Israels Pakt mit dem Teufel

Um der nationalistischen PLO eine konkurrierende Bewegung gegenüberzustellen, wurde die Hamas seit ihrer Gründung auch von Israel gefördert. Premierminister Benjamin Netanjahu setzte darauf, dass durch die Kontrolle der radikalen Islamisten in Gaza der Nahost-Friedensprozess scheitert und der Druck, einen palästinensischen Staat zu gründen, dadurch abnehmen wird.

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Israels militärischer Sieg im SechsTage-Krieg 1967 veränderte den Nahen Osten für immer. Nach seinem Triumph gegen einen zahlenmäßig überlegenen arabischen Gegner eroberte der jüdische Staat neben dem Westjordanland, den Sinai, den Golanhöhen und dem Ostteil von Jerusalem auch den Gazastreifen. In der kleinen Enklave hatte damals bereits ein Ableger der ägyptischen Muslimbruderschaft, der dort schon vor der Gründung Israels existierte, großen Einfluss. Auch die palästinensische Bruderorganisation setzte vorerst auf friedliche Mittel und beschränkte sich auf karitative und erzieherische Aktivitäten, um zunächst möglichst viele Anhänger zu gewinnen. Dies galt auch, als Scheich Ahmad Yassin 1973 das Islamische Zentrum (al-Mujamma’ al-Islami) und damit die unmittelbare Vorläuferorganisation der Hamas gründete und mit Geld aus den reichen Golfstaaten Spitäler, Schulen, Kindergärten und Jugendzentren errichten ließ, in denen islamistische Ideen weitergegeben wurden. Zu den Unterstützern gehörte auch der israelische Inlandsgeheimdienst Shabak, der es in den frühen 1980er-Jahren förderte, um der mächtigen Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) eine Bewegung gegenüberzustellen, die jungen Menschen ansprechen sollte.

„Zu meinem Bedauern hat Israel bei der Gründung der Hamas mitgeholfen“, sagt der pensionierte ehemalige Shabak-Offizier Avner Cohen aus dem religiösen Moshav Tkuma nahe des Gazastreifens, der wie durch ein Wunder vom Pogrom am 7. Oktober 2023 verschont blieb. Statt die Macht der Islamisten von Anfang an einzudämmen, habe Israel sie jahrelang toleriert und als Gegengewicht zur PLO und ihrer dominanten Fraktion, der Fatah von Jassir Arafat, unterstützt. „Wir kooperierten sogar mit einem verkrüppelten, halbblinden Geistlichen namens Scheich Yassin, selbst als dieser den Grundstein für das legte, was später zur Hamas werden sollte.“

Der Spionageexperte war bis 1994 für mehr als zwei Jahrzehnte in Gaza tätig und hauptsächlich für religiöse Angelegenheiten in der Region verantwortlich. Hautnah beobachtete er, wie die islamistische Bewegung mit Beginn der ersten Intifada im Dezember 1987 Gestalt annahm, säkulare palästinensische Rivalen besiegte und sich dann in die heutige Hamas („Islamische Widerstandsbewegung“) verwandelte, eine militante Gruppe, die sich der Zerstörung Israels verschworen hat. „Wir haben nicht bedacht, was langfristig aus dem werden würde, was wir in den 1980er-Jahren gefördert haben. Vor allem die rechte Regierung um Premierminister Benjamin Netanjahu übernahm diese Strategie der Spaltung. Sie hielt an diesem Status quo fest und glaubte, den Nahostkonflikt ohne echten Friedensprozess mit den Palästinensern beenden zu können“, erklärt Cohen. „Das war nicht besonders klug und ein großer Fehler.“

Fehlentscheidungen mit dramatischen Folgen. Tatsächlich erklärte Netanjahu bereits im Dezember 2012, dass es im Interesse Israels sei, die Hamas in Gaza stark zu halten – quasi als Gegengewicht zur Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), die das Westjordanland kontrolliert. So gebe es, glaubte man, keine einheitliche Führung und ohne palästinensischen Gesprächspartner keine Verhandlungen. Um zu verhindern, dass die Hamas zusammenbricht, musste der jüdische Staat sicherstellen, dass vor allem die Wirtschaft in Gaza funktioniert, wenn auch schleppend. Israels Premier befürwortete durch die „Geld für Frieden“-Politik auch die finanzielle Unterstützung des Emirats Katar an den Küstenstreifen. Auf diese Weise stärkte man, ohne es zu wollen, die Macht der radikalen Islamisten.

