Lockenhaus und seine jüdische Geschichte

Für den bescheidenen Gedenkstein zur Erinnerung an die Schoah- Opfer dieser Gemeinde ist „Mahnmal“ doch ein zu großes Wort. Dennoch sind einige engagierte Menschen im Ort dafür verantwortlich, dass überhaupt etwas an die ehemaligen jüdischen Bewohner hier erinnert.

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© Reinhard Engel

Auf dem Hauptplatz der burgenländischen Marktgemeinde Lockenhaus steht ein Denkmal für die Gefallenen des Orts, derer als Opfer der beiden Weltkriege 1914– 1918 und 1939–1945 namentlich gedacht wird. Das ist nichts Außergewöhnliches, solche Erinnerungsstätten findet man überall in Österreich. Auch das in Lockenhaus ist aus grau-schwarzem Granit, hoch und breit und daher gut sichtbar. Weniger sichtbar und ohne Hinweistafel weit und breit muss man auf das Mahnmal für die Lockenhauser Opfer der Shoah förmlich gestoßen werden oder bewusst danach suchen, falls man darüber Bescheid weiß. Auch ist „Mahnmal“ ein zu großes Wort für das, was man hier vorfindet. Es ist ausschließlich einer privaten Initiative zu verdanken, dass überhaupt noch an die ehemaligen jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner dieses Ortes im mittleren Burgenland gedacht wird.

„Es war ein langer Weg bis zur Enthüllung am 1. November 2008“, erzählt die Musikpädagogin Ruth Patzelt, die sich seit Jahren ehrenamtlich für die jüdische Spurensuche und die daraus resultierende Erinnerungsarbeit engagiert. „Die Erstinitiative des Chorleiters von Musica Sacra Lockenhaus, Wolfgang Horvath, und der Architektin und Künstlerin Barbara Hießmanseder- Horvath war 2005 von offizieller Seite blockiert worden. Auch 2008 gab es wenige Stimmen für und viele Einwände gegen die Errichtung dieses Mahnmals, denn die Frage im Lockenhauser Gemeinderat wie auch in der Bevölkerung lautete immer wieder ‚wozu‘ und ‚warum das alles wieder aufrühren?‘“, so Patzelt, die sich ihr umfangreiches Wissen über das Judentum und die Shoah selbst angeeignet hat, weil diese Themen in ihrer Schulzeit komplett ausgespart worden waren. „Besonders über den Standort für das jüdische Gedenken wurde heftig diskutiert: Einerseits wollte man es nicht so zentral platziert haben, andererseits wohl auch nicht neben dem Kriegerdenkmal.“

„Ich wollte ein Erinnerungszeichen setzen, das nicht in erster Linie vor den Kopf stößt, sondern zum Nachdenken einlädt.“
B. Hießmanseder-
Horvath

Laut APA-Bericht vom 28. Oktober 2008 ging es der bildenden Künstlerin Barbara Hießmanseder-Horvath darum, etwas „[…] Verschwundenes, Fehlendes, Unsichtbares sichtbar zu machen“. Aber leider ist es mit der Sichtbarkeit nicht weit her – und das trotz des lobenswerten Einsatzes von Ruth Patzelt: Denn ganz abgesehen von der straßenseitigen grünen Hecke, die 2022 noch fast alles verdeckte und heuer nur mit Druck auf die Gemeindeverwaltung bis auf etwa 1,50 m gestutzt wurde, steht das unauffällige, niedrige Mahnmal seitlich vor dem Kriegerdenkmal. Dennoch heißt es selbstbewusst in der schriftlichen Broschüre, „[…] in örtlicher Nähe zum ehemaligen jüdischen Bethaus in Lockenhaus, und diesem zugewandt“. Das jüdische Bethaus, ehemals in einem hinteren Zubau des Wohnhauses der Familie Stössel eingerichtet, gibt es nicht mehr – nur noch einige tragende Mauern sind zu identifizieren –, ebenso wenig wie diese Familie. Ein Café mit Konditorei belebt jetzt hier die Hauptstraße.

