Die Kunst der Verwandlung

Anna Maria Krassnigg. Theatergründerin. Regisseurin. Schauspielerin und Sängerin. Regieprofessorin. Festivalleiterin. Reisende. Vermittlerin. Und vieles mehr. Seit 2020 bespielt sie gemeinsam mit ihrem Team die ehemalige Wehranlage von Wiener Neustadt, in deren eindrücklichen Räumen ihr Autor:innentheater wortwiege seine neue künstlerische Heimat gefunden hat. Seit 2021 realisiert sie ihr internationales Austauschprojekt SEA CHANGE. Seit 2023 tourt sie mit ihrem Soloprogramm Orlando Trip als Autorin, Sängerin und Schauspielerin weltweit. Aktuell lädt sie unter dem Motto „fragile/fragil“ zwei israelische Projekte zu ihrem vielbeachteten niederösterreichischen Theaterfestival ein. Wie sie alles unter einen Hut bekommt, hat sie im Vorfeld des Festivalstarts im Gespräch mit WINA zu erklären versucht.

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Christian Mair und Anna Maria Krassnigg: Das Künstler:innenpaar arbeitet seit über zwei Jahrzehnten an immer wieder neuen und überraschenden Projekten. (c) wortwiege

wortwiege Theaterfestival 2024

  • „fragile/fragil“

    21. Februar bis 24. März, Kasematten, Wiener Neustadt

  • Gastspiel des Acco Theaters

    21. und 23. März

  • Gastspiel Théâtre Majâz

    Frankreich/Israel: 2. und 16. März

wortwiege.at


Anna Maria Krassnigg kann mit gutem Recht als eine Ausnahmeerscheinung in der österreichischen Theaterlandschaft bezeichnet werden. Die 1970 in Wien geborene Theatermacherin arbeitet seit drei Jahrzehnten in immer wieder neuen ästhetischen wie räumlichen Kontexten. So gründete sie, nach zahlreichen großen Regiearbeiten, die sie unter anderen mit Schnitzlers Fräulein Else auch an das einstige (und einzige) Wiener Theater Max Reinhardts, das Theater in der Josefstadt führten, 2008 den Salon 5, der für mehrere Jahre seine Heimat in den Räumen des ehemaligen jüdischen Turnertempels fand. 2015 folgte mit der Umbenennung in wortwiege und dem Umzug in den Reichenauer Thalhof ein gänzlich neuer künstlerischer Schritt: Hier, in der einstigen assimiliert geprägten „Sommerfrische“ zahlreicher jüdischer Autoren der Jahrhundertwende und Zwischenkriegszeit, widmete sich die Regisseurin mit neuen Formaten und Vermittlungsangeboten einem weiteren „verwundeten Ort“, wie sie es nennt. Einem Ort, dem Menschen und Ereignisse Erinnerungen und so auch Wunden eingeschrieben haben. So lauteten die Spielzeitmotti in den folgenden Jahren auch konsequent „Die Residenz des Flüchtigen“, „Jenseits von Gut und Böse“ und „Fremde Nähe“. 2020 dann der nächste große Veränderungsprozess – und der Umzug an einen wieder gänzlich unterschiedlichen „verwundeten Ort“, die Kasematten, einstige Wehranlage an den Rändern von Wiener Neustadt, heute multifunktionaler Erlebnisort, der weit mehr als nur einen Besuch wert ist. Das „site-specific theatre, das in den letzten Jahren in aller Munde ist“, verrät Anna Maria Krassnigg gleich zum Einstieg unseres Gesprächs, gehört von Beginn an zum Zentrum ihrer Arbeit, zu deren wesentlichen künstlerischen Einflüssen nicht von ungefähr Max Reinhardt zählt, an dessen Wiener Theaterschule sie seit bald zwei Jahrzehnten Regie lehrt. „Diese Arbeit an verwundeten Orten zieht mich unheimlich an, weil es Theater noch einmal potenziert; auch, weil wir nicht leugnen können, dass sich Theater, zumal an klassischen Theaterorten, auch wenn es dort ganz wunderbare Inszenierungen gibt, immer in der Krise befindet – und seit Covid umso mehr.“ Orte, an denen Theater „seltsam und ungewöhnlich ist“, erleichtern daher für viele auch den Einstieg. Weniger Schwellenängste. Mehr Grenzübertretungen. Mehr Nähe. Krassnigg: „Diese Räume geben eine Höhe vor, in der bestimmte Texte dann hervorragend hineinpassen.“

´Das Wunderbare an diesem Projekt ist, dass es nicht nur ,auf Papier‘ oder digital funktioniert, sondern dass es ein analoges Projekt ist.

