für eine Schauspielerin ist die Möglichkeit, Zugang zu etwas Authentischem zu finden, nicht ,gegeben‘.“ Acryl und Ölkreide auf Papier, abstrakt mit einem hohen Grad an formaler Dichte, so beschreibt Stainberg ihre bildnerischen Arbeiten. „Ich arbeite sehr strukturiert, wenn ich male, konzentriert und nahezu ‚meditativ‘ technisch, nicht ,emotional‘, sondern somatisch, also mit den Bewegungen, die aus dem Körper heraus entstehen und in die Malerei eingehen.“

Anat Stainberg: Homemade Melanzani n. 28; Bleistift, weißer Marker und Wasserfarbe auf Papier, 2018. © toxic dreams/Tim Tom; Anat Stainberg

Ausstellungen haben sie unter anderen zu Kunstschauen wie die Parallel Vienna geführt, in das Sternstudio und die Oststation sowie nach Schratenberg in der Steiermark. Zuletzt waren Arbeiten ihrer zwischen 2018 und 2022 entstandenen Reihe Body Forms im Rahmen einer Soloausstellung mit dem Titel everlasting performance im echoraum zu sehen, mit dem sie eine enge künstlerische Freundschaft verbindet.

Eines nach dem anderen. Die sich zwischen den unterschiedlichsten Disziplinen bewegenden Projekte der vielseitigen Künstlerin bedeuten auch, dass sie die jeweiligen Arbeitsphasen genauestens durchgeplant. „Ich bin sehr strukturiert – und sehr projektorientiert“, verrät Anat Stainberg, deren Leben sich zwischen Theaterproben und Filmaufnahmen, ihrer eigenen bildnerischen Arbeit, ihrem sehr erfolgreichen Performance-Coaching „Lights on you“ und der Familie bewegt: „Wenn mich Leute fragen, wie ich das alles schaffe, dann sag ich immer: eines nach dem anderen.“

Wichtig ist, dass sie heute die Möglichkeit hat, in den unterschiedlichsten Konstellationen zu arbeiten. „Jeder Bereich bietet mir andere Ausdrucksmöglichkeiten“, erklärt sie. „Wäre ich nur Schauspielerin, wäre es mir bald zu viel, immer ,beobachtet‘ zu werden. Wäre ich nur Malerin, würde ich vor Einsamkeit sterben. Und würde ich nur als Coachin arbeiten, würde ich mich rasch zu sehr ,benutzt‘ fühlen. So sind es eben all diese Möglichkeiten, mich auszudrücken, die mir diese große Freude an allen meinen Arbeiten schenken.“ Letztlich aber, ist sich Stainberg sicher, „fließt alles zu einem Zentrum, einen Kern zusammen. Und der lautet für mich: Was ist ,real‘? Wo lassen sich Linien und Grenzen finden, was ist perfekt, was nicht – wann bin ich ,echt‘, wann nicht?“

Der Zweifel begleitet sie immer noch – „aber eben als professionelle Frage. Nicht mehr als persönliche. Er ist für mich der Motor für Entwicklung.“

anat.klingt.org

Anat Stainberg mit Markus Zett in The Bruno Kreisky Lookalike von toxic dreams, WUK, 2019. © toxic dreams/Tim Tom; Anat Stainberg

TERMINE
Der Blöde Dritte Mittwoch # 122
16.11.2022, 22 Uhr, mdw Campus, Klangtheater im Rahmen von Wien Modern 2022
Programm: Nicoletta Favari, Christopher Salvito: Circo Pobre; Susanne Schuda: Schudini The Sensitive, Therapeutin des kollektiven Unbewusstseins, spricht über Ambivalenz, Dilemma und Paradox; Matthias Kranebitter: Sweet Muzic. Assoziative Musik III; DJ meshes to meshes/Lisa Kortschak
bloedermittwoch.klingt.org
toxic dreams: How to be happy 7.–12.12.2022, 20 Uhr, WUK


 

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