„Lissabon ist ausverkauft“. Exil in Portugal im Zweiten Weltkrieg

Im Sommer vor 80 Jahren spielte sich in Europa eine Flüchtlingskatastrophe ab. Tausende Menschen waren vor den Nationalsozialisten nach Frankreich geflohen und saßen dort fest, die meisten Länder hatten ihre Grenzen für Flüchtlinge bereits geschlossen. Und so wurde Portugal zum Nadelöhr auf dem Weg in das Exil.

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Warten am Hafen von Lissabon. Rund 100.000 aus rassischen oder politischen Gründen verfolgte Menschen fanden ab 1940 in Portugal Zuflucht. © Privatsammlung Moises Fernandes

13. Juni 1940: Die deutschen Truppen stehen vor Paris. In den Straßen von Bordeaux drängen sich die Menschen auf den Straßen, es sind politisch Verfolgte, vertriebene Künstler*innen, Jüdinnen und Juden. Sie kommen aus Deutschland, Polen und Österreich, und sie alle wollen ein Visum für Portugal. Doch die Türen der portugiesischen Botschaft sind geschlossen. In seinem Schlafzimmer wälzt sich Aristides de Sousa Mendes, Generalkonsul Portugals, unruhig von einer Seite zur anderen. Wem soll er gehorchen? Dem portugiesischen Diktator António de Oliveira Salazar, der im Circular 14, einem Rundschreiben an alle Diplomaten, verfügt hatte, keine Visa mehr an „Ausländer mit undefinierter oder angezweifelter Nationalität […] sowie Staatenlose und Juden“ auszustellen? Oder seinem Gewissen, das ihm sagt, er dürfe all diese Menschen nicht im Stich lassen?

Familie Sousa mit ihrem umgebauten Familienauto. © Trilight Entertainment; Antonio Moncada Sousa Mendes

Spanien unter Franco hatte seine Grenzen dicht gemacht und nahm keine Flüchtlinge auf, Portugal war das letzte Schlupfloch in Richtung Übersee. Unter den Flüchtlingen befanden sich zahlreiche Österreicherinnen und Österreicher, darunter die Schriftsteller Friedrich Torberg, Alfred Polgar und Franz Werfel mit seiner Frau Alma, der Drehbuchautor Otto Eis, die Schauspieler Karl Farkas, Joseph Friman und Oskar Karlweis, die Schauspielerin und Aktivistin Hertha Pauli, die Widerstandskämpferin Lisa Fittko, der Journalist Eugen Tillinger. Teilweise führte sie ihre Flucht weiter nach Marseille und dann über die Pyrenäen und durch Spanien nach Portugal. Für viele wurde aber Aristides de Sousa Mendes zum Fluchthelfer. Er entschied sich dafür, den Befehl des Diktators zu missachten, fälschte Pässe und stellte unermüdlich Transitvisa für Portugal aus, bis zu 30.000 Menschen soll er das Leben gerettet haben. Auch die von den Nationalsozialisten per Steckbrief gesuchte ehemalige österreichische Kaiserfamilie – Otto Habsburg, der unter dem Namen Otto Bar reiste, dessen Mutter Zita und weitere Familienmitglieder – erhielt ihre Visa vom portugiesischen Konsul.

Auch die von den Nationalsozialisten per Steckbrief gesuchte ehemalige österreichische Kaiserfamilie erhielt ihre Visa vom portugiesischen Konsul.

Zwischenhalt Portugal. Nach wie vor ist unklar, wie viele Österreicherinnen und Österreicher tatsächlich über Portugal nach Übersee flüchteten. Die Historikerin Katrin Sippel, Geschäftsführerin der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung, beschäftigt sich seit einigen Jahren im Rahmen eines Forschungsprojektes mit diesem Thema.

Aristides de Sousa Mendes – ein „Gerechter unter den Völkern“. © Trilight Entertainment; Antonio Moncada Sousa Mendes

