Meine Großeltern, die Nazis

Der Zweite Weltkrieg ist lange vorbei. Und doch wirkt er immer noch nach. Nun ist es vermehrt die Enkelgeneration, die nachfragt – auch in den sogenannten Täterfamilien. Ein schwieriges und schmerzliches Unterfangen, dem ich in meiner neuen Fernsehdokumentation nachspüre.

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Günter Kaindstorfer. Sein Großvater Anton Kaindlstorfer war Direktor der Sparkasse und NSDAP-Ortsgruppenleiter in Bad Ischl. © Nik Suchentrun

Wie werden Familiengeschichten mit nationalsozialistischem Hintergrund weitererzählt? Was wird betont und was wird ausgelassen? Und inwiefern verändert eine Aufarbeitung die Enkelkinder? Für meine aktuelle Dokumentation habe ich vier Protagonist:innen gesucht und gefunden, die mir erzählen, was sie über ihre Großväter und Großmütter herausgefunden haben. Bettina Henkel lehrt an der Akademie der bildenden Künste, sie hat die Suche nach ihren Wurzeln zu einer Art Road-Movie verarbeitet. Den Software-Entwickler Jürgen Schmidt hat die Aufarbeitung seiner Familiengeschichte radikal politisiert und, sagt er, zu einem besseren Menschen gemacht. Spannend ist auch die Geschichte des Journalisten und Schriftstellers Günter Kaindlstorfer, die in Bad Ischl spielt. Und der Medienkünstler Friedemann Derschmidt hat unfassbar viel Material geerbt und ist zum Chronisten seiner Familiengeschichte geworden. In den Vorgesprächen und Interviews werden mir vier – man könnte sagen „typisch österreichische“ – Geschichten erzählt. Geschichten vom Schweigen und vom Verdrängen, Geschichten von Opfern und Helden, aber auch Geschichten von Reue und Versöhnung. Ich bin selbst die Enkelin eines SS-Offiziers, der den Krieg nicht überlebt hat, und erforsche meine Familiengeschichte. In vielen Antworten meiner Gesprächspartner:innen finde ich mich wieder. Sie sind, wie ich, meist angewiesen auf Archive – denn die beforschten Familienmitglieder sind bereits tot und können nicht mehr persönlich befragt werden. Eltern, Onkel oder Tanten haben sich ihre Erinnerung zurechtgelegt, geradegebogen, umgeschrieben. Es sind Erzählungen aus zweiter Hand. Auf Dachböden oder in Kellern gibt es manchmal Zufallsfunde: Dokumente, Fotos und diverse Objekte, die das Familiennarrativ auf den Kopf stellen und die Enkelkinder herausfordern.

Feldpost des Großvaters von Bettina Henkel. © Uli Jürgens
DIE DOKUMENTATION
Meine Großeltern, die Nazis (45 Minuten, Ko-Produktion Trilight Entertainment und ORF III) ist am 8. Mai im Hauptabendprogramm von ORF III zu sehen. Am 27. April findet eine Vorpremiere im Haus der Geschichte Österreichs statt. Eine Anmeldung unter hdgö.at ist notwendig.

Beim Besuch bei Friedemann Derschmidt überrascht mein Team und mich vor allem die Menge an „NS-Zeug“, das sich im Lauf der Jahre in der Wohnung des Künstlers angesammelt hat. „Meine Vorfahren waren so von der historischen Mission überzeugt, die haben nichts weggeschmissen, keine Ahnenpässe, keine Mutterkreuze, keine Parteiabzeichen. Man könnte es ja noch mal brauchen“, sagt er und öffnet einen Koffer, prall gefüllt mit verschiedensten Ansteckern und kleinen Spielzeugen. Diese Objekte bekam man, wenn man für das Winterhilfswerk spendete. Jeden Tag eine neue Überraschung: Minimärchenbücher, kleine Keramikvögel, Verkehrszeichen und vieles mehr. Dazwischen Führer-Huldigungen und NS-Slogans. Friedemann Derschmidts jüngster Onkel habe ihm erzählt, dass es in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren etwas ganz Besonderes gewesen sei, wenn die Großmutter den Koffer hervorholte und die Kinder mit den Objekten spielen durften. Friedemann Derschmidt verwendet immer wieder Teile seiner familiengeschichtlichen Forschung in seinen Kunstprojekten. Dreh- und Angelpunkt ist meist der Urgroßvater, ein Anhänger der Eugenik, der seine eigene Familie für die Ahnentafel biometrisch abfotografierte: einmal von vorn, einmal im Halbprofil, einmal im Profil. Mit seiner Forschung führe er das Projekt des Urgroßvaters auf absurde Art weiter, sagt Friedemann Derschmidt: „Dadurch, dass ich angefangen habe, mich damit auseinanderzusetzen, war ich ganz pragmatisch gezwungen, einen Stammbaum zu zeichnen, um zu wissen, wer ist wer. Das bedeutet, dass ich dieses Projekt quasi dekonstruiere, aber natürlich in einer paradoxen Weise auch fortführe.“

