Das jüngste Kind aus Odessa war bei seiner Flucht 37 Tage alt. Es wurde von seiner Mutter im Chabad-Waisenhaus der Stadt abgegeben, um seine Überlebenschance zu erhöhen: Die Eltern des Neugeborenen blieben in Odessa zurück, um ihrerseits die Großeltern zu versorgen. Das Baby absolvierte seine erste Reise, die unter normalen Umständen drei Stunden gedauert hätte, von sieben Uhr abends bis fünf Uhr früh. Gemeinsam mit weiteren hundert Kindern schaffte es die abenteuerliche und gefährliche Reise von Odessa ins rettende Chișinău, die Hauptstadt Moldawiens. In einer spontan organisierten Hilfsaktion wurden diese jüdischen Kinder aus der Stadt geschmuggelt: Mehr als 40 von ihnen hatten keinerlei Dokumente, die meisten nicht einmal eine Geburtsurkunde. Die örtliche Chabad-Organisation wurde bei der Planung und Durchführung von der IFCJ-International Fellowship of Christians and Jews tatkräftig unterstützt.* „Wir sind schon seit dreißig Jahren in der Ukraine aktiv, um Bedürftigen zu helfen“, erzählt Yael Eckstein, Tochter des Gründers und Mutter von vier Kindern. „Daher konnten wir schnell und effektiv Hilfe leisten.“ Auch der 16-jährige Sascha ist mitgefahren, aber mit schlechtem Gewissen: „Meine Mutter ist in Odessa geblieben, weil mein fünfjähriger Bruder krank und nicht transportfähig ist.“ Von Chișinău traten die Geflüchteten eine 25-stündige Busreise nach Berlin an. Dort hat sie Rabbiner Jehuda Teichtal in Empfangen genommen: Er ist Gemeinderabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Vorsitzender des jüdischen Bildungszentrums Chabad. „Auch Chabad Wien hat sich gemeldet, um Kinder aufzunehmen“, erzählt Rabbi Mendy Wolf, der das Waisenhaus in Odessa leitet.
Weitere 120 Kinder und Jugendliche aus der umkämpften Stadt erweckten den Badeort Neptun an der rumänischen Schwarzmeerküste kurzfristig aus seiner Lethargie, als sie gerade zu Purim dort eintrafen: Ihre Betreuer organisierten kurzfristig eine Feier, bevor es mit dem Flugzeug nach Israel ging. „Sie wissen nicht, was mit ihren Liebsten in der Heimat geschieht, sie haben so viel Schlimmes erlebt, wenigstens genießen sie ein paar schöne Stunden“, freut sich Alina Feoktistova, die zur Hilfsorganisation Tikva (Hoffnung) zählt, einem orthodox-jüdischen Projekt in Odessa, das sich um vulnerable Jugendliche kümmert.
Aber wieso gab es allein in Odessa 250 Waisenkinder, woher kommen die? Alina glaubt, dass die Medien diesen Überbegriff gewählt haben. „Wir kümmern uns hauptsächlich um Kinder, die aus sozial bedürftigen und psychisch-belasteten Familien stammen, die ihre Kinder selbst nicht adäquat versorgen können.“
Die Hilfskräfte müssen sich auch verstärkt jungen Müttern mit Kleinkindern und vor allem Älteren widmen, darunter nicht wenige, die den Horror der Schoah in der Ukraine er- und überlebt haben. Über diese Gruppe berichtete kürzlich die Jüdische Allgemeine (Berlin), die mit dem Oberrabbiner der Ukraine, Yaakov Dov Bleich, telefonieren konnte. Gemeinsam mit hunderten Jüdinnen und Juden harrt er zurzeit in einem Ferienlager in der Nähe der Stadt Mukatschewo (Munkács) in der westukrainischen Oblast Transkarpatien unweit der ungarischen Grenze aus.
Kosmopolitisches Odessa. Als strategisch wichtige Hafenstadt am Schwarzen Meer wurde Odessa 1794 gegründet. Katharina II. erlaubte die Ansiedlung von Russen, Ukrainern, Griechen und Juden, die vor allem als Geschäftsleute erfolgreich waren. Bereits vier Jahre später wurde eine Synagoge für die erste jüdische Gemeinde erbaut. Erste antisemitische Ausschreitungen, bei denen vierzehn Juden getötet wurden, sind mit 1821 datiert. Die Akteure waren vor allem Griechen: Sie dominierten in dieser Zeit den Handel und die Verwaltung der Hafenstadt. Die Hintergründe lagen in der ökonomischen Rivalität zwischen den beiden Gruppen. Außerdem beschuldigten die Griechen die jüdische Bevölkerung, in ihrem Unabhängigkeitskampf auf Seiten der osmanischen Herrschaft zu stehen. Trotz alldem galt Odessa innerhalb des russischen Imperiums immer schon als besonders kosmopolitisch. „Ich habe Moldawien hinter mir gelassen und bin in Europa angekommen“, schrieb Puschkin, als er 1823 an seinem neuen Verbannungsort eintraf.