„Ich wollte ein Erinnerungszeichen setzen, das nicht in erster Linie vor den Kopf stößt, sondern zum Nachdenken einlädt: So erinnern die drei Tafeln auch an die Gesetzestafeln des Moses mit den Zehn Geboten, leicht geneigt wie Karteikarten. Es ist offenbar irgendwann etwas gekippt, und – es fehlt etwas“, erklärt Hießmanseder- Horvath. Die Recherchen vor Entwurfsbeginn haben der Künstlerin gezeigt, dass auch nach 70 Jahren viele historische Tatsachen bezüglich jüdischen Lebens in Lockenhaus verborgen und verschwunden sind. Diesen Umgang mit der gemeindeeigenen Vergangenheit versucht die Künstlerin durch ihr modernes Kunstwerk im öffentlichen Raum symbolisch umzusetzen: Das Denkmal besteht aus einem stählernen Sockel und drei Tafeln aus Rechnitzer Grünschiefer. Die Tafeln dienen auch als Träger des Textes, also vor allem einer Namensliste der Shoah-Opfer.

Bei der Enthüllung 2008 standen elf Namen auf dem Mahnmal, neun Mal Stössel und zwei Mal Süss: der beliebte Gemeindearzt Dr. Alexander Süss und seine Tochter Irene. „Ich hatte das große Glück, dass beide Großmütter sehr offen und viel über unsere Familie, aber auch die Geschichte von Lockenhaus geredet haben, und zwar sowohl über die deutsche Wehrmacht wie auch über die jüdischen Nachbarn. Da kam auch immer wieder der wunderbare jüdische ‚Armenarzt‘ Dr. Süss vor“, erzählt Chorleiter Wolfgang Horvath. Weil ihn besonders die enge Freundschaft seiner katholisch-gläubigen Großmutter Anna Horvath mit ihrer jüdischen Schulfreundin Janka (Johanna) Stössel berührte, begann sich der Enkel, Jahrgang 1966, auch mit den theologischen Verbindungen zwischen dem Christen- und dem Judentum zu beschäftigen. „Janka Stössel und ihrem Familienzweig gelang 1938 die rettende Flucht nach London. Sie kam nur einmal in den 1960er- Jahren nach Lockenhaus und traf meine Großmutter. Das war vor meiner Geburt.“

Aus Anlass der Gedenkfeiern Shalom. Nachbar 2018 wurden zwei weitere Namen von Opfern hinzugefügt: zwei Frauen, beide geborene Blum, die in die Stössel- Familie eingeheiratet hatten. Bis 2023 hat Ruth Patzelt zusätzlich weitere sechs jüdische Menschen identifiziert, die nachweislich im Holocaust getötet wurden: Für diese sechs Einwohner:innen von Lockenhaus fehlt zurzeit noch eine Namensgedenktafel. Erschreckend lesen sich die Namen der vielen Vernichtungslager, in denen diese knapp ein Dutzend Menschen ermordet wurden: Auschwitz, Łodz, Maly Trostinez, Modliborzyce, Theresienstadt, Dachau, Litzmannsstadt/Chelmo, Modliborzyce, Bergen-Belsen, Flossenburg.

