„Schlüsselemente des Überlebens“

George Taboris Mein Kampf: auch heute relevant, radikal und mutig. Das Burgtheater bringt im Oktober das Erfolgsstück des ungarisch-jüdischen Autors, Regisseurs und Schauspielers.

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Itay Tiran. „Sie leben und erleben ihre Traumata in einem fortwährenden Prozess.“ ©Reinhard Engel

Itay Tiran feierte als Regisseur seinen erfolgreichen Einstand in Wien mit der Saisoneröffnung am Akademietheater 2019/20: Er inszenierte Vögel, das viersprachige Stück des libanesisch-kanadischen Autors Wajdi Mouawad. Als Ensemblemitglied des Burgtheaters überzeugte er als Schauspieler in Der Henker der jüdischen Autorin Maria Lazar sowie in der Rolle des Shylock in This is Venice, einer Collage aus Othello und Der Kaufmann von Venedig.
Die wahrlich große Herausforderung und wesentlich heiklere Aufgabe steht Tiran mit der Oktober-Premiere am Burgtheater bevor: Er inszeniert 33 Jahre nach der Uraufführung im Akademietheater durch George Tabori (1914–2007) dessen vielschichtige und nicht unumstrittene Farce Mein Kampf.
Im Gespräch mit WINA schildert er den Reiz und die Tücken seiner Arbeit.

Wina: George Taboris brutal-komödiantisches und gleichzeitig emotional forderndes Stück spielt lange vor der Schoah: Im Männerwohnheim in der Wiener Blutgasse mietet sich der junge Maler Adolf Hitler ein, der an der Wiener Kunstakademie studieren möchte. Er trifft dort auf den jüdischen Buchhändler Schlomo Herzl, der sich hingebungsvoll um diesen unerfahrenen Provinzler kümmert. Wie konnte Tabori diesem späteren Massenmörder in einer grotesken Komödie so ein „menschliches Antlitz“ geben?
Itay Tiran: Als ich das Stück zuerst gelesen habe, dachte ich mir auch, „das ist heftig“, und fand nicht gleich den Zugang. Erst als ich die Fülle an Bezügen, Anspielungen, Symbolen und Zitaten, die das Ganze durchziehen, verstanden habe, wusste ich: Der wirkliche Name des Stückes muss Sein Kampf heißen, denn das ist eine Plattform, auf der Tabori sein Lebensthema abzuarbeiten versucht: sein Trauma der Schoah.

Ist es die Auseinandersetzung mit dem, was er selbst den „Fluch, seinen Feind zu verstehen“ genannt hat?
Ja, genau, denn er versucht hier, mit seiner Vergangenheit und seinen größten Ängsten durch diese Art der Drama-Therapie irgendwie umzugehen. Sobald ich das erkannt habe, war meine Verbindung zu dem Stück hergestellt. Und zwar nicht als eine intellektuelle, fantasievolle Unterhaltung, sondern voller Bewunderung und Respekt vor so viel Mut. Denn plötzlich begriff ich, dass Tabori die Schlüsselelemente des Überlebens des jüdischen Volkes da hineingepackt hat: Erinnerung, Empathie, Intellekt und vor allem Humor.

»Er versucht hier, mit seiner Vergangenheit und seinen größten Ängsten durch diese Art der Drama-Therapie irgendwie umzugehen.«

Geht es Tabori nur um sein privates, persönliches Trauma, dass sein Vater in Auschwitz ermordet wurde?
Ja, aber nicht nur. Denn er betrachtet alles auch aus dem Blickwinkel des kollektiven jüdischen Traumas: Er geht dorthin zurück und rekonstruiert das Trauma – und ich habe das in mein Konzept inkludiert. Ich gehöre zur dritten Generation der Überlebenden und kenne persönlich die Schicksale vieler Überlebender in Israel – inklusive meiner Großmutter Deborah. Im Hebräischen wird sprachlich sehr treffend unterschieden zwischen „Überlebenden der Schoah“ (nizolei ha’shoah) und „Überbleibsel der Schoah“ (sridej ha’shoah): Damit ist gemeint, dass diese Menschen noch da sind, wie lebende Ruinen aus der Vergangenheit, die aber nicht mehr lange da sein werden.
Der Holocaust war aber in ihrem Leben kein Schiff, das einfach versunken ist und aus dem sie sich retten konnten. Es ist kein begrenztes Erlebnis, kein abgeschlossenes Kapitel: Sie leben und erleben ihre Traumata in einem fortwährenden Prozess. Bei älteren Menschen verschwimmt ja die Realität oft mit den Träumen aus der Vergangenheit: Manche glaubten sogar, in ihrem heutigen Arzt den SS-Arzt Mengele zu erkennen.