 

„[…] dann müssen wir nicht eine Schuldfrage
stellen, sondern eine Verantwortungsfrage.“
Jürgen Schmidt

 

Außendreh in Bad Ischl. Hier wurde Günter Kaindlstorfer geboren, aufgewachsen ist er in Wels. Seit einigen Jahren pendelt er mit dem Zug zwischen Wien und dem Salzkammergut, besitzt eine kleine Wohnung in Ischl, wo Radiosendungen und Fernsehbeiträge entstehen und er unter dem Pseudonym Günter Wels Bücher schreibt. Bad Ischl sei seine Herzensgegend, sagt er später im Interview: „Hier sieht man wie in einem Brennspiegel all das, was Österreich ausmacht, im Guten wie im Schlechten. Es ist eine landschaftlich unglaublich schöne Region, es sind freundliche, lebenslustige, hart arbeitende Menschen. Es gibt aber auch eine widerständige Tradition, die aus der Selbstorganisation der Salinenarbeiter und Bergwerksleute kommt. Das gefällt mir.“ Bad Ischl, die „Kaiserstadt“, mit ihrer vor allem in den 1920erJahren stark jüdisch geprägten Sommerfrische, ist immer noch ein Touristenmagnet. An unserem Drehtag ist es zwar kalt, aber die Sonne scheint und die Berge sind angezuckert. Von der Kamera verfolgt, spaziere ich mit Günter Kaindlstorfer an der Kirche vorbei in die Pfarrgasse. Sein Großvater Anton Kaindlstorfer war rund um das Jahr 1938 Direktor der Sparkasse und NSDAP-Ortsgruppenleiter in Bad Ischl. Arisierungen jüdischer Villen und Geschäfte gingen über seinen Schreibtisch – nicht alles, aber doch einiges davon ist belegt, sagt Günter Kaindlstorfer. Unser Gespräch vor den ehemals jüdischen Geschäften – wo Galanteriewaren und Wanderartikel verkauft wurden – wird vom Kameramann aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen, immer wieder erzählt mir Günter Kaindlstorfer die gleiche Geschichte. Eine eigenartige Situation, denn eigentlich müssen wir fast lachen bei den vielen Wiederholungen. In Wirklichkeit sind diese Geschichten zum Weinen.

Friedemann Derschmidt. „Meine Vorfahren […] haben nichts weggeschmissen, keine Ahnenpässe, keine Mutterkreuze, keine Parteiabzeichen. Man könnte es ja noch mal brauchen.“ © Nik Suchentrun

Zum Weinen war auch Bettina Henkels Vater Helge auf ihrer gemeinsamen Reise in die Vergangenheit. Die Vorfahren waren Deutschbalten, die von Riga ins besetzte Polen umgesiedelt wurden. Bei ihren Nachforschungen setzten sich Vater und Tochter emotional fordernden Situationen aus. Sie suchten nach Spuren der Großmutter, die auf Fotos eigenartig traurig aussieht, und des Großvaters, der wohl an Kriegsverbrechen im Partisanenkampf beteiligt war. Entstanden ist dabei der überaus berührende Film Kinder unter Deck. Mich interessiert im Interview für meine Dokumentation vor allem, welche Gefühle die Reise bei den beiden ausgelöst hat. Eine Szene zeigt Vater und Tochter in einem Wald, sie stehen vor moosbewachsenen Gräbern, legen Blumen ab, zünden Kerzen an. Helge Henkel wird von seinen Emotionen überwältigt, er weint. Seine Tochter steht neben ihm. Ihr Vater sei sehr ehrlich mit seinen Gefühlen umgegangen, habe sich ihr und dem Kinopublikum auf sehr sensible Weise geöffnet, sagt Bettina Henkel. Und ihr selbst sei im Zusammenhang mit der Szene bei den Gräbern erst bei der Sichtung des Materials aufgefallen, dass sie sich dort überaus erleichtert fühlte: „Ich habe mich noch einmal hineinfühlen müssen und verstanden, dass in dem Moment, wo der Vater trauert, ich nicht mehr trauern muss. Ich muss das nicht. Endlich ist diese Trauer an dem Ort, wo sie sein soll.“