Derzeit steht sie bei 1.700 Namen von Personen, die auf ihrer Flucht nach Übersee in Portugal Halt machten. Bei ihren Recherchen in Archiven in Österreich, Deutschland, Portugal, den USA und Israel hat Katrin Sippel versucht, zusätzlich zu den Lebensdaten und Namen weitere Informationen zu sammeln, wie Berufe, die letzte Adresse in Österreich, Bildungsstand, Schiffsnamen und Zielländer. Sie führte Gespräche mit den wenigen Zeitzeug*innen, die es noch gibt, und arbeitete mit Exilliteratur. Es habe sich gezeigt, so die Historikerin, dass vor allem Ehepaare zwischen 30 und 50 Jahren sowie jüngere alleinstehende Männer nach Portugal kamen, meist gut ausgebildet (Rechtsanwälte, Ärzte, Künstler*innen – eher wenig Handwerker) und mit dem nötigen finanziellen Hintergrund. Ein großer Teil der Flüchtlinge sei – wegen der Platznot in der Hauptstadt – in so genannten residencias fixas (vor allem in Hotels in Ferienorten nördlich von Lissabon) untergebracht worden, wo die Menschen oft bis zu einem Jahr auf die Weiterreise warteten. Nicht wenige wurden inhaftiert, weil sie die Ausgangsregeln nicht einhielten – Friedrich Torberg war einer von ihnen.

Uli Jürgens: Ziegensteig ins Paradies. Exilland Portugal Verlag Mandelbaum, 222 S., 19.90€

Portugal hatte sich gleich zu Beginn des Krieges im September 1939 neutral erklärt, so konnte es die gegensätzlichen Interessen der Krieg führenden Parteien zum eigenen Vorteil nutzen. Das portugiesische Regime lieferte Güter wie Wolfram, Schuhe oder Öle an beide Seiten und ließ sowohl die Propaganda der Achsenmächte wie auch der Alliierten zu. Diktator António de Oliveira Salazar regierte autoritär, schränkte die Meinungsfreiheit in seinem Land massiv ein und ließ Andersdenkende durch die politische Polizei verfolgen. In der Flüchtlingsfrage sah sich Portugal als reines Transitland. Eine militärische und wirtschaftliche Vereinbarung mit England sorgte dafür, dass sich Portugal verpflichtete, Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Übersee zumindest durchzulassen. Bei ihrer Ankunft erschien den Vertriebenen Portugal trotz der herrschenden Diktatur als Paradies, später sprachen die Flüchtlinge in Abgrenzung zum deutschen Nationalsozialismus von einer „Diktamoll“ oder einer „Diktatur in Filzpantoffeln“. Die Erleichterung, den Nationalsozialisten entkommen – oder ihnen zumindest einen Schritt voraus – zu sein, überwog. Alma Mahler-Werfel schrieb in ihrem 1960 erschienenen Buch Mein Leben: „Die ersten Tage einer paradiesischen Ruhe in einem paradiesischen Lande sind unvergesslich, nach der Qual der letzten Monate.“
Und die ebenfalls aus Wien stammende Schriftstellerin Elisabeth Freundlich notierte: „Ankunft also in Lissabon. Die Stadt ein Lichtermeer. Jetzt erst wurde uns so recht bewusst, dass wir lange Zeit in verdunkelten Städten gelebt hatten.“

Aufruf: Die Historikerin Katrin Sippel sucht weiterhin nach Personen, deren Fluchtweg 1940/41 nach oder über Portugal führte.
Kontakt: katrin_sippel@yahoo.es

Rund 100.000 aus rassischen oder politischen Gründen verfolgte Menschen aus dem deutschsprachigen Raum fanden in Portugal ab dem Sommer 1940 längerfristig oder vorübergehend eine Zuflucht. „Lissabon ist ausverkauft. Die Hotels sind überkomplett, man vermietet Badezimmer und legt Matratzen in die Korridore“, schrieb der Wiener Journalist Eugen Tillinger damals in der jüdischen Zeitschrift Aufbau. Die Flüchtlinge bewegten sich vor allem im Zentrum der Stadt, waren zwischen der Poststelle, den Büros der Schifffahrtslinien und den Cafés unterwegs. Die ausländischen Frauen erregten Aufsehen, sie trugen hochgesteckte Frisuren und kurze Röcke, sie rauchten in der Öffentlichkeit. Das Café Suiça nahe dem Rossio-Bahnhof bekam bald in Anspielung auf den Pariser Bahnhof Montparnasse den Spitznamen Bompernasse – bom bedeutet gut, pernas sind die Beine. Eine Exilkultur wie in Paris entwickelte sich in Lissabon kaum, es gibt jedoch Hinweise auf Kabarettabende: Unter dem Titel Lissabon lacht wieder traten dort unter anderem die Wiener Schauspieler Karl Farkas und Joseph Friman auf. Der Erlös kam den jüdischen Hilfsorganisationen zugute.