A. M. Krassnigg

Neustart mit Hindernissen. Der Anfang in den Wiener Neustädter Kasematten war eigentlich für das Frühjahr 2020 geplant. Schließlich musste alles aufgrund der Covid-Lockdowns auf den Herbst verschoben werden. Eine enorme – und auch traumatische – Herausforderung, gerade für ein Projekt in den Dimensionen, in denen Krassnigg arbeitet. „Aber der Wunsch dieser Stadt, unser Konzept eines ungewöhnlichen, ja, auch nicht gefälligen Theaters mitzutragen, ist von Anfang ganz, ganz stark – und anhaltend. Das begeistert mich bis heute sehr.“ Schließlich hat es doch geklappt – und seit drei Jahren sind hier Projekte zu sehen, die sich zwischen Literatur und Theater, Politik und Gesellschaft, Raum- und Gemeinschaftserleben bewegen, zum aktiven Zuhören und nachdenklichen Mitreden einladen. Außergewöhnliche Begegnungen außerhalb urbaner Theatergewohnheiten.

Das Motto des wortwiege Theaterfestivals 2024 heißt „fragil/fragile“ und trifft damit den Kern jener globalen, gesamtgesellschaftlichen prekären Situation, der wir alle uns täglich massiver ausgesetzt fühlen. Eingeladen sind dabei – neben Anna Maria Krassniggs Inszenierung von Grillparzers Medea und Sławomir Mroeks Schlachthof in der Regie ihrer ehemaligen Regie-Studentin am Max Reinhardt Seminar Ira Süssenbach – zwei Produktionen aus Israel: A Handbook for the Israeli Theatre Director in Europe der beiden israelischen Theatermacher Ido Shaked und Hannan Ishay und ein Gastspiel des 1985 gegründeten Acco Theatre Center mit dessen international vielbeachtetem Stück The Anthology.

Beide Gastspiele finden nicht nur im Rahmen des Festivals, sondern darüber hinaus innerhalb des seit zwei Jahren laufenden internationalen Großprojekts SEA CHANGE statt, das ebenfalls von Krassnigg und ihrem langjährigen Co-Leiter Christian Mair initiiert wurde und dessen großen Erfolg niemand, selbst die erfahrene Theaterpionierin nicht, erwarten konnte. Über die Idee zu diesem Projekt erzählt Krassnigg: „SEA CHANGE – es geht um ,change‘, auch um ,exchange‘ – ist ein Symbol für einen radikalen Paradigmenwechsel, den wir erstmals in Shakespeares Stück Der Sturm finden, auf das wir uns auch beziehen. Wir haben gemeinsam mit der Kunstsektion des Außenministeriums und noch zu Corona-Zeiten ein Projekt entwickelt, bei dem internationaler Austausch wieder möglich ist. Das heißt, es war zuerst dieses Projekt, das sich, von einem künstlerischen Nukleus aus, der Konzertperformance Orlando Trip, ,oktopodisch‘ weiterentwickelt hat und in dessen Zentrum der Meeresraum als Symbol des Wandels stand.“ Von hier aus begann 2023 eine sehr intensive Reisetätigkeit, bei der zum einen die Performance von Krassnigg (Text, Performance) und Mair (Musik, Performance) gezeigt und wissenschaftlich wie diskursiv begleitet wird, zum anderen aber auch begonnen wurde, im persönlichen künstlerischen Austausch Projekte internationaler Künstler:innen nach Österreich einzuladen. „Das Wunderbare an diesem Projekt ist, dass es nicht nur ,auf Papier‘ oder digital funktioniert, sondern dass es ein analoges Projekt ist. Das heißt, dass wir unseren Partner:innen, egal ob in Israel, Kroatien, Slowenien, Rumänien, Griechenland, Tunesien, Vietnam und vielen Ländern mehr, wirklich vor Ort begegnen“ – an deren Orten und in der Folge dann eben auch in den Kasematten. „Und es sind, auch das wird ganz klar, vielfach sehr ,fragile‘ Orte und Gesellschaften.“

