Wer Thomas Jelinek einmal begegnet ist, weiß rasch: Hier ist jemand, dem man über Wiener Kinos und Kinogeschichte im Allgemeinen kaum noch etwas Neues erzählen kann. Der Wiener Grafiker wurde bereits im Alter von sechs Jahren vom Kinofieber infiziert. Aufgewachsen in Ottakring, waren für den heute 57-Jährigen Anfang der 1970er-Jahr – damals war die erste Welle des Wiener „Kinosterbens“ bereits etwas abgeebbt, die zweite stand bereits vor den Kinoportalen – noch eine heute schier unglaubliche ganze Handvoll Kinos in Gehweite – Schlapfen- und Patschenkinos, Eck-, Schlauch- und sonstige Wiener Lokalkinos mit ihren je unterschiedlichen Eigenheiten, die jedes zu einem Unikum machten. Eine verlorene Welt, die Jelinek noch in ihren letzten beiden Dekaden als Jugendlicher kennenlernen durfte. „Da waren das Odeon und das Thalia Kino, vor allem, seltener die Breitenseer Lichtspiele oder das Gloriette Kino. Und das Apollo Kino im 15. Bezirk“, erinnert sich Jelinek an die Vorstadtkinos, deren Programmen er seine Kinoleidenschaft verdankt. „Mit meinem Taschengeld und meinem großen Bruder bin ich jeden Samstag- und Sonntagnachmittag in eines der umliegenden Kinos gegangen. Wir haben uns dann immer in den Zeitungen angeschaut, was wir beide in den Bezirkskinos sehen wollen.“ Und er weiß heute noch „ganz genau, wann ich mein erstes Kinoprogramm bekommen habe: Das war 1974. Damals lief im Gartenbaukino die Disney-Verfilmung von Robin Hood. Und weil mein Vater im nahen Konzerthaus arbeitete, durften mein Bruder und ich ausnahmsweise an einem Sonntag in dieses große Innenstadtkino gehen. Als ich dort dann den Billeteur mit dem Programmheft zu diesem Film gesehen habe, wollte ich es unbedingt haben. Ich habe meinen Bruder also so lange sekkiert, bis er noch einmal aufgestanden ist und mir ein Programm gekauft hat.“ Es sollte das erste einer Sammlung werden, die heute Abertausende von Objekten umfasst und für die Jelinek eigene Räumlichkeiten angemietet hat. Das nächste Programm war zu King Kong – den Film selbst durfte er gar nicht sehen, erinnert er sich, „weil ich noch zu klein war“. 1978 folgte das nächste entscheidende Erlebnis, als er in der Premierenwoche Krieg der Sterne im ebenfalls nicht mehr existierenden Wienzeile Kino besuchte – „die Karten dafür haben mein Bruder und ich schon eine Woche vorher gekauft, weil der Andrang damals so groß war.“ Ab diesem Zeitpunkt, Jelinek war damals gerade einmal 12 Jahr alt, wurde aus dem kinobegeisterten Buben ein jugendlicher Kinosammler. „Irgendwann habe ich bei einem Altwarenhändler dann einen ganzen Stoß alter Filmprogramme gekauft.“
Bald schon erweiterte sich seine Sammeltätigkeit auch auf Schaufensterfotos und Filmplakate, was sich schon damals als gar nicht so einfach herausstellte, „weil die meisten Sammler eigentlich nur Filmprogramme gesammelt haben“.
