Mastermind des New York City Marathons

Fischel Leibowitz alias Fred Lebow: die Geschichte eines Jungen, der unfreiwillig heimatlos wurde und sich den „amerikanischen Traum“ verwirklichte.

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Run for your life – die Geschichte des Fred Lebow der 1992 schwer von seiner Krankheit gezeichnet seinen letzten Marathon lief. Zwei Jahre später erlag Fred seiner Krebserkrankung.* © AP / picturedesk.com

Tom, ein lieber Freund, verabschiedete sich auf eine Woche nach New York, er hatte sich dort, nicht zum ersten Mal, zum NYC-Marathon angemeldet. „Nach dem Lauf belohne ich mich mit herrlichem jüdischen Essen bei Katz’s Delicatessen, Yonah Schimmel’s Kosher Knish, Ess-a-bagel und Sammy’s Romanian Grill“, frohlockte er. „Apropos, kennst du Fischel Leibowitz?“, fragte er unvermutet. „In den USA kennt man ihn als Fred Lebow, er hatte überhaupt die Idee für den MarathonLauf, organisierte ihn von 1970 bis zu seinem Tod im November 1994. Fred war außerdem eine faszinierende Persönlichkeit mit vielen Talenten: Er war ein unterhaltsamer Charmeur, Womanizer, Geschäftsmann, PR-Genie und Lauffanatiker.“

Die Neugier war geweckt: Wer war Ephraim Fischel Lebowitz wirklich? 2022 hätte er seinen 90. Geburtstag feiern können, denn er wurde 1932 in Arad, Rumänien, in eine orthodoxe jüdische Familie geboren. Er war das sechste von sieben Kindern und musste mit seiner Familie erleben, dass in Rumänien ab 1937 nicht nur der Antisemitismus offen zur Staatspolitik erklärt wurde, sondern ab 1940 unter dem rumänischen Diktator Ion Antonescu gemeinsam mit dem NS-Regime rund 350.000 Juden getötet wurden. „Als wir die Shoah überlebten hatten, kamen die Kommunisten an die Macht. 1946 wollten die Eltern uns drei, Fischel, Mike und mich, über Holland nach Israel schicken. Vorerst landeten wir aber ganz allein im Alter von acht bis vierzehn in der Tschechoslowakei“, erzählt Sarah Katz-Lebowitz, die streng religiöse Schwester, die Scheitel (Perücke) trägt, in der Dokumentation Run for Your Life über Lebows Leben.

Nach einer Odyssee durch halb Europa kamen die drei Geschwister 1949 in New York City an. Mit 17 Jahren hielt sich Fischel Lebowitz mit Gelegenheitsjobs über Wasser, bis er seine erste Geschäftsidee in der Textilbranche erfolgreich verwirklichte. Als junger Charmeur gelang es ihm, über mehrere Freundinnen zu hochklassigen und exklusiven Modeschauen Zutritt zu erlangen. Dort skizzierte oder, besser gesagt, kopierte er teure Kleider und produzierte diese als leistbare Mode. Gleichzeitig amerikanisierte er auch seinen Namen.

Als unruhiger Geist suchte er im Sport einen Ausgleich zu seiner immer eintöniger werdenden Arbeit. Sein damaliger Lieblingssport war Tennis, deshalb lief er seine Trainingsrunden im New Yorker Central Park. So entdeckte er seine Begeisterung für den Langstreckenlauf und trat Ende der 1960er-Jahre dem New York Road Runners Club bei. Bereits am 13. September 1970 organisierte er den allerersten New York City Marathon, der damals auf einer Rundstrecke (vier Runden) im Central Park durchgeführt wurde. „Das war eine ziemlich bescheidene Sache, nur 127 Teilnehmer, von denen lediglich 55 das Ziel erreichten“, erinnert sich Kathrine Switzer, eine Läuferin und Mitstreiterin Lebows. „An heutigen Standards gemessen, war das noch ziemlich unorganisiert: Radfahrer und Fußgänger durchquerten die Reihen der Amateursportler“, schreibt George A. Hirsch in der Einleitung zu seinem Buch New York City Marathon: 50 Years Running (Skyhorse Publishing).

Der Marathonman läuft 1992 (o.)das letzte Mal durch die Ziellinie des NYC Marathon 1981. Filmstill aus Run for Your Life. (Foto: Paul J. Satton /Duomo/ PCN)

„Die Presse ignorierte uns noch, es gab weder Trinkwasser noch passende Laufbekleidung, wir sahen aus, als liefen wir in unserer Unterwäsche“, lacht Switzer. Das sollte sich aber schnell ändern, denn das Verkaufsgenie Lebow ersann eine gute PRAktion nach der anderen. Zu den Nachtklubs, die der lebenslange Junggeselle gerne besuchte, zählte natürlich auch das Playboy: Dort überredete er eine Reihe von jungen „Bunnies“ (schwarz-weiß gekleidete „Hasen“), beim Lauf mitzumachen. Plötzlich war die gesamte New Yorker Presse da, die Publicity-Maschinerie begann zu laufen. Viele Mütter brachten Essen und Getränke an die Ziellinie. „Fischels Lieblingsgericht waren meine Latkes (Erdäpfelpuffer), und die habe ich ihm immer nach dem Lauf gebraten“, erinnert sich Schwester Sarah. Dennoch kam erst 1976 richtig Bewegung in den New York City Marathon. George Spitz, Politiker und Läufer, wollte das Zweihundertjahrjubiläum der USA unbedingt mit einem Marathonlauf durch alle fünf Verwaltungsbezirke New Yorks veranstalten – Staten Island, Brooklyn, Queens, The Bronx und Manhattan. Er kam mit der Idee zu Lebow, der zuerst zögerte: „So ein Lauf kostet sicher $ 15,000, woher sollen wir so viel Geld nehmen?“ Aber Spitz war genau so beharrlich wie Lebow, ließ seine Beziehungen spielen und stellte sogar $ 25,000 auf.

