Jacques Offenbach hätte sich bei diesem Orpheus amüsiert

Der Dirigent Alexander Joel erweckt an der Wiener Volksoper den humorvollen Geist und die vielschichtige Musik dieser Operette. Über seine Beziehung zu Wien und seine bewegte Jugend erzählt er im Gespräch mit Marta S. Halpert.

1543
ALEXANDER JOEL geboren 1971 in London, wuchs in Wien auf, wo er am Konservatorium der Stadt Wien Dirigieren, Klavier und Komposition studierte. Er war Preisträger beim Capuana-Wettbewerb in Spoleto und besuchte Meisterklassen in Tanglewood. Im Alter von 24 Jahren gab er sein Debüt am Opernhaus Nürnberg, von wo seine Familie herstammt: Im Jahr 1928 gründete der Großvater des in Österreich lebenden Dirigenten Alexander Joel und dessen Halbbruders, des Sängers und Songwriters Billy Joel, den ersten Versand von Textilartikeln: Bald gehörte Karl Amson Joels Wäsche- und Konfektionsversandhaus neben Quelle u. a. zu den Größten der Branche. Joel zog 1934 nach Berlin, weil Julius Streicher, NS-Gauleiter und Gründer des Hetzblattes Der Stürmer, ihn persönlich diffamierte. Dort wurde 1938 sein erfolgreicher Betrieb arisiert: Josef Neckermann „übernahm“ alles um den Viertel des Kaufwerts. Während Neckermann mit seiner Familie Joels Berliner Villa bezog, lebte dieser mit seiner Familie mittellos in einer Zürcher Einzimmerwohnung, bis er über Frankreich, England und Kuba 1942 in die USA gelangte. Helmut Joel, der Vater von Alexander und Billy, kam noch in Nürnberg zur Welt. Er war ein begabter Pianist (siehe Details im Interview). Seit der Saison 2022–2023 ist Alexander Joel Erster Gastdirigent der Volksoper Wien, wo er 1999 sein Debüt mit Wiener Blut feierte. © Julia Wesely

WINA: Sie haben für die musikalische Leitung der Neueinstudierung von Orpheus in der Unterwelt ausgezeichnete Kritiken eingeheimst. Da hieß es u. a.: „Souverän lässt Alexander Joel Offenbach swingen, grelle Klangpointen knallen und feine lyrische Momente schmelzen.“ Oder: „Das Lob geht an das Orchester und den Dirigenten Alexander Joel, die diese Musik nicht nur ‚dreschen‘ (außer es ist vorgesehen), sondern auch geradezu zärtlich umschmeicheln, liebevoll die Melodien schmalzen lassen, akzentuiert die Frechheit ausspielen – denn wenn Musik ‚frech‘ sein kann, dann bei Offenbach.“ Liegt Ihnen die Musik Offenbachs besonders gut?
Alexander Joel: Vielleicht. Jedenfalls bescherte mir mein erstes Orpheus-Dirigat 1997 am Stadttheater Baden ein prägendes Erlebnis, weil es damals auch so eine witzige Produktion von Tamas Ferkai war. Während meiner Zeit in Baden habe ich auch Franz BauerTheussl, der ein wunderbarer Dirigent und Operettenspezialist war, bei zwei Produktionen assistiert und dadurch sehr viel über das Dirigieren und Interpretieren gelernt, insbesondere im Genre der Operette. Offenbach hatte diesen trockenen jüdischen Humor, der zu einer Wiener Operette gehört, ebenso wie der hiesige Schmäh oder der französische Sarkasmus. Seine Musik verlangt nach guten Inszenierungen, deshalb ging er auch pleite, weil er sein ganzes Geld in sein Theater für teure Produktionen und Bühnenbilder gesteckt hat, um starke Bilder und Effekte zu erzeugen.

TIPP DER VERFASSERIN: Beate Thalberg, Redakteurin beim ORF, drehte unter dem Titel Die Akte Joel einen Film, der die Geschichte zweier Familien in Nazi-Deutschland dokumentiert: wie aus dem Versandhandel Joel, den der Großvater von Alexander und Billy Joel gegründet hatte, das Unternehmen Neckermann wurde. Eine mehrfach preisgekrönte Dokumentation über diese prototypische „Arisierung“. youtu.be/qE-_rpjmEFE

Das ist uns jetzt an der Volksoper auch gut gelungen, weil die Regie für dieses komödiantische Meisterwerk von Spymonkey betreut wurde, dem führenden britischen Ensemble für Physical Comedy: Sie sind die Monty Pythons des 21. Jahrhunderts.