Jüdisch & Künstler – und warum das nie ohne Klischee zusammengeht … Ido Shaked und Hannan Ishay widmen sich dieser Frage in ihrem Gastspiel leichtfüßig klug und tiefgründig humorvoll. (© wortwiege)

Poetischer Klarblick. Die Einladung an ihre israelischen Kolleg:innen kam bereits vor über einem Jahr, „aus einem empathischen Interesse für diesen Konflikt heraus“, erläutert Krassnigg und ergänzt, dass niemand damals geahnt hätte, wie aktuell die Beiträge nun sein würden. Ein besonderes Anliegen dabei ist es für sie, auf die unabhängige Theaterszene des Landes hinzuweisen, eine Szene, erklärt Krassnigg, die regierungskritisch ist und in der täglichen Arbeit jenen derzeit umso „unmöglicher scheinenden Brückenbau“ in das Zentrum der künstlerischen Arbeit stellt. So wird das Acco Theater von einem israelischen und einem palästinensischen Geschäftsführer gemeinsam geleitet. Die beiden jungen, international tätigen Regisseure Hannan Ishay und Ido Shaked bemühen sich in ihren Projekten wiederum, ihren Blick auf gesellschaftliche Veränderungen zugleich hochpolitisch und – wie im Falle des niederösterreichischen Gastspiels – bei aller Tragik auch hoch komisch zu vermitteln. So geht es hier um all die Klischees, die immer auf den Fuß folgen, wenn ein israelischer Regisseur eingeladen wird. Oder, wie es in der Ankündigung heißt: „Wie packt man Krieg und Macchiato, Selbstverliebtheit und zynische Distanz, Hoffnung und Verzweiflung und ein oder zwei internationale Konflikte in ein kompaktes Unterhaltungsformat?“

Ein besonderes Anliegen ist Krassnigg, verschiedene Generationen israelischer Kolleg:innen einzuladen und diesen gemeinsam und gleichberechtigt Sichtbarkeit zu geben, zumal, so die künstlerische Leiterin der wortwiege, es zur hohen Kunst israelischer Theatermacher:innen zähle, „mit einfachsten Mitteln eine große Poesie zu erzeugen – und sich für nichts zu schade zu sein; etwas, das ich hier in Österreich sehr vermisse.“