Umfangreich & vielfältig. Eben diese Vielfältigkeit ist es, die Jelineks Kinosammlung neben ihrer Dimension auszeichnet und auch international sicherlich zu den herausragendsten Sammlungen macht. Seit Langem wird er immer wieder auch von Kinos angefragt, ob er Bilder, Plakate und andere Sammlungsstücke ausleiht, sei es für Retrospektiven, Sondervorführungen oder auch Ausstellungen. Einen Schwerpunkt seiner Sammlung legte Thomas Jelinek ebenfalls schon früh auf Stummfilm-Dokumente. „So ist auch das Filmarchiv Austria auf mich gekommen“, erzählt er, und aus der mehrjährigen Zusammenarbeit – Jelinek kuratierte unter anderem die vielbeachtete Reihe Kino der Orte, bei der an ehemaligen Kinostandorten noch einmal Filme zur Aufführung kamen – entstand schließlich 2019 der Plan des Filmarchivs, mit ihm „ein Buch mit kurzen Kinoporträts in Bild und Text zu produzieren. ,Machen Sie doch zu jedem Kino eine Kurzbiografie, ein paar Sätze‘, hieß es damals.“ Schon allein diese Aufgabe schien dem Noch-nicht-Autor „bei damals geschätzten 300 Betrieben“ schier unleistbar, zumal in der vorerst angedachten kurzen Zeitspanne von kaum einem Jahr. Aus einem Buch wurden schließlich vier, aus den geplanten „Steckbriefen“ bis zu zehnseitige Kurzbiografien und aus knapp 200 schließlich um die 2.000 Seiten – ein Mammutprojekt, an dem Jelinek, neben seinem Hauptberuf, die letzten Jahre jede freie Minute – und so manche Nacht – durcharbeitete. Im Dezember 2022 erschienen die ersten zwei Bände, vor wenigen Wochen nun die beiden Folgebände. Insgesamt sind es rund 400 Kinos, die nun in Die Wiener Kinos mit Bild- und Textmaterial von Thomas Jelinek und Florian Pauer, einem weiteren bedeutenden Sammler vorwiegend historischer Fotografien Wiener Kinos, vorgestellt werden.
… dass in disen komplexen Eigentümer:innen-Strukturen oft auch die zwischenmenschliche Dimension eine enorme emotionale Herausforderung darstellte.
Ein jüdisches Gewerbe. Bereits vor Recherchebeginn war klar, dass die Wiener Kinolandschaft von Beginn an vor allem auch eine jüdische war. 2018 war mit Angeschlossen und gleichgeschaltet. Kino in Österreich 1938–1945 des Historikers und Juristen Klaus Christian Vögl** spät, aber umso eminenter die erste umfassende Darstellung der „Arisierung“ österreichischer Kinos vorgelegt worden. Vögl hatte auf Basis der von ihm über Jahrzehnte erforschten Kinoakten der NS-Zeit belegt, dass rund 50 Prozent der Wiener Kinos im März 1938 „ganz oder teilweise in jüdischem Eigentum“ standen, eine Zahl, die Thomas Jelinek anhand seiner Einzeldarstellungen bestätigen kann: „Auch wenn man nicht die oder der Hauptbesitzer:in war, so gab es vielfach auch stille Teilhaber:innen, Geschäftspartner:innen oder auch Geschäftsführer:innen, sodass ich anhand meiner Recherchen davon ausgehe, dass es sogar in mehr als 50 Prozent aller Wiener Kinos jüdische Beteiligungen gab, ich würde sogar von 60 Prozent ausgehen.“ Einer der Gründe dafür, erläutert Jelinek, war, dass Kino, „weil es ein so feuergefährliches Medium war, nicht ,kreditwürdig‘ war; man hat also von den Banken kein Geld für deren Betrieb bekommen. Gleichzeitig musste man aber laufend Investitionen in diese Betriebe setzen, was viele der Einzelbetreiber:innen der Frühzeit dann nicht mehr allein stemmen konnten. Herausforderungen waren hier der Tonfilm ab 1929, der sicher den größten Einschnitt darstellte, nach dem Krieg dann auch Cinemascope. So kam es dazu, dass Kinobetreiber:innen nach ,stillen Teilhaber:innen‘ suchten, von denen viele Jüdinnen bzw. Juden waren.“ Gerade diese tagesbetrieblich nicht aufscheinenden jüdischen Miteigentümer:innen und Geldgeber:innen konnten erst in den letzten Jahren dank der Aufarbeitungen von Vögl, Jelinek und einer Reihe späterer Betreiber:innen selbst, wie etwa im Falle des Haydn Kinos, Admiral Kinos oder auch Erika Kinos, aus dem Vergessen geholt werden. „Beispiele dafür sind auch das Tivoli Kino und das Universum Kino im 15. Bezirk.“