Den Anstoß für die Erinnerungsarbeit hat Wolfgang Horvath gegeben, der schon 2003 den Kontakt zur Familie Stössel in London aufgenommen hatte. „Der Enkel von Janka, Marc Silberman, besuchte meine Großmutter 2007 in Lockenhaus, da saß sie bereits im Rollstuhl“, erinnert sich Horvath. Für die Organisation des Gedenkjahres 2018 fanden dann vier ehrenamtlich engagierte Frauen zusammen: Wolfgangs Mutter Gertraud Horvath, die Künstlerin Barbara Hießmanseder-Horvath, die Historikerin Denise Steiger uns die Pädagogin Ruth Patzelt. „Ich möchte die Aufarbeitung dieser Geschichte von beiden Seiten in die Schulen bringen – wegen meiner eigenen schlechten Erfahrung“, sagt die Musikpädagogin, die sich als „Einzelkämpferin“ bezeichnet. „Ich will, dass die Kinder ihrem Alter entsprechend mehr lernen und erfahren, als ich, wir, in der Schule gelernt haben.“ Patzelts jüngste Initiative, die Veranstaltungsreihe MUSIK.GEDENK.SCHULE, widmet sich dem Gedenken an die verschwundene jüdische Kultur im Burgenland und der Erinnerung an vertriebene jüdische Komponist:innen. „In Kooperation mit den Schüler:innen und Pädagog:innen des Gymnasiums und der Handelsakademie in Oberpullendorf findet am 19. Oktober 2023 das Auftaktkonzert Mischpoche Musikal statt, dabei werden u. a. Werke von Walter Arlen, Kurt Weill, Sholom Secunda und Mordechai Gebirtig zu hören sein.“

Von Lockenhaus nach Hollywood. Nur einem Stössel gelang es, eine eigene Erinnerungstafel zu bekommen – und das auch nur, weil es der gebürtige Lockenhauser in die Filmstudios von Hollywood geschafft hat. Aber auch das dauerte lang: Erst 139 Jahre nach seiner Geburt und 49 Jahre nach seinem Tod erinnert seit 2022 eine Gedenktafel an Ludwig Stössel: Diese ist am Haus Hauptstraße 14 angebracht, in dem sich von 1932 bis 1959 ein Tonkino und davor einige Jahre schon ein Stummfilmkino befanden. Sogar die Stadt Salzburg war da schneller: Dort wurden am 17. August 2020 insgesamt 28 Stolpersteine für jüdische Künstler:innen vor dem Haus für Mozart verlegt, darunter auch einer zur Erinnerung an den Schauspieler Ludwig Stössel. Erst zwei Jahre später raffte man sich in Lockenhaus zu dieser späten, kleinen Geste auf.

Ludwig Stössel wurde am 12. Februar 1883 im kleinen Ort Léka, dem heutigen Lockenhaus, damals in der ungarischen Reichshälfte der Donaumonarchie, geboren. Stössels Eltern waren jüdische Kaufleute, die zudem eine kleine Landwirtschaft besaßen. Ludwig hatte einen Bruder, den späteren Maler Oskar Stössel, der mit dem Vater 1892 nach Graz übersiedelte. „Ludwig Stössel und seine Mutter dürften ebenfalls zu dieser Zeit in die steirische Landeshauptstadt umgezogen sein, wo Ludwig die Bürgerschule abschloss und erstmals das Theater besuchte“, schreibt Thomas Ziegler in seiner Diplomarbeit über Stössel.

Nach seinem Schauspieldebüt in Baden- Württemberg 1901 war Stössel hauptsächlich auf Bühnen des deutschsprachigen Raums in komödiantischen Stücken zu sehen. 1925 kam er nach Berlin, wo er bis 1933 an den dortigen Bühnen, u. a. am Deutschen Künstlertheater und an Max Reinhardts Deutschem Theater, auftrat. Ab 1926 übernahm er zudem eine wachsende Zahl von Filmrollen. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 agierte der jüdische Schauspieler ein letztes Mal am Theater am Nollendorfplatz und ging dann nach Wien. Hier arbeitete er am Raimundtheater und ab 1936 am Theater in der Josefstadt. Bei den Salzburger Festspielen verkörperte er den „Teufel“ in Hofmannsthals Jedermann und den „Wagner“ in Goethes Faust, beide in der Regie Max Reinhardts. Rechtzeitig konnte Stössel noch mit seiner Frau Lore Birn über Paris nach London fliehen, wo er in zwei britischen Filmproduktionen mitwirkte. Im Herbst 1939 schaffte es der Burgenländer in die USA, wo er in Hollywood – trotz seiner fast sechzig Jahre – einen erfolgreichen Neustart hinlegte. „Durch seine markante Stimme und den gemütlichen österreichischen Tonfall, den er selbst in der englischen Fremdsprache zum Vorschein bringen konnte, hat Ludwig Stössel ähnlich wie Hans Moser einen enormen Wiedererkennungswert bei seinem Publikum erreicht“, schreibt Thomas Ziegler in seiner Magisterarbeit. Stössel verkörperte in zahlreichen Hollywood-Produktionen meist nette ältere Herren, etwa den Vater von Gary Cooper in Der große Wurf. Besonders populär ist sein kurzer Auftritt als europäischer Emigrant in Casablanca*: In der kurzen Szene entspinnt sich ein Gespräch mit Frau Leuchtag (Ilka Güning) und dem Oberkellner Carl (Szöke Szakall), wo Stössel als „Herr Leuchtag“ seine „Englischkenntnisse“ zum Besten gibt: „Liebchen, sweetnessheart, what watch?“ „Ten watch.“ „Such much!?“

