Wir alle müssen durch die Wüste

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April ist der Monat des sprichwörtlichen Aprilwetters. April ist aber auch ein Monat der großen Geschichten. Jüdinnen und Juden in aller Welt werden sich zu Pessach die Geschichte der Befreiung aus Ägypten erzählen – die wohl älteste kontinuierlich und unverändert erzählte Geschichte der Welt. Es ist eine Geschichte von Dunkelheit und Licht, von Unterdrückung und Freiheit.

„Wie können wir unsere Kinder zu wahrer Freiheit erziehen? Indem wir ihnen beibringen, nicht die Realität als Maßstab für ihre Handlungen, sondern ihre Handlungen als Maßstab für die Realität zu sehen.“ 

Yaacov Cohen

Geschichten erzählen, „Storytelling“, wird seit Jahrtausenden vor allem zur Weitergabe von Kultur, von Erfahrungs- und Wertesystemen eingesetzt. Und die jüdische Kultur erzählt viele große Geschichten über Unterdrückung, Befreiung, Mut und Wunder. Sie sind es auch, die uns durch Raum und Zeit verbinden und durch ihr periodisches Rezitieren die jüdische Identität über die Jahrhunderte stärken und bewahren. Wir sind die Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen. Die wohl stärksten Motive der jüdischen Storytelling-Tradition sind die Motive der Hoffnung, des Mutes und der Freiheit. Durch sie verbinden wir in der Gegenwart unsere Vergangenheit mit der Zukunft, durch sie verbinden sich Jüdinnen und Juden mit ihrem Schicksal und mit ihrem Volk – so, wie sich unsere Verwandten durch sie in den dunkelsten Zeiten der Schoah mit der Idee der Befreiung verbanden.

Dieses Konzept von Dunkelheit und Licht ist auch in der Feier des Jom haAtzmaut, dem Unabhängigkeitstag Israels, den Israel heuer zum 75. Mal begeht, präsent. Sie folgt auf Jom haSchoah, den Tag, an dem die Israelis und das jüdische Volk weltweit an sechs Millionen Ermordete erinnern. Die Gründung des Staates Israel nach Jahrhunderten des Exils und der Verfolgung, deren Grausamkeit schließlich in der Schoah gipfelte, stellt somit den Triumph des Lichts über die Dunkelheit und der Hoffnung über die Verzweiflung dar. Ob die heurigen Feierlichkeiten lichte werden oder im Schatten der aktuellen Ereignisse stattfinden, kann aus heutiger Sicht noch niemand sagen.

Rabbi Zalman Schachter-Shalomi sagte einmal: „Wir alle sind in Sklaverei. Jeder von uns hat sein Ägypten. Jeder von uns hat seinen Pharao. Wir alle müssen durch die Wüste gehen, bevor wir das Gelobte Land erreichen können.“

Klimawandel, Krieg, die Aushöhlung der Demokratie und immer neue Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit sind die großen Pharaonen unserer Zeit. Und die Haggada ist die wohl älteste schriftlich überlieferte Erfolgsgeschichte über Mut und Zusammenhalt, die es braucht, um die Dunkelheit zu überwinden und wieder im Licht zu stehen. Die 40 Jahre durch die Wüste erscheinen (auch angesichts der steigenden Sommertemperaturen der vergangenen Jahre) danach keine große Sache mehr zu sein, um am Ende eine nachhaltige Welt voller Gerechtigkeit zu erreichen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein friedliches Pessach-Fest im Kreise Ihrer Lieben, eine spannende Haggadah-Lesung und viel Sonnenlicht zum Frühlingserwachen. Und selbstverständlich sehr viel Freude beim Lesen.

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