Der erste Marathon durch alle fünf New Yorker Stadtbezirke mit 1.549 Teilnehmern und Läuferinnen, darunter auch der zweimalige Olympiasieger Frank Shorter, konnte zwar stattfinden, war aber anfangs umstritten, da damals einige der zu durchlaufenden Stadtteile wegen der hohen Kriminalität als gefährlich galten. Trotz aller Befürchtungen – auch vom damaligen Bürgermeister Ed Koch – kam es zu keinen negativen Vorfällen. Im Gegenteil: Die Bewohner sanierten teilweise die Strecke in der verwahrlosten Nachbarschaft, um gut da zu stehen, denn inzwischen waren auch die Medien voll auf den Marathon abgefahren. Die Streckenführung wurde auch in den folgenden Jahren beibehalten.

© AP / picturedesk.com

„Du kannst mich jetzt Fischel Lebowitz rufen, ich möchte nicht mit einem fremden Namen sterben.“
Fred Lebow kurz vor seinem Tod, 1994

 

Mit dem Erfolg des Marathons verlor Fred Lebow auch das Interesse an der Textilbran che und verließ diese. Als umtriebiger Vorsitzender der New York Road Runners und Renndirektor des Marathons nahm er 1970 und 1971 noch selbst teil, danach war die Belastung durch die Organisation des Laufs zu groß. „Er war besessen vom Laufen und der Arbeit für den Marathon selbst – deshalb fand er auch keine Frau“, befindet Schwester Sarah, die auch überzeugt ist, dass ihr Bruder der Erste war, der zum Abendanzug Sneakers getragen hat.

Um die Aufmerksamkeit für den einmal jährlich stattfindenden NYC-Marathon nicht abflachen zu lassen, dachte er sich mehrere Lauf-Events für das ganze Jahr aus: So kam es zum beliebten New Year’s Run, der Mile on Fifth Avenue zum Empire State Building oder dem ersten rein weiblichen Rennen, dem Mini 10 km in New York. Zu den originellsten Ideen gehörten etwa der Annual Bagel Run mit Cream Cheese und Lox (Lachs) oder die beliebte riesige Pasta-Party in einem Zelt. In einem Werbe-Jingle für den Marathon, den Lebow produzieren ließ, sang man Folgendes: „Nach dem Marathonlauf ist auch der Sex besser.“ Zwei Ergebnisse würden Lebow auch heute erfreuen: Im Jahr 2019 wurde mit über 53.600 Marathon-Zieleinläufern ein neuer Weltrekord aufgestellt. Im Jahr 2022 gingen für die Lotterieplätze 84.000 Bewerbungen ein, unter den 50.000 glücklichen Läufern war auch Tom.

Lebows letzte Reise. Fischel, der Junge aus dem transsilvanischen Arad, der ab seinem 14. Lebensjahr kein richtiges Zuhause mehr hatte, erwählte sich stattdessen eine große Lauffamilie. Fred Lebow machte aber nicht nur den New York Marathon bekannt, sondern half auch bei der Erstellung von Marathons in Chicago, Los Angeles, Peking und London. Im Laufe seiner Karriere produzierte er 69 Marathons in 30 Ländern und lief seinen letzten Marathon in New York am 1. November 1992, um seinen 60. Geburtstag zu feiern, nachdem er drei Jahre zuvor die Diagnose Gehirntumor erhalten hatte. Sein Road Runners Club war nicht begeistert, war doch der legendäre Rennleiter stark abgemagert und schwer von der Krankheit gezeichnet – man befürchtete einen Image-Schaden. Aber Lebow ließ sich nicht abbringen und „rannte“ gemeinsam mit seiner Freundin, Grete Waitz, der norwegischen neunmaligen NewYork-Marathon-Siegerin, das 42,195 km Rennen in einer Zeit von 5:32:35.** „Freds ‚Reise‘ an diesem Tag mit den ihm zujubelnden tausenden Menschen auf den Straßen bleibt der emotionale Höhepunkt in den ersten fünfzig Jahren des NYC-Marathons“, konstatiert Grete Waitz. Am 9. Oktober 1994, vier Wochen vor dem Marathon, starb er. Der Gedenkgottesdienst an der Ziellinie des New York City Marathons zog mehr als 3.000 Trauernde an, damals die größte Trauerkundgebung im Central Park seit dem Tod von John Lennon. Eine enge Freundin Lebows erinnert sich, was er ihr ein paar Wochen vor seinem Tod sagte: „Du kannst mich jetzt Fischel Lebowitz rufen, ich möchte nicht mit einem fremden Namen sterben.“

* Fred Lebow war Mitbegründer der Organisation Fred’s Team. Sie sammelt bei verschiedenen Lauf-Events Geld für die Krebsforschung sammeln. www.fredsteam.org

** Der Streckenrekord für Männer beträgt 2:05:06 (2011), für Frauen 2:22:31 (2003).

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