„Neben Steuereinnahmen, Spenden, Kryptowährungen und Investmentgeschäften sind sowohl Katar wie auch der Iran für den Erhalt der Hamas von entscheidender Bedeutung“, erläutert Udi Levi, ehemaliger Leiter der Abteilung für wirtschaftliche Kriegsführung des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad. „Schätzungsweise fließen jährlich über 1,5 Milliarden US-Dollar mit Zustimmung Jerusalems direkt von Doha an die Terrorfürsten in Gaza, und auch Teheran hat trotz Sanktionen in den letzten 15 Jahren sowohl sein Atomprogramm wie auch die finanzielle Unterstützung seiner Stellvertretergruppen fortgesetzt. Die Türkei ist in mancher Hinsicht sogar noch wichtiger, weil sie für die Islamisten eine wichtige Stütze bei der Verwaltung ihrer Finanzinfrastruktur ist.“ So besitzt die Hamas zahlreiche geheime Konten bei türkischen Banken, laut israelischer Quellen mit Millionenbeträgen von rund 40 Unternehmen, die aus dem Nahen Osten und Nordafrika stammen, darunter Saudi-Arabien, Algerien, Sudan, Ägypten, die Golfregion und eben auch der Türkei. Die angeblichen Investitionen umfassen alles von Straßenbau, Pharmaindustrie und medizinischer Ausrüstung bis hin zu Bergbau, Goldabbau, Tourismus und Luxusimmobilienprojekten.

Zwar sollten die ganzen Einnahmen – vor allem von der UN, der EU und weiterer Wohltätigkeitsorganisation – für humanitäre Zwecke dienen, wie den Wiederaufbau in Gaza und den Kauf von Treibstoff, um ein Kraftwerk am Laufen zu halten, aber auch für die Zahlung von Regierungsgehältern; das meiste Geld jedoch floss in die Taschen der Hamas-Führung. Besonders die Petrodollar aus Katar und dem Iran wurden jahrelang genutzt, um deren militärischen Flügel zu finanzieren. So konnte die Hamas nicht nur eine schätzungsweise 30.000 Mann starke, bis an die Zähne bewaffnete Streitmacht aufbauen, sondern auch ein Tunnelsystem in Gaza schaffen, das größer ist als das Londoner U-BahnNetz. „Um der Hamas das Handwerk zu legen, hätte man deren Finanzquellen schon längst austrocknen müssen“, erklärt der Ex-Agent. Und hätte Israel den Geldfluss nach Gaza frühzeitig unterbunden, hätte die Hamas niemals ein Massaker wie das vom 7. Oktober ausführen können. „Doch dem wollte keine israelische Regierung ernsthaft nachgehen. Ähnlich wie vor dem Jom-Kippur-Krieg 1973 unterschätzten Politik und Sicherheitsapparat die Gefahr.“ Und er warnt weiter: „Wenn der Geldfluss an die islamistische Terrororganisation wie bislang weitergeht, könnten wir in einigen Jahren erneut demselben Monster wie am 7. Oktober gegenüberstehen.“

Ein Blick auf die Ideologie der Hamas zeitigt die Dimension des Problems, die mit den Massakern des 7. Oktober sichtbar wurde. Antisemitismus und das Ziel der Zerstörung des Judenstaates sind tief in der Geschichte des palästinensischen Ablegers der ägyptischen Muslimbruderschaft verwurzelt und werden auch bei der Zerstörung seines militärischen und politischen Flügels oder im Falle eines territorialen Kompromisses zwischen Israelis und Palästinensern nicht verschwinden. Darüber hinaus wird die Hamas finanziell nicht nur vom Emirat Katar, sondern auch vom Iran, dessen Proxy sie inzwischen ist, gefördert. Der Mullah-Staat, zu dessen Staatsräson die Vernichtung Israels gehört, unterstützt diese darüber hinaus auch militärisch und logistisch.

„Die militärische Strategie des Anschlags vom 7. Oktober ist ein iranisches Konzept“, weiß Roni Shaked, Friedens- und Konfliktforscher der Hebräischen Universität in Jerusalem. „Die Hamas kombiniert Angriffe auf dem Luft-, See- und Landweg und hat dabei unsere elektronischen Sensoren zerstört. Das ist ganz klar die Handschrift Teherans.“

Der Nahostexperte beschreibt in seinem Buch über die Hamas, dass die Hilfe der schiitischen Großmacht des Irans sich auch gegen die Ideologie der Palästinenser als muslimische Sunniten wendet. Das gemeinsamen Ziel bleibt jedoch die Vernichtung Israels.

