Klänge und Texte, die unter die Haut gehen

Die Pianistin Elisabeth Eschwé und der Cellist Orfeo Mandozzi haben eine musikalisch-literarische Chronik über Wien vom Fin de Siècle bis zur Shoah erarbeitet.

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Ein berührendes Konzert über das „vergessene Wien“ boten Elisabeth Eschwé und Orfeo Mandozzi im Alten Rathaus. © Reinhard Engel

Der „schöne Karl“ – wie Bürgermeister Karl Lueger im Volksmund genannt wurde – hätte sich grün und blau geärgert: Unweit seines Porträts im Alten Rathauses in der Wiener Innenstadt erklingt im Barocksaal das herzzerreißend schöne jüdische Gebet Avinu Malkeinu (Unser Vater, unser König). Orfeo Mandozzi hat diese jahrhundertalte Weise für sein Violoncello bearbeitet und präsentierte es gemeinsam mit der Pianistin Elisabeth Eschwé. Die vielseitige Wienerin, die nicht nur Klavier, Philosophie und Schauspiel studierte, zeichnete für das Konzept dieses erbaulichen Abends verantwortlich: Das vergessene Wien betitelt sie die musikalisch-literarische Chronik über Wien von 1900 bis 1945. „Gemeinsam mit dem Cellisten Orfeo Mandozzi habe ich dieses Programm entwickelt, das Originalstücke für Cello und Klavier aus der Zeit enthält, also vom Fin de Siècle bis zur Shoah“, erzählt die Solistin, Kammermusikerin und Rezitatorin, die in Europa, Korea, Australien und den USA tätig ist. „Dass es ein fast rein jüdisches Programm geworden ist, liegt in der traurigen Natur der Sache“, fügt sie noch mit Bedauern hinzu.

Die musikalische Auswahl reichte von Eduard Franck über Erich Wolfgang Korngold und Alfred Grünfeld bis zum jüngeren Bruder von Fritz Kreisler, Hugo Kreisler. „Die Musik war zuerst da, erst dann wählte ich die passende Literatur dazu“, erzählt die lebhafte Künstlerin, die ihre Texte äußerst raffiniert kombiniert hat: Sehr unterschiedliche Loblieder auf die Wienerstadt kontrastiert Elisabeth Eschwé mit scharfsinniger und bitter-sarkastischer Literatur aus der Feder von Sándor Marai, Peter Altenberg, Elias Canetti, Karl Kraus, Ingeborg Bachmann, Friedrich Torberg und Ilse Aichinger. Wunderbar gelingt ihr die Rezitation von Teilen des Herrn Karl von Karl Merz und Helmut Qualtinger sowohl im Jargon wie auch im Tonfall. „Orfeo Mandozzi bestand darauf, dass auf diesen schwer erträglichen Text des Herrn Karl das zentrale jüdische Gebet Avinu Malkeinu in seiner individuellen Fassung folgt“, erläutert seine Klavierpartnerin.

Elisabeth Eschwé ist es gewohnt, professionell im Duo zu spielen: Gemeinsam mit ihrem Bruder, dem Pianisten und Dirigenten Alfred Eschwé, gründeten sie 1997 das Wiener Klavierduo, wobei sich die Geschwister dem Repertoire der vierhändigen Klaviermusik auf ein und zwei Klavieren widmen. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Wiener Klassik und Romantik sowie auf Orchesterwerken in Originalbearbeitung der Komponisten für dieses Genre. Beide Eschwés wurden in Wien geboren, mit französisch-ungarischer Herkunft. Ihren ersten Unterricht erhielten sie im Alter von sechs Jahren bei ihrer Großmutter Valerie Eschwé, einer ungarischen Pianistin und Pädagogin. Ihr weiteres Studium erfolgte am Konservatorium der Stadt Wien, bevor die Geschwister als Dirigent bzw. als Pianistin weltweit Karriere machten.

Die Chemie zwischen der Wienerin Eschwé und dem jüdischen Violoncellisten Mandozzi bescherte dem Publikum einen großen Genuss. Orfeo Mandozzi wurde 1968 im schweizerischen Locarno (Tessin) geboren. Sein Vater Graziano Mandozzi, ein bekannter Dirigent und Filmkomponist, schickte den Sohn an so besondere Ausbildungsstätten wie das Pariser Konservatorium, das Conservatorio Giuseppe Verdi in Mailand, die Juilliard School in New York und die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw).

Mandozzi, der u. a. auf einem Cello von Francesco Ruggeri aus dem Jahr 1675 spielt, lebt in Wien und ist in Österreich kein Unbekannter: Von 1993 bis 2007 war er Mitglied des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich, danach musizierte er mit dem Wiener Brahms Trio und dem Wiener Streichtrio; darüber hinaus spielte er in verschiedenen anderen Konstellationen mit Musikern wie Julian Rachlin, Boris Kuschnir oder Stefan Vladar. International gastierte er u. a. in der Wigmore Hall London, am Teatro Colon Buenos Aires sowie in der Carnegie Hall New York. Hören konnte man ihn auch bei den Salzburger Festspielen, dem Schubert Festival, den Wiener Festwochen, dem Prager Frühling, den Bregenzer Festspielen sowie dem Kammermusikfest Lockenhaus. Er arbeitete mit den Cellisten Mstislaw Leopoldowitsch Rostropowitsch, Yo-Yo Ma und Harvey Shapiro.

Mandozzi lehrt Violoncello an der Zürcher Hochschule der Künste und an der Hochschule für Musik in Würzburg; zudem ist er künstlerischer Leiter der Organisation Yehudi Menuhin Live Music Now in Zürich. Folgende Beschreibung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über den Cellisten zitierten auch andere Medien: „Mandozzi zog sein Publikum als faszinierende Musikerpersönlichkeit mit der betörenden Schönheit seines Tones in seinen Bann.“

Als eine der Draufgaben an diesem bejubelten Konzertabend von Elisabeth Eschwé und Orfeo Mandozzi durfte das Publikum einer Uraufführung lauschen: „Diese Premiere schenke ich auch mir, denn ich interpretiere mein Lieblingslied für Sie, das normalerweise am Ende des Schabbat-Nachtmahls am Freitagabend gesungen wird. Der Text wurde erstmals 1586 in aramäischer Sprache publik und beginnt mit den Worten ,Kah Ribon Olam‘ (,Ja, Herr der Welt‘)“, bereitete der Musiker das Publikum vor. Auch ein Profi zeigt manchmal unabsichtlich seine Gefühle: Versunken im Spiel, werden seine Augen rot, weil Tränen in ihnen schwimmen.

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