Bettina Henkel. „[…] verstanden, dass in dem Moment, wo der Vater trauert, ich nicht mehr trauern muss.“ © Nik Suchentrun

Als wir an unserem letzten Drehtag Jürgen Schmidt besuchen, ist es draußen stürmisch. Der Wind heult in den noch blätterlosen Bäumen, ab und zu zieht ein leichter Nieselregen vorüber. Doch drinnen, in Jürgen Schmidts Wohnzimmer, geht es um etwas ganz anderes, das kräftig durcheinandergewirbelt wurde, nämlich seine Familie. Seine Kindheit und Jugend verbrachte Jürgen Schmidt in Herrnbaumgarten, nahe der tschechischen Grenze. Die Eltern wählten Volkspartei, er selbst war Mitglied der Jungen ÖVP. Als ans Licht kam, dass der Großvater an Menschentransporten aus Griechenland beteiligt war, dass die Großmutter jahrelang gelogen hatte, dass die kleine jüdische Gemeinde Herrnbaumgartens bereits vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in vorauseilendem Gehorsam von der Dorfbevölkerung vertrieben wurde und Jürgens Schmidts Vater von all diesen Dingen nichts wissen wollte, hielt den jungen Jürgen Schmidt nichts mehr im nördlichen Weinviertel. Es folgte ein radikaler Gesinnungswandel, Mitarbeit bei antifaschistischen und antirassistischen Initiativen. Heute ist Jürgen Schmidt mit sich im Reinen, auch mit dem Vater kam es zur Versöhnung. Im Interview sagt er: „Wenn wir das aufarbeiten und überwinden wollen, dann müssen wir nicht eine Schuldfrage stellen, sondern eine Verantwortungsfrage. Wir haben die Verantwortung, dass diese Dinge ans Tageslicht kommen. Wir haben kein Recht darauf, sie zu verheimlichen.“ Schön wäre, wenn in Herrnbaumgarten irgendetwas an die vertriebenen jüdischen Familien erinnern würde, meint Jürgen Schmidt. Die neuerliche Auseinandersetzung mit seiner Familiengeschichte im Zuge meiner Dokumentation habe in ihm den Wunsch reifen lassen, endlich die Initiative zu ergreifen.

Jürgen Schmidt. „Wir haben die Verantwortung, dass diese Dinge ans Tageslicht kommen. Wir haben kein Recht darauf, sie zu verheimlichen.“ © Nik Suchentrun

Enkelkinder beschäftigen sich aus verschiedenen Gründen mit der Vergangenheit. Viele wollen ihre – geliebten – Großeltern entlasten, suchen nach Widerständigkeit. Oft finden sie aber Verstörendes, Trauriges, Schmerzhaftes. Hören von „anständigen“ Nazis oder vom Großvater, der „nur seine Pflicht“ getan habe. Und in vielen Fällen bestätigen sich Ahnungen, Andeutungen und Irritationen. Bei der Sichtung des ORF-Archivmaterials stoße ich auf eine Sendung zur Ausstellung Verbrechen der Wehrmacht Ende der 1990erJahre. Und dann geht plötzlich jemand durch das Bild – eine junge Frau, blonde Haare, eine Art Wanderrucksack, der Gang kommt mir bekannt vor. Ich stutze: Bin das wirklich ich? Also mein damaliges Ich beim Besuch der Wehrmachtsausstellung? Gut möglich. Da bin ich nun also, mittendrin in meiner eigenen Dokumentation. Meine eigene Familiengeschichte muss trotzdem noch warten, zu viele andere Projekte sind zuerst zu erledigen. Auch wenn wir Enkelkinder im Hier und Jetzt unsere Leben leben – wir sind mit der Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges noch lange nicht fertig.

Uli Jürgens lebt und arbeitet in Wien. Seit 2015 gestaltet sie zeitgeschichtliche Fernsehdokumentationen, bisher beschäftigte sie sich mit der Opferseite, nun erstmals mit den Täter:innen.

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