Stössel setzte seine Karriere auch nach Kriegsende in den USA fort und stellte unter anderem 1946 in dem Film The Beginning or the End Albert Einstein dar. 1950 kam er nach Wien und absolvierte ein Gastspiel am Renaissancetheater. 1960 war er im Elvis-Presley-Film Café Europa zum letzten Mal im Kino zu sehen. Gestorben ist der Schauspieler im Jänner 1973 in Beverly Hills. „Dem Vernehmen nach soll seine Asche nach Österreich gebracht worden sein“, sagt der Historiker.

„Das friedliche Neben- und Miteinander währte fast ein Jahrhundert lang.“
Denise Steiger

Wie kamen die Juden nach Lockenhaus? Bereits 1802 werden fünf Juden in Lockenhaus erwähnt, vermutlich eine Familie; danach scheinen bis etwa 1840 keine Juden mehr in Lockenhaus gelebt zu haben. Etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts ließen sich Maier Stössel und Johann Hoffmann aus Lackenbach und Jakob Leitner aus Schlaining in Lockenhaus nieder. Im Jahre 1851 folgte Salomon Kopfstein aus Lackenbach, dessen Vater Simon war seit 1819 als Schutzjude der Esterhazy-Herrschaft in Lackenbach anerkannt. „Salomon wurde infolge eines Zertifikats der Gemeinde Lackenbach und einer Begutachtung des Ödenburger Bezirkskommissariates 1851 in Lockenhaus aufgenommen und eröffnete ein Gemischtwarengeschäft“, schreibt die Historikerin Steiger in der Dorfchronik.

So zogen auch die Großeltern von Ludwig Stössel mit ihren in Lackenbach geborenen Kindern Wolf, Max Mordechai, Zwi und Leopold 1850 nach Lockenhaus. Die Stössels wurden zu einer der größten und einflussreichsten jüdischen Familien im Ort, sie führten ein Stoffgeschäft sowie eine Leder- und Eisenhandlung. Bereits Maier Stössel kaufte das Haus Hauptstraße 21, baute es um und errichtete um 1880 im Hof ein jüdisches Bethaus mit einer Mikwa. An den jüdischen Hauptfesten kamen hier die Juden der ganzen Gegend zusammen. Nach der Vertreibung der Familie Stössel im März 1938 richtete die NSDAP in diesem Haus ihr Parteilokal ein. Der Besitz fiel an die Gemeinde, das Bethaus wurde ausgeplündert und zerstört. Nach dem Krieg kaufte der Zuckerbäckermeister Heiling das ehemalige Stössel-Wohnhaus.