Casa do Passal in der Nähe von Coimbra – ein Rückzugsort Familie Sousa Mendes wurde Stück für Stück renoviert. © Trilight Entertainment; Antonio Moncada Sousa Mendes

Ab Ende 1940 leerte sich die Stadt wieder langsam. Am Hafen von Lissabon bestiegen die Menschen Schiffe namens Mourinho, Nyassa, Serpa Pinto oder Nea Hellas, die sie nach Argentinien, Kuba, Mexiko oder Nordamerika brachten. Friedrich Torberg, der noch immer auf die ersehnte Karte für die Überfahrt wartete, schrieb Ende September 1940 an seinen bereits in den USA lebenden Freund Willi Schlamm: „Ach, ich bin des Winkens müde […] und zum Beispiel bringt euch also die nächste Hellas die Paare Polgar und Werfel-Mahler, Heinrich und auch Golo Mann, Feuchtwanger dürfte mittlerweile bereits angekommen sein.“ Wenige Tage später stand Torberg selbst an Deck eines Schiffes nach Übersee. Nur wenige Flüchtlinge blieben in Portugal, bauten sich hier eine neue Existenz auf. Der aus Wien stammende Paul Stricker kaufte im Jahr 1944 einen Schwung defekter Füllfedern, reparierte sie und verkaufte sie wieder. Heute ist die Firma Paul Stricker und Söhne ein Großhandel für Büromaterial. Die Historikerin Katrin Sippel entdeckte auf dem jüdischen Friedhof in Lissabon zehn Gräber von Österreicher*innen, die während des Krieges in Portugal starben. 28 weitere Personen wurden erst in den Jahren nach 1945 dort bestattet, was bedeutet, dass sie sich in Portugal niedergelassen hatten.
Aristides de Sousa Mendes, der portugiesische Konsul, der den Flüchtlingen in Bordeaux im Jahr 1940 auf derart selbstlose Weise geholfen hatte, musste seinen Ungehorsam gegenüber Diktator António de Oliveira Salazar teuer bezahlen: Er wurde frühzeitig pensioniert, die Familie wurde in Portugal geächtet und verarmte. Erst Jahrzehnte später wurde Sousa Mendes postum rehabilitiert, er gilt heute als einer der „Gerechten unter den Völkern“ von Yad Vashem. Seit einigen Jahren kümmern sich Stiftungen in den USA und Portugal um sein Andenken. Das Anwesen mit dem Namen Casa do Passal in Cabanas de Viriato im Landesinneren Portugals nahe der Stadt Coimbra, das der kinderreichen Familie Sousa Mendes stets ein Rückzugsort war, wurde in den vergangenen Jahren Stück für Stück renoviert. Es handelt sich um ein breites einstöckiges Haus mit hohem Dach. Ein Kreuz an der Straßenecke und eine Christusstatue im Garten weisen auf die katholische Gesinnung der ehemaligen Bewohner hin. Hier soll bald ein Museum, ein Ort der Erinnerung entstehen. Federführend ist einer der Enkelsöhne des Konsuls, António de Moncada Sousa Mendes, der in Schulen und bei Kongressen über das Leben seines Großvaters referiert.
Geplant ist auch ein Denkmal in Form der Unterschrift des „ungehorsamen“ Konsuls. Denn diese Unterschrift bedeutete für Tausende Menschen die Möglichkeit zur Flucht, meint der Architekt Luís de Azevedo Monteiro, der den Entwurf für das Denkmal vorgelegt hat. Noch wird über den Standort diskutiert: Zur Auswahl stehen etwa ein Platz in unmittelbarer Nachbarschaft des Außenministeriums (wo übrigens jenes Buch aufbewahrt wird, in das Sousa Mendes bzw. seine Mitarbeiter jedes Visum eintrugen – bis zu dem Zeitpunkt, als die Anzahl der Flüchtenden zu groß wurde und die Transitvisa sogar auf Papierservietten ausgestellt wurden) oder einer direkt am Hafen, genau dort, wo vor 80 Jahren die Flüchtenden Europa in Richtung Exil verließen, den Blick stets nach vorne gerichtet.

Uli Jürgens arbeitet als Autorin und Journalistin in Wien. 2015 hat sie zu diesem Thema das Buch Ziegensteig ins Paradies bei Mandelbaum Wien veröffentlicht.

Im Text zitierte Literatur:
Elisabeth Freundlich: Die fahrenden Jahre.
Salzburg: Otto Müller 1992.
Alma Mahler-Werfel: Mein Leben.
Frankfurt am Main: S. Fischer 1960.
Friedrich Torberg: Eine tolle, tolle Zeit.
München: Langen Müller 1989.

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