Der jüdische Staat fühlt sich durch das iranische Nuklearprogramm und seinen Stellvertreter, die Hisbollah im Libanon, in seiner Existenz bedroht und könnte einen Präventivschlag starten, was zu einer totalen Eskalation im Nahen Osten führen könnte.

„Israels Militäroperation in Gaza wird keine dauerhafte Lösung sein“, erklärt Shaked. „Die Hamas sieht ihren Sieg nicht in einem oder in fünf Jahren, sondern in einem jahrzehntelangen Kampf, der sowohl die palästinensische Solidarität wie auch die Isolation des jüdischen Staates stärkt. Sie hatte von Anfang an eine langfristige Perspektive, doch diese Gefahr hat Jerusalem vorerst nicht verstanden. Dieses Unverständnis hatte enorme Konsequenzen für Israel, das seit 2006 nicht weniger als fünf Gazakriege geführt hat.“

Durch den Beginn des Waffengangs glaubte die Hamas, dass sie die PA im Westjordanland an den Rand drängen kann, indem sie der Bevölkerung zeigt, dass sie die Stärke und den Mut hat, sich für diese einzusetzen. Die arabischen Staaten entfernen sich schon längst von einer Normalisierung des Verhältnisses mit Israel, und der globale Süden schließt sich stark der palästinensischen Sache an und konzentriert sich zunehmend auf das angeblich von den israelischen Streitkräften verursachte Leid in Gaza. Gerüchte über einen regionalen Krieg nimmt die Hamas in Kauf, da ihre Führer davon ausgehen, dass dies dazu führen wird, dass die europäischen Regierungen vom Handeln Israels zurückschrecken werden. Die parteiübergreifende Unterstützung, die der jüdische Staat seit den frühen 1970er-Jahren genießt, wird so zunichtegemacht. Das ultimative Ziel der Hamas besteht darin, Israel von seinen internationalen Partnern zu entfremden und das Land in einen Pariastaat zu verwandeln.

Im aktuellen Krieg in Gaza hat sich Israel die Zerstörung der Hamas und die Befreiung der Geiseln zum Ziel gesetzt. Wie beim Kampf gegen NaziDeutschland kann der politische und militärische Flügel des Gegners zwar physisch zerstört werden, doch um die radikal-islamische Ideologie aus den Köpfen zu kriegen, braucht es Jahrzehnte, bis sich durch Bildung, Kultur und Erziehung eine neue Gesellschaft entwickelt.

„Um die Hamas zu bekämpfen, braucht es einen Umgang mit der Ideologie der palästinensischen Muslimbruderschaft“, erläutert der pensionierte Shabak-Offizier Cohen. Das Ziel der Terrororganisation ist die physische Vernichtung von Juden und Israel. Wichtig sei es daher vor allem, „dass die internationale Gemeinschaft den Iran und seine Stellvertreter entschlossener isoliert. Die vollständige Zerschlagung der Hamas und ihrer Strukturen weltweit muss das Ziel sein.“ Cohen fordert, dass der Westen sein Verhältnis zur Muslimbruderschaft allgemein überdenkt. Bisher sei es, so Cohen, oft noch so, dass Organisationen, die als Teile der Muslimbruderschaft gelten, dennoch politische Partner sein können. Stattdessen aber sollten NATO- und EU-Staaten ihre Verbindungen zu islamistischen Verbänden und Organisationen kappen. Eine solche Isolierung könnte dazu beitragen, dass diese an Bedeutung verlieren. „Schon Anfang der 1970er-Jahren rieten mir zahlreiche islamische Geistliche in Gaza, die Zusammenarbeit mit den Anhängern der Muslimbruderschaft von Scheich Yassin zu beenden“, erinnert sich Cohen. „Die Mehrheit der Palästinenser war damals nicht wirklich religiös, sondern nationalistisch verankert. Die Kleriker erklärten mir, dass Israel und der Westen die Ideologie des Islamismus nicht verstehen und das in 20 oder 30 Jahren bereuen würden. Sie sollten Recht behalten.“

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