Warum glauben Sie hat die Direktion einen jüdisch/israelischen Regisseur mit Mein Kampf betraut? Wollte sich niemand anderer bei diesem heiklen Stück die Finger verbrennen?
Das müssen Sie die Direktion fragen. Ich weiß es nicht, würde es auch gerne wissen. Vielleicht dachten sie einfach, jemand, der die Nähe und das Verständnis für die Materie hat, wäre ein Mehrwert. Das hoffe ich, vor allem, wenn es eine gute Aufführung wird.
Ich habe zwar Theaterstücke von Tabori in Israel gesehen, leider wurde aber dieser bedeutendste jüdische Autor der Gegenwart nicht oft und nicht auf großen Bühnen gespielt.

Auf der Probebühne. Itay Tiran im Gespräch mit WINA-Autorin Marta S. Halpert. ©Reinhard Engel

War die israelische Gesellschaft vielleicht noch nicht bereit, Hitler als „menschelnde“ Bühnenfigur zu akzeptieren?
Tatsache ist, dass Tabori seiner Zeit voraus war – obwohl 50 Jahre zuvor schon Charlie Chaplin mit dem Großen Diktator in die gleiche Richtung ging. Diese tiefsinnige Farce gehörte bald zu den meistgespielten Stücken an deutschsprachigen Theatern. Vermutlich auch deshalb, weil Tabori den scheinbar Undarstellbaren mit einem Lachen vom Thron holt. Er hat sich an ein Tabuthema gewagt, und sogar wenn du Jude bist und so eine tragische Familiengeschichte hast wie Tabori, also den „Stempel“ besitzt, das machen zu dürfen, mussten Israelis und Überlebende einen langen, mühsamen Weg gehen, um den ironisch-sarkastischen Zugang zu ertragen.

»Das ist das radikal Mutigste, das man einem solchen Mörder anbieten kann. Er will damit nicht weniger andeuten als: Wenn er ihn zurückbringen und durch Liebe verändern könnte, würde er es tun.«
Itay Tiran

In Wien sah man das Stück zuletzt 2008 am Theater in der Josefstadt. Hat es heute noch Relevanz?
Ja, eindeutig: Taboris Mein Kampf bleibt relevant und wichtig, das Stück hat bereits den Status eines Klassikers. Apropos, er schrieb es im Jahr der Waldheim-Wahl, 1986. Hat ihn das beeinflusst? Wenn ich sehe, wie unsere heutigen Autokraten und Demagogen wichtig genommen werden, bleibt liberalen Menschen nur diese eine Chance: Sie müssen die heiße Luft herausnehmen, sie müssen diese Typen lächerlich machen. Es ist unerträglich, diese vielen Dokumentarfilme auf History Channels zu sehen, in denen Diktatoren und Massenmörder zu Monstern aufgeblasen werden, das gleicht fast einer Ikonisierung. Tabori sieht und fragt hier anders: „Was macht Ihr so ein Aufhebens um diese Verlierer: Das ist unser Versagen, wir sind schuld, wenn wir diese Elemente hochkommen lassen.“

Denken Sie in diesem Zusammenhang auch an die Rezeption in Österreich?
Diese Eigenverantwortung bewusst zu akzeptieren, ist nicht nur auf österreichischer, sondern auf globaler Ebene wichtig. Insbesondere, wenn wir sehen, was in Ungarn, Israel, Italien, in den USA und Asien passiert: Wir sind Zeugen eines dramatischen Umbruchs, bei dem es bereits zum guten Ton gehört, einfach gegen alles und jeden zu hetzen, unter dem Motto: Teile und herrsche. Daher müssen wir uns fragen, was geschehen ist, dass die Massen wieder mit rechtspopulistischen Parolen zu begeistern sind. Fakten werden verworfen, es zählen nur mehr die Bauchgefühle.