„Das friedliche Neben- und Miteinander währte fast ein Jahrhundert lang, von ca. 1850 bis 1938 lebten jüdische und nicht jüdische Einwohner in Lockenhaus“, schreibt die Historikerin Denise Steiger in der Dokumentation Mensch und Nachbar von 2018. 1892 wohnten rund 30 Juden in der Marktgemeinde, diese Zahl blieb bis 1938 annähernd gleich. Bei einer Einwohnerzahl von rund 1.200 war das ein Anteil von knapp drei Prozent. „Trotz dieser eigentlich geringen Zahl trugen die Juden von Lockenhaus ihren Teil zur Geschichte und zum wirtschaftlichen Leben der Gemeinde bei“, so Steiger. Es herrschte ein reges Geistes- und Kulturleben, aber es gab keinen jüdischen Friedhof in Lockenhaus.** Die Juden begruben ihre Toten auf dem Friedhof in Lackenbach.

Das Beispiel der langjährigen Freundschaft zwischen Anna (Anschi) Horvath und Johanna (Janka) Stössel zeigt, wie eng verwoben Katholiken und Juden in Lockenhaus lebten. „Anna erinnerte sich noch genau, dass Janka manchmal Matzes zum Kosten in die Schule mitbrachte und ihre Jause einmal mit ihr teilte, aber umgekehrt war so etwas nicht möglich“, schreibt Annas Tochter Gertraud Horvath, und weiter: „Die Stössels hielten sich streng an die jüdische Speiseordnung. Koscher war ein Wort, das jeder verstand und dessen Inhalt man respektierte.“

Janka Baron, 1914 geborene Stössel, gelang mit ihrer Familie die Flucht nach England. „Anlässlich der Einweihung der Lockenhauser Orgel schrieb ich 2003 an Janka und ihren Enkel Marc nach London und bat sie, mir etwas in Hebräisch für die Gründungsurkunde zu schicken“, erzählt Wolfgang Horvath. „Da die Musik das verbindende Element zwischen uns war und ist, die Orgel mit Windwerk und Gebläse betrieben wird, und ruach im Hebräischen nicht nur Wind, sondern auch Geist und Spirituelles bedeutet, wollte ich unbedingt den ‚jewish spirit‘ irgendwie einbinden“, so Horvath, der bald darauf Post aus London bekam: Janka Stössel-Baron und Enkel Marc schickten eine winzige Pergamentrolle mit dem hebräischen Text der Mesusa (die ein Haus sowie seine Bewohner schützen und vor Unheil bewahren soll) und zwei handschriftlichen Zeilen auf Papier. Janka war damals 89 Jahre alt, sie starb knapp hundertjährig im Jahr 2012. Doch in der Gründungsurkunde liegt noch immer das Schma Jisrael – und so klingt im Instrument in der Pfarrkirche doch noch die verbannte Spiritualität der jüdischen Einwohner mit.

Jüdisches Leben sucht man an diesem Ort heute vergeblich: Aber trotz all dem sitzen im Rahmen des alljährlichen internationalen Kammermusikfestes großartige Musiker und bewusste Juden, von Gideon Kremer über Laurence Dreyfus bis Sir András Schiff, vor dieser Orgel mit dem verborgenen Schma Jisrael und atmen mit ihrer Violine, ihrer Gambe und ihrem Klavier.



SYNAGOGE KŐSZEG, UNGARN:
EIN POLITISCHES STATEMENT

Weniger als 15 Kilometer beträgt die Strecke zwischen Lockenhaus und dem ungarischen Grenzort Kőszeg (Güns). Daher überrascht es nicht, dass das Kammermusikfest Lockenhaus im Rahmen seiner Programmgestaltung die Besucher und Fans auch zu einem musikalischen Ausflug in das nahegelegene Städtchen verführt. Neu hingegen ist, dass mindestens zwei Konzerte in der ehemaligen Synagoge von Kőszeg stattfinden. Heuer spielte das internationale Fidelio Quartett nicht nur ein Werk von Sándor Kárpáti (1872–1939), sondern auch Giacomo Puccinis (1858–1924) Streichquartett Crisantemi. Aber auch die bildende Kunst wird hier gepflegt: Die in Wien lebende israelische Malerin und Bildhauerin Dvora Barzilai stellte im Sommer 2023 in den Räumlichkeiten der Synagoge ihre Bilder aus.