Reise in die Ungeheuerlichkeit. Bereits im Frühling des letzten Jahres war Anna Maria Krassnigg in Israel gewesen, um an der Drama University in Tel Aviv eine Meisterklasse für israelische und palästinensische Studierende zu geben. „Damals gab es ja schon dieses entsetzliche Vorbeben“, erinnert sie sich und an die Situation, ein Seminar im Schutzkeller zu führen und die Lebensgeschichten ihrer Student:innen im persönlichen Gespräch zu hören, Geschichten, die auch den Zugang zur je eigenen künstlerischen Arbeit, hier wie dort, wesentlich beeinflussen. Im Herbst folgte die nächste Einladung – und die Eröffnung des Acco Festivals 2023. Es war der Samstag vor dem 7. Oktober. In der Woche darauf besuchte Krassnigg, bereits im Vorfeld für ihre kommenden Projekte in Österreich und international, weitere Kolleg:innen und traf erneut ihre Studierenden, ehe sie und ihr Mann für Sonntag, den 8. Oktober, ihre Rückreise gebucht hatten. Der Morgen des 7. Oktober änderte auch für sie alles. „Erst in der Rückschau wird klar, wie sehr dieser Tag anders begonnen hat. Wir haben schon gemerkt, wie still alles war, wie anders sich das Meer bewegt hat – aber erst, als uns unser Sohn anrief und fragte, ob es uns eh gut geht, wurde uns alles klar. Dann aber ging es Schlag auf Schlag. Heute kann ich sagen, dass ich nun weiß, was es heißt, einen Kriegsausbruch zu erleben, und, ja, auch zu spüren. Und man spürt es.“ In diesem Ausnahmezustand entwickelte sich ein, so Krassnigg, „Gefahrengefühl“, aus dem heraus sie entschied, den einzig noch möglichen Flug zu nehmen, der sie am Sonntagmorgen nach Mailand brachte, von wo aus das Paar, trotz allem, weiter zum nächsten Orlando-Konzert in Slowenien reiste. „Ohne jedes Equipment, das war ja in Israel geblieben“, erzählt Krassnigg. „Diese 48 Stunden nach dem Attentat und bis zum Abheben des Fliegers waren die schlimmsten Stunden, die ich je, als Erwachsene zumindest, erlebt habe.“ Seither ist sie in kontinuierlichem Austausch mit den israelischen Kolleg:innen, vor allem, erklärt die renommierte Regieprofessorin, weiterhin mit ihren Studierenden. „Wir sind sehr verbunden, denn dieses zweimalige gemeinsame Erlebnisse einer Kriegssituation hat uns schon extrem zusammengeschweißt.“ Noch einmal mehr haben diese Erlebnisse auch auf das Motto des am 21. Februar begonnenen Festivals hingewiesen – Fragilität. Noch einmal auch haben die Ereignisse schmerzhaft gezeigt, so Krassnigg, „dass wir uns ständig irren können. Und dass wir eine Haltung haben aus der Summe dessen, was wir wissen – dass wir aber viel nicht wissen. Diese idiotische Idee, dass Sicherheit verbunden mit den Gefühl ist, dass es nur eine einzige Möglichkeit gibt, und die ist schwarz oder weiß … das ist aber das Gegenteil von Sicherheit: Nur wenn du immer ein Spiel im Bein hast, wenn du weißt, du musst permanent um deine Mitte ringen, wird dich nicht so schnell jemand umwerfen können. Und ich denke, dass das Theater dazu da ist, dieses falsche Sicherheitsgefühl geradezu zu ,torpedieren‘ und zu sagen, es wird uns im Rahmen unserer Möglichkeiten nicht erspart bleiben, uns zu informieren, Schlüsse daraus zu ziehen – und eine Haltung daraus abzuleiten. Und klar zu sehen, dass auch diese immer einem Irrtum unterliegen kann. Und dass das kein Verbrechen ist.“

Wir haben schon gemerkt, wie still alles war, wie anders sich das Meer bewegt hat – aber erst, als uns unser Sohn anrief und fragte, ob es uns eh gut geht, wurde uns alles klar.

Wege, die formen. So wichtig Anna Maria Krassniggs Rolle als Theaterleiterin, Theatererfinderin und, nicht zuletzt, Lehrende an einer der renommiertesten Theaterschulen des deutschsprachigen Raumes auch ist, so ungewöhnlich ist ihr Agieren für viele: Karriere – ja. Aber nicht um jeden Preis an einem „staatstragenden“ Haus. Um keinen, betont sie immer wieder, und dass die Art, wie sie seit bald zwei Jahrzehnten arbeitet, „eine Freiheit erzeugt, die an so genannten Stadt- und Staatstheatern nur die wenigsten haben. Und diese Freiheit wird im Allgemeinen nicht mehr, sondern weniger. Doch mein Bedürfnis – und das wird stärker, umso älter ich werde – ist, freier zu werden, weiter zu werden, was ja auch in meinen Augen ein gesunder Prozess des Alterns ist, ehe man dann endgültig abfliegt. So einfach ist es.“ Die Neugier, die Anna Maria Krassnigg stets begleitet, führt zu immer wieder neuen Begegnungen und, verrät sie gegen Ende unseres Gesprächs, auch zu ganz persönlichen Wiederentdeckungen, etwa, „wie wichtig mir das Singen ist“. So steht auch schon ein großes neues Projekt in der „Pipeline“, bei dem sie wieder neue Ausdrucksformen ausprobieren wird. „Ich werde mich in den nächsten Jahren künstlerisch noch weiter radikalisieren“, verspricht Krassnigg zum Abschied. Ein Versprechen, das Lust macht, ihre Arbeit auch weiterhin zu begleiten.

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