Moralisches Dilemma. Im Zuge seiner Recherchen stieß Jelinek immer wieder auf Fälle, die ihn besonders berührt haben. Und er merkt an, dass er im Laufe der Arbeit auch immer wieder erkennen musste, dass in diesen komplexen Eigentümer:innen-Strukturen oft auch die zwischenmenschliche Dimension eine enorme emotionale Herausforderung darstellte. Ohne dabei den Prozess der „Arisierung“, von dem alle Kinos ausnahmslos betroffen waren, herunterspielen zu wollen, macht Jelinek dabei auch deutlich, dass es bei einer Reihe von Kinos zumindest nach Studium der erhaltenen Unterlagen doch auch persönliche Kontakte zwischen jüdischen und nicht jüdischen Co-Eigentümer:innen gegeben haben mag, die über die Kriegsjahre hinaus anhielten. So gab es, wenn auch nur selten, nachweislich Fälle, bei denen vonseiten der nicht jüdischen Teilhaber:innen zumindest versucht wurde, die Anteile ihrer jüdischen Partner:innen zu einem fairen Preis zu „arisieren“. Als Beispiel nennt Jelinek hier das Fünfhauser Maxim Kino auf der Mariahilfer Straße 139.
Bereits vor Recherchebeginn war klar, dass die Wiener Kinolandschaft von Beginn an vor allem auch eine jüdische war.
Hier musste der bis Anfang 1938 alleinige Besitzer Leo Mittler aufgrund seiner jüdischen Herkunft sein Kino abgeben, fand jedoch schon im Jänner dieses Jahres in Alois Josef Kurt Gebauer einen Gesellschafter, dem er zuerst 50 Prozent des Kinos verkaufte und schließlich nach dem „Anschluss“ auch die zweite Hälfte seines Betriebs. Gebauers Verhalten wurde vonseiten der NS-Behörden als „judenfreundlich“ und „nicht vertrauenswürdig“ eingestuft und versucht, diesem einen „regimetreueren“ Partner an die Seite zu stellen. Schließlich konnte im Falle dieses Kinos der „Ariseur“ Gebauer den gesamten Betrieb halten – und nach 1945 wieder gemeinsam mit Mittler weiterführen. „In diesem Fall konnte durch das beschriebene Vorgehen das Kino in gewisser Weise ,gerettet‘ werden und war die Restitution an Mittler 1945 einfacher als in den meisten anderen Fällen, in denen eindeutig regimetreue Nationalsozialist:innen ein Kino übernahmen.“
Wieder andere Kinobetreiber:innen versuchten, ihre für den Erhalt einer NS-Spielerlaubnis verpflichtende „Anwärterschaft“ auf die Mitgliedschaft in die Reichsfilmkammer so lange wie möglich hinauszuzögern – ein Faktum, das ihnen letztlich 1945 auch wieder zugutekam, erläutert Jelinek. Konnten im Falle von Erika, Admiral oder Haydn Kino die jüdischen Eigentümer:innen im Exil überleben, so wurde eine bis heute noch nicht im Detail erfasste Anzahl an jüdischen Kinobetreiber:innen deportiert und ermordet, etwa im Falle des Hernalser Titania Kinos, dessen Betreiber:innen Wolf und Berta Waltuch zuerst in eine Sammelwohnung in der Novaragasse gebracht wurden, von hier 1942 in das Ghetto Theresienstadt und am 23. Oktober 1944 nach Auschwitz-Birkenau, wo sie ermordet wurden. Im Falle des Wohlmuth Kinos hieß eine der anteiligen jüdischen Eigentümer:innen Gisela Klein. 1941 wurde die seit 1927 im beliebten Leopoldstädter Kinobetrieb tätige Kinoleiterin nach Kowno deportiert und dort ermordet.