Die Synagoge von Kőszeg wurde 1858–1859 erbaut, der Komplex umfasste außer dem Gebetsraum und der Mikwa auch die Talmud-Tora-Schule sowie die Wohnung des Rabbiners. Philipp Schey von Koromla, geboren 1798 in Kőszeg, war als Großhändler vermögend geworden, er wurde 1859 als erster aus Ungarn stammender Jude im Habsburgerreich geadelt und 1871 zum Freiherrn erhoben. Er gründete eine Stiftung, aus deren Vermögen die Synagoge von Kőszeg gebaut wurde, und starb 1881 in Baden bei Wien.

Seit dem Mittelalter lebten Juden in Kőszeg, 1420 wurden sie erstmals vertrieben. Eine neue Gemeinde entstand 1509, als aus Böhmen vertriebene Juden hierher kamen. Bereits 1565 mussten auch sie wieder gehen. Im 18. J

Die Synagoge im ungarischen
Kőszeg (Güns) wurde für Besucher:innen farbenprächtig
herausgeputzt. © Reinhard Engel

ahrhundert lebten zwei jüdische Familien in der Stadt, 1819 waren es 82 Juden, darunter ein Rabbiner und zwei Lehrer. Ab 1852 war die jüdische Kultusgemeinde selbstständig.

Mit Beginn der Naziherrschaft wurden die Juden in Kőszeg verfolgt und vertrieben. Noch am 11. Juni 1944 errichtete man ein Ghetto für die letzten 44 Jüdinnen und Juden. Sieben Tage später deportierte man sie in ein Zentralsammellager in Steinamanger/ Szómbathely und von dort am 4. Juli 1944 in das Vernichtungslager Auschwitz. Im November 1944 wurden die Überlebenden des Todesmarsches der Budapester Juden nach Kőszeg gebracht. Sie fielen im März 1945 dem Massaker von Rechnitz zum Opfer.

Die Synagoge verfiel ab 1944 und war bis 1996 im Staatseigentum, danach wurde sie privatisiert. Die Besitzverhältnisse sind eher unklar, das Kulturprogramm wird derzeit vom KRAFT Center – Creative City, Sustainable Region vom dortigen Institute of Advanced Studies (iASK), einem konservativen Thinktank, betrieben. Die Stiftung Sorstalanság, benannt nach dem Roman eines Schicksallosen von Imre Kertész, betreibt die Anlage.

In der ehemaligen Rabbinerwohnung befindet sich ein kleines Museum. Die Synagoge ist im Stil der Neugotik erbaut, die Kuppel weist jedoch eher kitschige Barockbemalung auf, denn die Farben der Renovierung fielen sehr kräftig aus.



DIE EHEMALIGE SYNAGOGE
VON SCHLAINING: WIE MAN ES
RICHTIG MACHT

Wenn man links an der Rezeption des Burghotels Schlaining irrtümlich vorbeigeht und in den Hof tritt, steht man plötzlich und unverhofft vor dem Eingang zur ehemaligen Synagoge der jüdischen Gemeinde Stadtschlaining.

Was man hier entdeckt, ist mehr als beeindruckend, es könnte für so manch andere Sanierung von verfallenen G-tteshäusern beispielgebend sein.

Um 600.000 Euro ließ das Land Burgenland die ehemalige Synagoge aufwendig renovieren und zu einem Gedenkort für eine ehemals traditionsreiche jüdische Gemeinde gestalten.