„Vor dem Angriffskrieg der Russen am 24. Februar 2022
lebten unserem Wissen nach 45.000 Juden in Odessa.“
Rabbi Mendy Wolf
Dessen ungeachtet wurde 1826 eine jüdische Schule eröffnet und 1840 ein jiddisches Theater. Die repräsentative Hauptsynagoge Or Sameach konnte schließlich 1860 eingeweiht werden. Sie wurde ab 1923 ein Museum, danach als Musiktheater und Sporthalle genutzt, erst 1996 erfolgte die Rückgabe an die jüdische Gemeinde. Von 1863 bis 1868 entstand die Brodsky-Synagoge in Odessa, die von jüdischen Einwanderern aus dem galizischen Brody gebaut wurde. Sie gehörte zu den ersten ChoralSynagogen im russischen Kaiserreich und war damals das größte Bethaus in dessen Süden.
1859 kam es erneut zu einem Pogrom gegen Juden, dennoch entwickelte sich Odessa zu einem der wichtigsten Zentren der jüdischen Publizistik, der Literatur und des Theaters. Von 1860 leitete Alexander Zederbaum die erste hebräischsprachige Zeitung in Russland, Ha-Melitz, die bis 1903 existierte. 1862 erschien Kol Mewasser als Beilage als erste jiddische Zeitung in Russland. Abraham Goldfaden, Komponist, Volksdichter und Begründer des modernen jiddischen Theaters, arbeitete nach 1866 als Lehrer in der Stadt und veröffentlichte dort frühe Prosa. Zwölf Jahre später kamen verschiedene Akteure des jiddischen Theaters aus Rumänien nach Odessa, darunter Größen wie Nachum Schaikewitsch mit seinen Schauergeschichten oder Ossip Lerner, der ab 1881 mit einer eigenen Theatertruppe jiddische Stücke im Mariinskij-Theater in Odessa aufführte. Auch Mendele Moicher Sforim, der Meister der neujiddischen Literatur und der geschliffenen Prosa, lebte und publizierte hier. Er gilt als „Großvater“ dieser Literatur, weil er vor Scholem Alejchem, der sich stets als Mendeles „Enkel“ bezeichnet hat, und Jitzchok Leib Perez der älteste der sogenannten drei Klassiker der jiddischen Literatur war.
1894 wurde Isaak Babel als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in der Moldawanka, Odessas Armen- und Judenviertel, geboren. Er zog nach Abschluss seines Studiums nach Petersburg, wo er die Bekanntschaft des russischen Schriftstellers Maxim Gorki machte. Dieser förderte ihn und rettete ihn mehrmals vor der Zensur. Zwischen 1921 und 1924 entstand Babels Erzählzyklus Geschichten aus Odessa, mit dem er der Stadt ein Denkmal setzte.
Babel, der auch der „beste Erzähler nach Puschkin“ genannt wird, hat die jüdischen Mafiosi der Moldawanka spöttisch und mit weisem Humor beschrieben. Seine Geschichten drehen sich um jüdische Hochzeiten, um Diebesgut aus Übersee oder um jüdische Großmütter. Am 15. Mai 1939 wurde Isaak Babel in seiner Datscha im Dorf Peredelkino verhaftet und im politischen Gefängnis Lubjanka in Moskau inhaftiert. Der NKWD, das Volkskommissariat für innere Angelegenheiten, beschuldigt ihn für den Westen spioniert zu haben. Im Zuge der Stalin’schen Massenmorde wurde Babel am 16. Januar 1940 verurteilt und bald darauf im Gefängnis Butyrka erschossen.
