Da ist eine ganze Nation auf der anderen Seite, die auf dich wartet

Israel rechnet mit einer enormen Einwanderungswelle aus der Ukraine und ist bereit, jedem jüdischen Flüchtling ein Zuhause zu bieten. Wie viele nicht jüdische Ukrainer zusätzlich aufgenommen werden können, wird noch diskutiert.

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Jüdische Ukrainer auf der Flucht aus dem Kriegsgebiet bei ihrer Ankunft am Ben Gurion Airport bei Tel Aviv. © Yossi Zeliger/Flash90

Anfang März trafen auch in Israel die ersten Flüchtlinge ein, die über Moldawien, Polen und Rumänien aus der Ukraine geschleust worden waren. Die erschöpften Passagiere, unter ihnen hundert Kinder aus einem jüdischen Waisenhaus in Schytomyr in der Nord-Ukraine, wurden mit rotem Teppich, israelischen Flaggen und Applaus auf der Landebahn begrüßt. Sie waren die Vorboten eines immer mehr anschwellenden Menschenstroms aus dem Krisengebiet. Die Regierung hat bereits Maßnahmen für die Aufnahme und Eingliederung von bis zu 100.000 Neueinwanderer geplant, wobei auch viele Juden aus Russland, die sich in der momentanen Situation nicht mehr sicher fühlen, um Visa ansuchen. Die berüchtigte Bürokratie der israelischen Einwanderungsbehörde soll mit Rücksicht auf die Lage auf ein Minimum beschränkt werden.

Flora war unter den Ersten, die nach einer abenteuerlichen Odyssee auf dem BenGurion-Flughafen landeten. Sie konnte mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus Kiew flüchten und wurde im Städtchen Nof HaGalil im israelischen Norden untergebracht. Während sie im Speisesaal des mit Flüchtlingen vollgepackten Plaza-Hotels ihre zwei Wochen alte Tochter füttert, beschreibt sie ihre Erlebnisse der vergangenen Wochen: „Als ich aus der Geburtsklinik zurück nachhause gekommen bin, ging es mit dem Baby direkt in den Luftschutzkeller. Es war entsetzlich kalt dort unten, und ich rief unseren Rabbi an und bat ihn um Hilfe. Er hat dann einen Wagen organisiert, der uns und andere Ukrainer an die Grenze von Moldawien gebracht hat. Wir wussten nicht, was uns erwartet und wohin es geht.“ Ihre Erzählung klingt wie ein Thriller: An der Grenze wartete ein anderer Wagen, und sie wurden über Nacht in einer Kolonne von Mini-Vans nach Kishinov gebracht. Von dort ging der Flug dann weiter nach Israel.

In Nof Hagalil in Galiläa, wo etwa die Hälfte der 50.000 Einwohner russischsprachig sind, ist man auf Einwanderer eingestellt. „Die Leute hier sind großartig, es ist wie in einer großen Familie, sie helfen uns mit allem, von Windeln bis zu Kleidung und Spielsachen – wir haben hier wirklich alles, was wir brauchen“, schwärmt Flora.

„Wir laden die ukrainischen Einwanderer ein, in unsere Stadt zu kommen.
Wir werden so viele aufnehmen, wie wir
nur können.“

Ronen Plot, Bürgermeister von Nof HaGalil

Ihr sechsjähriger Sohn ist traumatisiert. Er erschrickt bei jeder Sirene, hat Albträume und traut sich nicht alleine zur Toilette. Aber er und seine beiden größeren Geschwister waren sofort am Tag nach der Ankunft in der Schule, die ausgebildete medizinische Assistentin hat schon einen Arbeitsplatz und eine Wohnung für ihre Familie in Aussicht. Um Therapie für ihre Kinder will sie sich kümmern, sobald sie sich etwas eingelebt haben.