Sie haben bereits zu Beginn Ihrer Karriere Werke von Offenbach dirigiert. Welche und wo?
I Ja, und das mit großer Freude, seine einzige Oper Hoffmanns Erzählungen in Klagenfurt und an der Volksoper im Jahr 2019. Das Stadttheater in Klagenfurt leitete damals Dietmar Pfleger (1992–2007), und bei ihm durfte ich die Operette Die Schöne Helena als Premiere einstudieren. Er hat mich sehr gefördert: Er hat Hans Landesmann, der bereits Konzertchef bei den Salzburger Festspielen war, eingeladen, damit er mich bei La Traviata hört. Landesmann hat mich dann an Direktor Dominique Mentha empfohlen, der 1999 gerade als Direktor Wiener Volksoper nominiert war. Mentha bat mich umgehend, die Eröffnungsvorstellung seiner Ära, Wiener Blut, zu dirigieren.

Sie haben Opern von Verdi, Puccini, Mozart und Wagner weltweit erfolgreich dirigiert: Ein besonders gefeiertes Debüt hatten Sie 2013 in London am Royal Opera House Covent Garden mit Produktionen von La Bohème und Carmen, deren Interpretation sogar mit der legendären von Carlos Kleiber verglichen wurde. An der Bayerischen Staatsoper, an der Semper Oper in Dresden und Kopenhagen waren Sie ebenso oft zu hören wie in Amsterdam, Oslo, Stockholm, Tokio und Hamburg. Allein an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf und Duisburg haben Sie sich als Erster Kapellmeister zwischen 2001 und 2007 ein breites Repertoire von über 35 Opern erarbeitet. Trotzdem sind Sie der Operette treu geblieben. Ist die Operette heute überhaupt noch „cool“?
I Ganz sicher, wenn man es richtig macht! Es ist wirklich schade, dass es bezüglich der Operette einen ziemlich ausgeprägten Snobismus gibt. Natürlich ging die goldene Ära dieses Genres mit Offenbach, Strauss, Millöcker zu Ende; die silberne Periode und später vor allem die Revue-Operette wurden schon in Berlin abgefeiert, weil die meisten Talentierten nach Amerika emigrieren mussten. Während dort bald das Musical Erfolge feierte, entstand im Dritten Reich die „Heimat-Operette“, die nur schöne Mädels und glückliche Liebespaare zeigte, als ob es keinen Krieg gäbe.

© Julia Wesely

 

 

„Offenbach hatte diesen
trockenen jüdischen
Humor, der zu einer Wiener
Operette gehört […].“
Alexander Joel

 

 

 

 

Warum glauben Sie haben gerade Offenbachs Operetten überlebt?
I Weil seine Melodien im Kopf bleiben, nicht kompliziert, aber äußerst wirkungsvoll sind. Operette ohne Juden, wenn ich das so salopp sagen darf, ist eine andere Art von Humor. Es ist nicht verwunderlich, dass Offenbach sich in Wien und Paris durchgesetzt hat, weil sein Humor verstanden wurde, aber in Deutschland fast nicht. Manche reklamieren zwar den „typisch Kölner Humor“ für ihn, aber das ist einfach falsch, sein geistvoller Witz hat gar nichts mit Karneval zu tun.

Sie wurden 1971 in London geboren, 1976 übersiedelte ihre Familie nach Wien. Mit fünf Jahren haben Sie bereits Bizets Carmen an der Staatsoper gehört und gesehen. Wurden Sie damals für die Musik oder auch schon für die Oper gewonnen?
I Mein Vater war ein sehr guter Pianist, vielleicht hätte er diese Karriere eingeschlagen, wenn er nicht vor den Nazis hätte fliehen müssen. Er hat mich viel öfter in die Oper als ins Konzert geführt. Das ist auch viel besser für kleinere Kinder, denn die wollen etwas sehen auf der Bühne, also Action! Ich hatte den Luxus, gut vorbereitet in die Oper zu gehen, weil er mir am Klavier alles vorgespielt und auch die Inhalte als Geschichten erzählt hatte. Aber als meine Familie nach Kuba geflohen ist, hat er mit 15 begonnen, Elektrotechnik zu studieren, um die Familie zu erhalten. Auf der Universität hat er mit Fidel Castro Schach gespielt.

„Operette ohne Juden, wenn ich das so salopp sagen darf, ist eine andere Art von Humor.“ Alexander Joel © Julia Wesely