Auswanderer und Zionisten. Nach den blutigen Massakern von 1881 wurden zwei Jahre später jiddische Theateraufführungen im Russischen Reich verboten. Damit begann eine Auswanderungswelle fast aller jiddischer Schauspieler und Autoren nach Westeuropa und in die USA. Der 1880 in Odessa geborene Zionist und Schriftsteller Zeev Jabotinsky reagierte bitter: „Von Pogromen bleiben Eimer voller Blut und Pfunde menschlichen Fleisches, aber eine Lehre für das jüdische Bewusstsein, die sie auf die Ebene einer Tragödie erheben würde, lässt sich nicht aus ihnen ziehen […]. Es gibt keine Rettung.“ Diese negative Sicht begründet er auch mit dem Mangel an Bildung im damaligen Russland. Ein durchschnittlicher Russe lese die in einfacher Sprache gehaltenen antisemitischen Pamphlete, die damals überall im Umlauf waren, ebenso gerne wie simpel gestrickte Revolutionsliteratur. Für andere Schriften interessiere sich kaum einer. Jabotinsky blieb Odessa zeit seines Lebens verbunden und veröffentlichte 1936 mit den Roman Die Fünf sogar eine Art Buddenbrooks-Familiensaga.
Infolge der wiederholten Pogrome entstand die zionistische Bewegung in Ostmitteleuropa, deren Ziel die Auswanderung der Juden nach Palästina war. 1884 wurde Odessa Sitz von Chibbat Zion (Zionsliebe) in Russland. Wichtige Mitglieder der Zionsfreunde (Chovevei Zion) waren Leo Pinsker und Mosche L. Lilienblum. Bereits 1890 wurde die Gesellschaft zur Unterstützung jüdischer Bauern und Handwerker in Syrien und Palästina (Odessa-Komitee) gegründet. 1902 wurde in Odessa einer der ersten Ortsverbände der zionistisch-sozialistischen Bewegung Poale Zion gegründet, aus deren Mitgliedern entstand 1904 die Zionistische Sozialistische Arbeiterpartei. Auch Meir Dizengoff, der erste Bürgermeister von Tel Aviv (1921–1936), lebte einige Jahre in Odessa.
Der russische Zensus 1897 ergab einen jüdischen Bevölkerungsanteil von 30,83 Prozent in Odessa, was rund 125.000 Personen entsprach. Somit zählten die Juden zur zweitgrößten Bevölkerungsgruppe der Stadt, nach den Russen mit 49,09 Prozent und vor den Ukrainern mit 9,39 Prozent. 1905 kam es erneut zu schweren Ausschreitungen gegen Juden. Nach 1919 schuf die sowjetische Macht neue Möglichkeiten für jüdisches Leben, so bevölkerten rund 200.000 Juden die Stadt bis 1939. Ab 1941 wüteten die deutsche Wehrmacht sowie ihre ukrainischen Hilfskräfte (siehe Kasten dazu) in der Stadt und massak-rierten zehntausende jüdische Menschen. Nach dem Zweiten Weltkrieg erholte sich die jüdische Gemeinde Odessas wieder. Ab den 1970er-Jahren begann eine starke jüdische Auswanderung aus der Sowjetunion in Richtung Israel, USA und Westeuropa. Trotz restriktiver Maßnahmen der Sowjetunion, um die Migrationswelle zu verhindern, sank der Anteil der jüdischen Bevölkerung über die Jahre konstant. 1989 lebten in Odessa noch knapp 66.000 Juden, was 5,9 Prozent der Stadtbevölkerung ausmachte. Bei der Volkszählung von 2001 gaben nur mehr 12.500 Menschen an, jüdisch zu sein – denn noch aus Sowjetzeiten stammt das Unbehagen, sich öffentlich zum Judentum zu deklarieren. Daraus resultiert auch meist die Diskrepanz zwischen der Zahl aus der Volkszählung und inoffiziellen Hochrechnungen.
„Wir kümmern uns hauptsächlich um Kinder, die aus
sozial bedürftigen und psychisch belasteten Familien
stammen, die ihre Kinder selbst nicht
adäquat versorgen können.“
Alina Feoktistova,
Hilfsorganisation Tikva
Vor dem Angriffskrieg der Russen am 24. Februar 2022 lebten unserem Wissen nach 45.000 Juden in Odessa“, erzählt Rabbi Mendy Wolf, der tapfer in der Stadt aushält. „Mehr als die Hälfte sind bereits in Sicherheit – und leben jetzt als Flüchtlinge. Aber wir bleiben hier und gehen nicht fort, bis der letzte Jude gerettet ist!“ Die missionarische Bewegung von Chabad, die Menschen jüdischer Abstammung wieder zum Glauben und zur Ausübung der Religion motivieren will, ist an insgesamt 35 Orten in der gesamten Ukraine mit rabbinischem Personal vertreten. Der sagenumworbene Gründer dieser chassidischen Gruppierung innerhalb des orthodoxen Judentums, war „der Rebbe“, Menachem Mendel Schneerson, der 1902 in Mykolajiw geboren wurde, 100 Kilometer östlich von Odessa und 60 Kilometer westlich vom eingenommenen Cherson. Viele der Chabad-Zentren wurden in den letzten Wochen zur Zuflucht für Juden, die nicht nur medizinische, sondern auch alltägliche Hilfe benötigen: „Viele der Menschen leiden an Hunger und Kälte. Wir versorgen sie mit warmen Essen und ebensolchen Schlafplätzen“, berichtet Rabbi Wolf. „Aber bald fehlt es uns selbst am Nötigsten, nämlich an Wasser und Mehl.“ Pessach 2022.