Bei der Uraufführung 1987 in Wien konnte ich beobachten, wie jüdische und nicht-jüdische Zuschauer Taboris Humor gegenüber sehr verunsichert waren, ob und wann sie lachen dürfen. Haben Sie Angst vor peinlichen Publikumslachern, die die Balance zwischen Komödie und Tragödie aushebeln?
Auf die Frage im Stück „Tut es weh?“, antwortet Tabori: „Nur, wenn ich lache.“ Lachen hat viel mit der Bereitschaft zu tun, sich dem Schmerz zu öffnen, die Hemmschwelle sinkt, man ist verletzlicher. Das nutzt Tabori auch beinhart aus: Er nimmt die Zuschauer zuerst mit dem Vorwand einer harmlosen Komödie auf den vermeintlich leichten Weg mit –und in dem Moment, wenn der Bauch vom Lachen ganz weich ist, fährt er mit einem Faustschlag in die Magengrube. Das bringt die Menschen vielleicht auch in Österreich zum Nachdenken über Rassismus und Antisemitismus: Das Lachen öffnet Körper und Seele, macht uns empfänglicher für Kritik, aber auch für Heilung, Das ist genau, was Tabori macht. Denn Komödie ist ja immer auch Realität, also wenn das Erzählen eines jüdischen Witzes zum Überleben verhilft, dann ist das Gleichgewicht wieder hergestellt.

Nicht grundlos hat Tabori seinem Stück ein Gedicht von Hölderlin vorangestellt: „Immer spielt ihr und scherzt? ihr müßt! o Freunde! mir geht dies/In die Seele, denn dies müssen Verzweifelte nur.“ Verlangt der Schmerz nach Scherz?
Es ist sogar die Quintessenz des Jüdischen. Bei Tabori funktioniert es vor allem, weil in seinem Stück der Witz nicht ein schmückendes Beiwerk ist, sondern der Kern des Kunstgriffs. Er nannte es einen „theologisch-talmudischen Schwank“, weil trotz dieser belustigenden Form ein Thema biblischer Größe verhandelt wird. „Wenn man die Heilige Schrift ernst nimmt, was ich, je älter ich werde, tue, dann verlangt die jüdische und die christliche Bibel, dass man den Feind liebt wie sich selber“, sagte Tabori.
Vielleicht war er da naiv: Er hoffte, durch die Rekonstruktion des Traumas Hitler verändern zu können, indem er ihm Liebe gewährte. Das ist der radikalste Gedanke überhaupt. Als Hitler im Stück zum ersten Mal weint, nachdem Shlomo Herzl ihn einer kurzen Psychoanalyse unterzogen hatte, sagt der Jude Herzl, „ich liebe dich“. Das ist das radikal Mutigste, das man einem solchen Mörder anbieten kann. Er will damit nicht weniger andeuten als: Wenn er ihn zurückbringen und durch Liebe verändern könnte, würde er es tun.

Die Rolle von G-tt hat George Tabori vor 33 Jahren im Akademietheater selbst übernommen. Werden Sie das Publikum auch überraschen?
Nein, diese Rolle übernimmt der wunderbare Oliver Nägele. Ich bin begeistert von meinem Schauspieler-Team, auch Markus Hering ist großartig als Herzl.

Was kommt nach dieser „schweren Kost“ auf Sie zu?
In diesem Jahr freue ich mich auf die neuerliche Zusammenarbeit mit Mateja Koležnik als Regisseurin von Schnitzlers Fräulein Juli. Und im Frühjahr beginnen bereits die Proben für Friedrich Schillers Maria Stuart bei den Salzburger Festspielen in der Regie von Direktor Martin Kušej. Diese Produktion musste 2020 ja leider abgesagt werden.

Itay Tiran
1980 in Petach Tikva geboren, studierte ab 1999 Schauspiel an der Beit Zvi Acting School. Seit der Saison 2019/2020 ist er Schauspieler und Regisseur im Ensemble des Wiener Burgtheaters in der Direktion Martin Kusej.
burgtheater.at

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