Nach einem kurzen Studium in französischem und englischem Recht am King’s College in London haben Sie Klavier und Komposition an der Hochschule für Musik und darstellen Kunst und Dirigieren am Konservatorium der Stadt Wien studiert und hier ihren Abschluss 1996 mit Auszeichnung gemacht. Warum kommt ein gebürtiger Londoner nach Wien zum Studieren?
I Nach dem Abenteuer Kuba durfte meine Familie in die USA, mein Vater arbeitete für die US-Firma General Electric und war in einigen europäischen Städten aktiv. Ab 1976 baute er dann in Wien das Geschäft mit Osteuropa auf. So war ich eine zeitlang im Lycée français de Vienne und fühlte mich sehr wohl, dann mussten wir wegen der Firma wieder nach London. Ich war traumatisiert, denn ich wollte von Wien nicht weg. Schließlich landete ich in einem Internat in der Schweiz. 1988 entschieden wir, zurück nach Wien zu ziehen, da wir die Stadt so vermisst haben. In Wien fühle ich mich sehr wohl, hier lebe ich mit meiner Frau Hayoung Lee Joel, die Sopranistin ist, und unserer achtjährigen Tochter Carla. Ich möchte meinen deutschen Pass zurückgeben und Österreicher werden, denn ich bin hier neben einem Heurigen aufgewachsen und habe diese Lieder im Ohr, und ich mag den Spirit und die Atmosphäre der Wiener Operette. Schließlich habe ich einen englischen, jüdischen und wienerischen Humor, das ist der schwärzeste von allen!

Diesen Humor brauchten Sie sicher auch, als Sie 2016/2017 die musikalische Leitung von Wagners Ring des Nibelungen am Hessischen Staatstheater Wiesbaden in der Regie von Uwe Eric Laufenberg verantworteten. Da kam es ja zu einem Wagner-Marathon mit zwei Gesamtzyklen des Rings.

Alexander Joel hätte gerne die österreichische Staatsbürgerschaft – den passenden schwarzen Humor dafür hat er schon. © Julia Wesely

I Richard Wagner dirigiere ich gerne, aber während der Schlussproben zum Orpheus in Wien musste ich gleichzeitig mit Tristan und Isolde anfangen – und das ist ein krasser Bruch. Denn Wagner war ein humorloser Mensch und alles andere als demütig. Seine Werke haben keine Leichtigkeit, weil alles mit Bedeutung überladen ist. Seine Kompositionskultur ist interessant und revolutionär, aber bei Giacomo Puccini fühle ich mich wohler und besser aufgehoben. Klar ist, es gibt keinen Dirigenten, der Puccini, Mozart, Wagner oder eine Barockoper gleich gut dirigiert, es gibt immer eine gefühlt persönlichere Beziehung zu einem Komponisten.

Das fixe Angebot an die Volksoper kam von Direktorin Lotte de Beer. Was sind Ihre nächsten Pläne?
I Ich kannte Lotte von Braunschweig, wo ich Generalmusikdirektor des Staatstheaters war, Lotte inszenierte dort Mozarts Così fan tutte. Wir haben uns sofort gut verstanden. Im März dirigiere ich hier die Wiederaufnahme von La Traviata, in einer sehr schönen Inszenierung von Hans Gratzer. Im April bin ich am Zürcher Opernhaus für eine Serie von Léo Delibes Oper Lakmé. In der nächsten Saison gastiere ich dann an der Oper in Lyon, an der Welsh Opera, in Covent Garden sowie an der Vlaamse Opera in Antwerpen. Dort werde ich auch zur Operette zurückkehren und Die Fledermaus einstudieren.

 



ORPHEUS IN DER UNTERWELT

In Offenbachs Orpheus in der Unterwelt, uraufgeführt 1858 im Pariser Theater der Bouffes-Parisiens, erleben wir Orpheus als stinklangweiligen Musiklehrer und Eurydike als seine von ihm genervte Ehefrau. Als Eurydike zur Hölle fährt, kann ihren Gatten nichts mehr erfreuen. Wäre da nicht die „Öffentliche Meinung“ (dargestellt von Ruth Brauer-Kvam) die Orpheus dazu nötigt, seine Frau bei Göttervater Jupiter im Olymp zurückzufordern. Von Nektar und Ambrosia gelangweilt, kommt gleich die ganze Götterfamilie mit Orpheus in die Unterwelt. Aber auch bei den Göttern herrschen lähmende Langeweile und Überdruss – und so sehnt sich Eurydike zurück zu ihrem Mann auf Erden. Es geht gut aus, mehr verraten wir nicht. Jedenfalls darf über triste Ehen ebenso gelacht werden wie über verkorkste Götter und eine partysüchtige Unterwelt. Orpheus gilt als die erste Operette der Geschichte, es ist auch das erste abendfüllende Werk des Komponisten und wurde ein sensationeller Erfolg. Denn er persifliert die griechische Sage von Orpheus und Eurydike und nimmt dabei den Antikenkult lustvoll auf die Schaufel. Das bekannteste Musikstück ist der sogenannte Höllen-Cancan im zweiten Akt, ein Schlager, der auch heute öfters separat aufgeführt wird. Die 1860 uraufgeführte Wiener Bearbeitung des Orpheus stammt vermutlich von Johann Nestroy, der damals auch die Rolle des Jupiter übernahm.

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here