Als strategisch wichtige Hafenstadt am Schwarzen Meer
wurde Odessa 1794 gegründet. Katharina II. erlaubte die
Ansiedlung von Russen, Ukrainern, Griechen und Juden …
* Die Internationale Gemeinschaft von Christen und Juden ist eine philanthropische Organisation, die 1983 von Yechiel Eckstein in Illinois (USA) gegründet wurde. Ihr Ziel ist es, das Verständnis und die Zusammenarbeit zwischen Juden und Christen zu fördern und eine breite Unterstützung für den Staat Israel zu leisten.
STEPAN BANDERA: ein zweifelhaftes Vorbild
Stepan Bandera (1909–1959) war ein führender Kopf der ukrainischen nationalistischen Bewegung, der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), in den Dreißiger- bis Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts, der radikale Aktionen für die Lösung der Frage der ukrainischen Unabhängigkeit befürwortete. Bereits als junger Mann organisierte Bandera mehrere Terroranschläge, der bekannteste davon war die Ermordung des polnischen Innenministers Bronisław Pieracki am 15. Juni 1934. Bandera wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, kam jedoch mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wieder frei. Im Februar 1940 stellte er sich an die Spitze des „revolutionären Flügels“ der OUN, der später nach seinem Anführer als „Bandera-Flügel“ bezeichnet wurde. Bandera war ein radikaler Nationalist, der sich mit Hitler verbündete. Sein Kampf für eine unabhängige Ukraine war auch ein Kampf gegen Juden, Polen und Russen. Nach dem missglückten Versuch, in Lemberg einen ukrainischen Staat auszurufen, wurde er am 30. Juni 1941 verhaftet und bis Dezember 1944 im KZ Sachsenhausen gefangen gehalten. Für seine Anhänger dient diese Zeit als Beweis, dass er vor allem Freiheitskämpfer und kein Nazi-Kollaborateur war. Doch Bandera kam nicht in eine normale KZ-Baracke, sondern in den Zellenbau für Sonderhäftlinge, denn die Nazis hielten ihn weiterhin für nützlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg floh Bandera nach Deutschland und wurde in der Sowjetunion in Abwesenheit zum Tode verurteilt. 1959 wurde er in München von einem KGB-Agenten ermordet.
Der Mythos Bandera ist in der heutigen Ukraine vor allem ein politisches Instrument: Der „Freiheitskämpfer“ Bandera soll dem kulturell geteilten Land eine Identität geben. 2014 prangte sein Bild nahe der großen Bühne auf dem Maidan. Für den schwedischen Historiker Per Anders Rudling ist das Bandera-Bild in der Ukraine verklärt: „Nach meiner Bewertung und der von den meisten Forschern kann man Bandera und seine Bewegung durchaus als eine faschistische bezeichnen, die stark am Holocaust beteiligt war“, erläutert Rudling. Die erste wissenschaftliche Biografie, die sich mit dem Mythos und Kult des ukrainisch-faschistischen Politikers und der Geschichte seiner Bewegung auseinandersetzt, schrieb der junge polnische Historiker Grzegorz Rossoliński-Liebe. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien. An der Berliner Universität arbeitete er in einem Postdoc-Projekt über die Erinnerung der ukrainischen Diaspora an den Holocaust. Bei den Wahlen in der Ukraine 2019 schafften dann auch die vereinigten rechten Parteien mit 2,15 Prozent nicht den Einzug ins Kiewer Parlament – und das im Unterschied zu beachtlichen Wahlerfolgen zahlreicher rechtsradikaler und populistischer Parteien in ganz Europa, in den letzten Jahrzehnten.