„Wir laden die ukrainischen Einwanderer ein, in unsere Stadt zu kommen“, bewirbt der Bürgermeister von Nof HaGalil, der selbst vor 50 Jahren aus Odessa kam, seine Stadt auf Facebook. „Wir werden so viele aufnehmen, wie wir nur können.“ Tatsächlich lebt man in Israel seit jeher mit großen Einwanderungswellen. In den ersten Jahren nach der Staatsgründung verdoppelte sich die Zahl der Einwohner aufgrund des Stroms der Immigranten aus Europa und Nordafrika. Der bei Weitem größte Schub kam nach dem Zerfall der Sowjetunion – damals absorbierte der jüdische Staat innerhalb kürzester Zeit über eine Million Menschen. Israels „Law of return“, das Rückkehrrecht der Juden in ihre biblische Heimat, gibt jeder und jedem mit zumindest einem jüdischen Eltern- oder Großelternteil das Recht auf die israelische Staatsbürgerschaft.

Doch während jüdische Einwanderer die Gewissheit haben, in Israel einen sicheren Hafen zu finden, ringt man noch um eine Formel für die Aufnahme von nicht jüdischen Ukrainern. Außenminister Yair Lapid trat für eine Ausweiterung der Flüchtlingspolitik ein und betonte: „Wir werden unsere Tore und unsere Herzen nicht vor Menschen schließen, die alles verloren haben.“ Innenministerin Ayelet Schaked dagegen wurde in Jerusalem von entrüsteten Demonstranten ausgebuht, weil sie zu Anfang strenge Quoten für nicht jüdische VisaAnwärter aufstellte: Zu den 20.000 bereits in Israel verweilenden Ukrainern sollten noch weitere fünfbis sechstausend eingelassen werden. Sie rechtfertigte dies mit dem enormen Ausmaß der zu erwartenden Welle an jüdischen Flüchtlingen: „Obwohl mich alle attackieren, vergesse ich nicht, dass Israel vor allem die Heimat des jüdischen Volkes ist, und wir werden alle unsere Bemühungen für diejenigen einsetzen, die nach den Kriterien des Rückkehrgesetzes zur Immigration qualifiziert sind.“ Inzwischen erhalten auch Ukrainer, die einen Verwandten in Israel haben, ein Einreisevisum nach Israel. An einem separaten Abkommen für ukrainische Flüchtlinge, die keine Familie hier haben, wird noch gefeilt.

Gastfamilien organisieren. Tatsächlich muss wohl kaum ein Land mit so einem dichten Strom an Immigranten zurechtkommen wie Israel. Die zuständigen Behörden arbeiten im Rahmen der Operation „Israel garantiert“ intensiv an der Schaffung zusätzlicher Wohnungen sowie Schul- und Arbeitsplätze für Einwanderer. Darüber hinaus müssen die Ankommenden medizinisch versorgt und krankenversichert werden. Und an den Grenzen zu Ukraine arbeiten Angestellte der Jewish Agency und Freiwillige von Hilfsorganisationen wie Zaka und United Hazalah unermüdlich daran, die ankommenden Juden mit erster Hilfe und Medikamenten, Lebensmitteln und sanitären Produkten zu versorgen und ihnen bei Visa-Prozeduren und der Beschaffung von Flugtickets nach Israel behilflich zu sein. Jede Neueinwandererfamilie erhält 3.000 Schekel vom Staat, einen weiteren Betrag als Flüchtlingshilfe und oft noch ein monatliches Stipendium. Außerdem werden Gastfamilien organisiert, die die Neuankömmlinge zum bevorstehenden Pessach-Fest aufnehmen können.

Der Politiker, Autor und einstige Refusnik Nathan Sharansky brachte die Situation auf den Punkt, als er sich kürzlich bei einer Rede an sein Leben in der ehemaligen Sowjetunion erinnerte: „Die tausenden Menschen, die flüchten wollen, warten Tag und Nacht an der ukrainischen Grenze, und es gibt nur ein Wort, das ihnen helfen kann: ,Jude‘. Wenn du Jude bist, dann […] ist da jemand auf der anderen Seite der Grenze, der dich sucht. Deine Chancen rauszukommen sind exzellent […]. Als ich ein Kind [in der Sowjetunion] war, war ,Jude‘ eine unglückliche Bezeichnung, niemand hat uns beneidet. Aber heute, an der ukrainischen Grenze, bezeichnet ,Jude‘ diejenigen, die einen Platz, eine Familie, eine ganze Nation haben, die auf der anderen Seite auf sie warten.“

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