Es gab, fasst Jelinek zusammen, viele jüdische Besitzer:innen, die deportiert und in einem KZ ermordet wurden. Es gab auch viele, die emigrierten und das Exil nicht überlebten. Unter jenen, die im Exil überlebt hatten, wollten oder konnten, wie etwa im Falle des Haydn Kinos, die meisten nach Kriegsende nicht mehr zurückkehren. Doch es gab auch jene, die überlebten und zurückkamen. So kehrten die Eigentümer:innen des Victoria Kinos im dritten Bezirk wieder nach Wien zurück und führten das an sie restituierte Kino dann „fast bis zum Schluss, zumindest bis in die Sechzigerjahre hinein wieder weiter“.
In einem anderen Fall, dem Donaustädter Hellwag Kino, überlebte dessen langjährige jüdische Leiterin Olga Baroch die Shoah. Baroch kehrte noch im Frühling 1945 nach Wien zurück, wohnte zuerst erneut in einer „Sammelwohnung“ – und suchte bereits von hier aus um die Rückstellung ihrer Eigentumsanteile an. In ihrem Fall wurde der Antrag vonseiten der Gemeinde Wien vorerst jedoch nicht erledigt, und Baruch musste warten, hieß es in den Akten, „bis das Gesetz zur Wiedergutmachung erlassen worden ist“.
Es sind Fälle wie diese, die die historisch aufwändige Recherche immer wieder auch an die emotionale Substanz gehen lassen. Einen besonderen Fund machte Jelinek schließlich gegen Ende seiner mehrjährigen Forschungsarbeiten, als er auf eine amerikanische Datenbank über die Wiener Tätigkeiten der US-Alliierten stieß. „Hier will ich, sobald ich wieder Zeit dafür habe, noch weiterrecherchieren“, freut sich der Sammler und verweist in diesem Zusammenhang auf eine weitere Schwierigkeit, die sich immer wieder ergeben hat: So wurden Onlinearchive wie jene der Arbeiter Zeitung schlichtweg offline gestellt, wieder andere Datenbanken, wie ANNO, bieten zurzeit noch zu wenig präzise Suchfunktionen, und vor allem zu Kinos, die erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs eröffneten, sind viele Daten bis heute noch nicht zugänglich. Es bleibt also viel zu tun, weiß der Autor und muss schmunzeln, wenn er daran denkt, dass ihn bereits einige der bisherigen Leser:innen darum gebeten haben, noch mehr zu dem einen oder anderen Kino zu schreiben. Umso wertvoller wurde für ihn, resümiert er nicht ohne Stolz, im Laufe der Zeit die eigene Sammlung, deren Bestand vielfach weit mehr umfasst, als auch große Wiener Bibliotheken und Archive bieten. Hier fand er zum Teil genaue Informationen über Sitzplatzzahlen, Neuerungen und vor allem die Programmierungen einzelner Kinos. Und manches bleibt, erzählt Jelinek, „immer noch ein Rätsel“.
Dass er nicht nur leidenschaftlicher Sammler, sondern auch einmal Autor mehrerer tausend Seiten werden würde, davon hat Thomas Jelinek noch vor wenigen Jahren nicht einmal geträumt. „Und irgendwann bin ich dabei gelandet. Und ja, ich bin schon stolz darauf.“
* Die Autorin leitet seit 2004 das Online-Projekt Wiener Kinound Theatertopografie, das sich sowohl den Wiener Kinowie Theaterstandorten widmet und einen zentralen Fokus auf jüdische Wiener Standorte legt. kinthetop.at.
** Klaus Christian Vögl: Angeschlossen und gleichgeschaltet. Kino in Österreich 1938–1945. Wien 2018. Siehe dazu auch Angela Heide: Der lange Atem der „Arisierung“. In: WINA 01/2019, wina-magazin.at/der-lange-atem-der-arisierung. Unter der Mailadresse kinoarchiv_wien@gmx.at freut sich Thomas Jelinek über Hinweise auf spannendes weiteres Material zur Wiener Kinogeschichte.