Neben Rechnitz und Güssing war Schlaining ein wichtiges Zentrum des Judentums im Landessüden: Durch die tolerante Haltung der ungarischen Fürsten Batthyány wuchs die Zahl der Schlaininger Judengemeinde bis 1848 auf 650 Mitglieder an, damals waren das 40 Prozent der Stadtbevölkerung. Mit der Liberalisierung der „Judengesetze“ wanderten viele Juden ab. 1938 wurden schließlich alle im Ort verbliebenen Juden vertrieben und ihr Besitz „arisiert“. Bis in die 1980er-Jahre stand die Synagoge leer, bevor das Gebäude vom Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ASPR) erworben wurde.

Die einstige Synagoge von
Schlaining wurde gefühlvoll und
sensibel wieder nutzbar gemacht. © Reinhard Engel

Im April 2022 wurde diese Gedenkstätte als Ausstellungsort für Spurensuche. Fragmente jüdischen Lebens im Burgenland eröffnet. Die Exponate in den Ausstellungsvitrinen, die optisch einem Davidstern nachempfunden sind, beschreiben jüdisches Leben einst und heute. Beherrscht wird der Raum von einer Installation, die die einstige Inneneinrichtung als Schatten der Erinnerung rekonstruiert. Schwarze Bankreihen mit Pulten, in die Namen und Lebensdaten von Gemeindemitgliedern eingraviert sind. „Nachdem diese Jüdinnen und Juden keinen Grabstein haben, keine Gedenkstätte und das im Judentum aber sehr wichtig ist, haben wir die Namen nach Schlaining zurückgebracht und gedenken so der einzelnen Personen“, erläutert Ausstellungsgestalter Christof Cremer das Konzept der Schau.

„Von den rund 40 Namen, die wir hier mit dem DÖW, Yad Vashem und der Burgenländischen Forschungsgemeinschaft zusammengetragen haben, konnten wir als Vernichtungsorte außer Auschwitz, Treblinka und Maly Trostinez auch die KZs Jasenovac, Mauthausen, Theresienstadt, Dachau und die Ghettos in Riga und Kowno zusammentragen“, berichtet der Masterstudent Günther Wukits, der die Synagoge beaufsichtigt, während er seine Diplomarbeit über Holocaustleugnung schreibt.

Wie können jüdisches Leben und Judentum dargestellt werden? Was macht einen Menschen, seine Umgebung und sein Leben jüdisch? Diese wichtigen Fragen werden auf den Schautafeln der Ausstellung gestellt und auch befriedigend beantwortet. „Durch die ausgestellten Objekte und Texte soll jüdisches Leben präsentiert und nähergebracht werden. Im Zentrum der Ausstellung stehen vor allem aber die Menschen: Es sind übernommene Erzählungen, Gegenstände, Kleidungsstücke, Traditionen, Familien und Familiengeschichten, die einen Einblick in das Leben der damaligen Zeit gewähren“, fasst es Christof Cremer zusammen.



*„Casablanca“ ist ein US-amerikanischer Liebesfilm von Michael Curtiz (geb. 1886 in Budapest als Manó Kaminer, seit 1905 Mihály Kertész, gest. 1962 in Hollywood) aus dem Jahr 1942. „Casablanca“ war aber auch ein Antikriegsfilm, ein politisches Statement Hollywoods gegen das nationalsozialistische Deutschland. Außer den Hauptdarstellern Humphrey Bogart und Ingrid Bergman waren Drehbuchautoren, Produzenten und Schauspieler jüdische oder politische Flüchtlinge.

** Lockenhaus ist heute eine Marktgemeinde mit 2.017 Einwohner:innen im Bezirk Oberpullendorf. Der Ort gehörte nicht zu den „Shewa Kehillot“: Die Gründung der „Sieben (heiligen) jüdischen Gemeinden“ Deutschkreutz, Eisenstadt, Frauenkirchen, Kittsee, Kobersdorf, Lackenbach und Mattersburg erfolgte nach der Ausweisung der Juden aus Wien im Jahr 1670/71. Sie entwickelten sich zu bedeutenden jüdisch-orthodoxen Gemeinden Europas. Im Süden des Burgenlandes entstanden jüdische Gemeinden in Schlaining, Rechnitz und Güssing.

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