Schoah in der Ukraine
1.5 Millionen Juden von insgesamt fast drei Millionen, die vor dem Zweiten Weltkrieg in der Ukraine lebten, wurden ermordet. Unmittelbar nachdem deutsche Truppen im Sommer 1941 große Teile der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USSR) besetzt hatten, begannen im rückwärtigen Heeresgebiet Einsatzgruppen sowie lokale Miliz- und Polizeieinheiten mit der Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Ungefähr 900.000 Juden, die überwiegend in der Ostukraine gelebt hatten, konnten sich noch rechtzeitig dem überstürzten Rückzug der Roten Armee anschließen. Vincent Hoyer, Historiker an der Universität Augsburg, recherchierte, dass rund 100.000 Juden die Besatzung der Ukraine in Verstecken überlebten. Daher nimmt die Ukraine auf der Yad-Vashem-Liste der als Gerechte unter den Völkern als Judenretter Ausgezeichneten den vierten Platz ein. Auf der Jerusalemer Liste befinden sich ungefähr 30.000 Namen von Geretteten.
Ein großer Teil der ukrainischen Juden lebte zu Kriegsbeginn in der heutigen Westukraine. Das erste größere Pogrom fand bereits im Sommer 1941 mit geschätzten 5.000 ermordeten Juden in Lemberg statt – wobei in vielen Städten in der Westukraine Juden ermordet wurden, ohne auf eine explizite Anordnung der deutschen Besatzer zu warten. Die Schoah überlebten nur diejenigen, die in den Osten der Sowjetunion, nach Zentralasien oder Sibirien geflüchtet waren oder die den Krieg als Soldaten der Roten Armee überlebten – und so auch einen wichtigen Beitrag dazu leisteten, die Ukrainer, Russen, Polen und Weißrussen gegen das Hitler-Regime zu verteidigen.
Nach dem Einmarsch der SS und der Sicherheitspolizei erfolgte eine planmäßige Tötung mit ukrainischer Beteiligung, und zwar der berüchtigten Hilfspolizei. Diese wurde von Heinrich Himmler Mitte August 1941 als Einheit der Militärpolizei auf dem Gebiet des polnischen Generalgouvernements gegründet: Die Streitkräfte bestanden größtenteils aus ehemaligen Mitgliedern der ukrainischen Volksmiliz, die im Juni aus der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) entstanden war (siehe auch den Kasten zu Stepan Bandera). Es gab zwei ukrainische bewaffnete Organisationen unter deutscher Kontrolle: Die erste umfasste mobile Polizeieinheiten, die am häufigsten als Schutzmannschaft bezeichnet wurden und die Aufgabe hatten, den Widerstand in den meisten Teilen der Ukraine zu bekämpfen und die Massenmorde an Juden zu unterstützen.
Holocaust by bullet nennen die Nachkriegshistoriker jene Massenerschießungen, die von deutschen wie ukrainischen Polizeieinheiten meist etwas außerhalb von größeren Städten durchgeführt wurden. Diese „Aktionen“ wurden kaum vertuscht, Anwohner und Soldaten schauten dabei zu. Den Inbegriff dieses Holocaust by bullet stellt der Ort Babij Jar bei Kiew dar, wo etwa 40.000 Juden in Gruben geschossen wurden. Die sowjetische Herrschaft wurde von der ukrainischen Bevölkerung zunehmend als Belastung empfunden. Mehr als 30.000 Ukrainer, die antisowjetisch eingestellt waren, flüchteten in die von den Deutschen besetzten Gebiete. In den übrigen Teilen des Landes hoffte die ukrainische Bevölkerung, auch aufgrund des Bürgerkriegs und darauf folgenden stalinistischen Terrors, auf eine Besserung der Situation und Befreiung von der sowjetischen Herrschaft bzw. der polnischen Bevormundung. Dies führte zu grundlegender Sympathie gegenüber dem Deutschen Reich. Schätzungen zufolge partizipierten 30.000 bis 40.000 Ukrainer am Holocaust. Maßgeblich spielten hier politisch-ideologischer Opportunismus sowie das Feindbild des ‚jüdischen Bolschewismus‘ eine Rolle. Meist standen die Kollaborateure unter deutschem Befehl: Im KZ Trawniki wurden angeworbene, oftmals ukrainische Kriegsgefangene zu KZ-Wachmannschaften ausgebildet. Diese kamen unter anderen in den Vernichtungslagern Treblinka, Belzec und Sobibor zum Einsatz.