Liebe und Verrat in Venedig

Garten der Engel: Der Engländer David Hewson hat einen Roman über Venedig im Spätherbst und Winter 1943 geschrieben, über jüdische Resistenza, Liebe und eine Jacquard-Weberei.

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David Hewson: Garten der Engel. Roman. Übersetzt von Birgit Salzmann. Folio 2023, 392 S., € 27

Seit 1969 liegt es im Wasser, das „Monumento alla partigiana veneta“, das Denkmal für die venezianische Partisanin. Vier Jahre lang hatten der Bildhauer Augusto Murer und der Architekt Carlo Scarpa überlegt, experimentiert und zusammengearbeitet, um das 1961 von italienischen Neofaschisten zerstörte Gedenkmahnmal Leoncillo Leonardis an der Viale Giardini Pubblici in Venedig zu ersetzen. Es ist eine Kombination aus Figuration und Abstraktion, eine angespülte Frauenleiche plus sie umgebende, stützende wie unterstützende Betonkuben im Osten der Lagunenstadt.

Nach Aussage des englischen Autors David Hewson war diese Installation die Initialzündung für seinen nun gut ins Deutsche übersetzten Roman Garten der Engel. Der nicht nur ein Venedig-Roman ist, sondern auch ein Kriegsroman, ein Resistenzaund Kollaborationsroman sowie ein Roman über Venedigs Juden im Spätherbst und Winter 1943.

Am 8. September 1943 unterzeichneten der italienische König und die Alliierten ein Waffenstillstandsabkommen. Die Folge war: Die Deutschen rissen die Macht im durch die Front zweigeteilten Italien an sich, Mussolini wurde als Kopf der faschistischen Repubblica Sociale Italiane, kurz: Republik von Salò, eingesetzt, war aber nur mehr eine Marionette der Nazis. Venedig war bis dato eher im Windschatten des Krieges gelegen. Die Alliierten hatten sich verpflichtet, ob der auf so wenig Raum hochkonzentriert zu findenden Kunst- und Architekturschätze die Stadt, die immer mehr Menschen aufzunehmen hatte, nicht zu bombardieren. Nun kippte die Situation für die italienischen Juden ins Lebensbedrohliche. Auch davon erzählt Hewson eindringlich wie nachdrücklich.

Es ist ein gar nicht kleiner Kreis an Haupt- und Nebencharakteren, die aufund abtreten. Im Zentrum: Paolo Uccello, 18 Jahre jung, Erbe einer winzigen JacquardWeberei ganz im Osten, im Bezirk Castello der Lagunenstadt. Seine Eltern kamen vor Kurzem in Turin ums Leben. Vom einstigen Wohlstand der Familie ist nichts mehr vorhanden, nur die verwitwete Weberin Chiara kümmert sich, quasi an Mutters statt, um Paolo. Dann taucht ein Geschwisterpaar auf, Micaela, Mika und Giovanni, Vanni, Artom, Juden aus Turin. Ihre Eltern wurden erschossen, sie schlossen sich der Resistenza an, ihr letztes Attentat ging schief, sie sind auf der Flucht. Dank Dottore Aldo Diamante, hochangesehener jüdischer ExChefarzt für Chirurgie am Ospedale SS Giovanni e Paolo, und seinem besten Freund, dem Priester Garzone, finden sie Unterschlupf im abgelegenen verfallenen Uccello-Anwesen, dem Giardino degli Angeli, dem Garten der Engel. Paolo, der sich hochsensibel der Gegenwart so verschreckt wie möglich entzog, muss sich ihr nun aussetzen, muss den verletzten Vanni pflegen und sich mit der wagemutigen, tollkühnen Mika auseinandersetzen.

Eine spannende, auf realen Fakten basierende Geschichte entspannt sich, eine Erzählung von Wahrheit und Kollaboration, Feigheit und Leben, Überzeugung und Träumerei, Verrat, Selbstmordhandlungen und Prinzipien. Recht kunstvoll und überaus lebendig erzählt Hewson dies im Abstand erst von 54, dann von 74 Jahren. Sein Kunstgriff: Der eigentliche Roman besteht aus separaten Aufzeichnungen, die der im Spital wegen einer letalen Krebserkrankung liegende Paolo 1999 seinem fünfzehnjährigen Enkel Nico zu lesen gibt. Der hat Zeit, ist er doch kurz vor Ende des Schuljahrs für eine Woche der Schule verwiesen – dabei hat er einen jüdischen Mitschüler nicht selbst geschlagen, lediglich zugesehen, wurde aber dennoch bestraft.

David Hewson, geboren 1953, ging mit 17 Jahren von der Schule ab, arbeitete als Reporternovize für die Scarborough Evening News, eine von Englands kleinsten Tageszeitungen, die seit 2012 als Wochenzeitung in Scarborough erscheint, einem Hafenstädtchen im Nordosten der Grafschaft Yorkshire. Er schrieb mehrere Kriminalromanserien und arbeitete auch die dänische Thrillerserie Forbrydelsen, zu Deutsch Kommissarin Lund – Das Verbrechen, nach der USAdaption auch bekannt als The Killing, zu Romanen um. Den Umgang mit einem großen Stoff, dessen Details so feingewoben sind wie die drei dekorativen Samtfähnlein, die Uccello und Chiara auf uralten hölzernen Webstühlen fabrizieren – der Auftrag eines faschistischen „Judensuchers“, der, selbst Jude, sich den Nazis gewissenlos angedient hat –, bewältigt der Erzählroutinier gekonnt leicht, nur an wenigen Stellen streift und touchiert er Klischees. Venedig erscheint hier tatsächlich anders, ganz anders. Anders als in touristischer Literatur, anders auch als bei Joseph Brodsky. Und es dürfte, so wie es bei Nico, Paolos Enkel, der Fall ist, den das zu Lesende affiziert und durchdringt, der es durchlebt und durchleidet, auch danach verwandelt erscheinen.

Denn gerade Venedigs Historie der Dreißiger- und Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts ist allgemein wenig bis gar nicht bekannt, nicht die Verfolgungen, nicht die Erschießungen, nicht die mörderischen Razzien der Deutschen im Winter 1943 mit Deportationen erst auf die terra firma, dann weiter nach Nordosteuropa in die Vernichtungslager. Es ist kein Thriller, kein Kriminalroman, keine „murder mystery“. Dass Hewson im Finale eine raffinierte Volte setzt, entkräftet diese These nicht, im Gegenteil.

Es ist vielmehr eine atmosphärisch gesättigte Schilderung von Durchhalten und Willenskraft, von Hoffnung und Liebe, von Toleranz und Vergeben – einschließlich harscher, jedoch keineswegs fehlgesetzter Bemerkungen über neuen Neofaschismus und erstarkenden Antisemitismus in Europa.

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