Spiegel der Trauer

„Erlebnis Czernowitz“. „Erlebnis Ukraine“. In seinen Fotodokumentationen spürt der Maler und Fotograf Ulrich Gansert einer zerstörten jüdischen Welt nach.

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Hanipol (o.) und Korez (u.) sind zwei jener Dörfer und kleinen Städte mit großer jüdischer Vergangenhet, die der Fotograf Ulrich Gansert auf seiner Reise in eine einst blühende und im Weltkrieg völlig zerstörte jüdische Bukowina in Bildern festgehalten hat. © Ulrich Gansterer/Löckr Verlag

Ich fahre immer im Winter, im Februar, damit schlechtes Wetter ist. Ich will keine Tourismusfotos mit grünen Bäumen und Sonnenschein machen, und das Ganze sieht dann vielleicht wie ein Urlaubsziel aus.“
Nein, Reiseführer der herkömmlichen Art sind Ulrich Ganserts großformatige Bildbände keineswegs, dazu sind sie zu gewichtig und das in jeder Hinsicht. Dennoch bekommt man allein schon beim Blättern das Gefühl, ja, da müsste man einmal hinfahren, denn nur dort, vor Ort, wird man diese Aura spüren können, der Gansert so verfallen scheint, dass es ihn immer wieder hinzieht. Mit dem Zug, neuerdings sogar mit einem direkten Nachtzug, gelangt er nach Lemberg und von dort mit dem Bus nach Czernowitz, wo ihn sein „freundschaftlich verbundener Reiseführer“ Pavlo Kolyadinski samt Kleinbus schon erwartet.
Dem „Erlebnis Czernowitz“ ist auch sein erstes Fotobuch gewidmet. Auf den Spuren Paul Celans in der ehemaligen Hauptstadt der Bukowina, wo etwa auch Rose Ausländer geboren wurde, porträtiert er nicht nur die literarischen Erinnerungsorte, denn weit darüber hinaus ziehen die mystische Welt der Rabbis, ihre legendären Höfe und die einst blühende, jäh zerstörte jüdische Kultur den Foto-Künstler fast magisch an.

© Ulrich Gansterer/Löckr Verlag

Woher kommt diese Faszination? „Meine erste Berührung mit der jüdischen Welt kam aus der Literatur. Schon früh habe ich Kafka gelesen. Wir waren Flüchtlinge aus der DDR in Westdeutschland, und da habe ich im Radio erstmals Georg Kreisler und Karl Kraus gehört. Später faszinierte mich die Wiener Schule des Phantastischen Realismus, vor allem Arik Brauer und Ernst Fuchs, und als ich schließlich nach Wien kam, war ich Arik Brauers Assistent. Dann hat mich als Alt-68er der Maidan (Bürgerproteste in Kiew im November 2013) so berührt, dass ich beschloss, nach Kiew zu fahren. Daraus entstand die Idee zu einem Buch über Czernowitz, das vier Perspektiven verfolgt. Der Schriftsteller Paul Celan und seine Jugend ist eine, die zweite das Stadtbild. Czernowitz war ja eine österreichische Landeshauptstadt. Für mich ist es wie eine Fata Morgana, denn die ganze Innenstadtarchitektur steht völlig unversehrt da. Da haben zwei Weltkriege und vierzig Jahre Sowjetherrschaft nichts zerstört. Der dritte Aspekt ist die jüdische Kultur. Schon vor Jahrzehnten hab’  ich Martin Buber und auch den jüdischen Historiker Simon Dubnow gelesen, und die Welt des Chassidismus hat mich sehr beeindruckt. Der vierte Fokus sind die Orte des Nazi-Terrors, der Massaker.“

© Ulrich Gansterer/Löckr Verlag

Zum Beispiel Berditschew. Ähnliche Motive verfolgt Gansert in seinem Band über die Ukraine. Doch mutet dieser im Vergleich zur noch relativ lebendigen Welt von Czernowitz viel düsterer, melancholischer, trauriger an. Grau-braun, kalt und abweisend die Natur, fast schwarz-weiß die vielen Friedhöfe, die verfallenden Synagogen, die verlassenen Gedenkstätten.
„Diese gesteigerte Düsternis entspricht meinem ästhetischen Konzept und meiner Absicht, die Trauer so eindringlich wie möglich zu spiegeln.“
Im ehemaligen Galizien und Wolhynien sucht Gansert nach den Lebensorten der dort einst beheimateten großen Dichter. Joseph Roth in Brody, Bruno Schulz in Drohobytsch und Joseph Conrad in Berdit­schew. Letzterer war, fast als Ausnahme, kein Jude, war doch Berditschew ein jüdischer Kosmos par excellence, aber auch, wie Gansert aufzeigt, durchaus ein Ort von Welt. Einerseits seit dem 18. Jahrhundert eines der wichtigsten Zentren des Chassidismus, hatte Berditschew lange Zeit eine mehrheitlich jüdische Bevölkerung, andererseits heiratete etwa der berühmte französische Schriftsteller Honoré de Balzac in der dortigen Stadtpfarrkirche seine langjährige Gefährtin, die polnische Gräfin Ewelina Hanska.

»Diese gesteigerte Düsternis entspricht meinem ästhetischen Konzept und meiner Absicht,
die Trauer so eindringlich wie möglich zu spiegeln.«
Ulrich Gansert

 

© Ulrich Gansterer/Löckr Verlag

Im Kontrast zur umgebenden Tristesse strahlen übrigens in der gesamten Region die prächtig restaurierten Kirchen mit ihren goldenen Kuppeln.
Eine ganz kleine jüdische Gemeinde scheint es noch in dem Ort zu geben, in dem Mitte September 1941 die gesamte jüdische Bevölkerung, 30.000 Menschen, einem der blutigsten und grausamsten Massaker der Schoah zum Opfer fielen. Unter tätiger Mithilfe der ukrainischen Bevölkerung, wie Gansert weiß. Wie deren Nachkommen heute zu dieser Vergangenheit stehen, dazu fehle ihm der Einblick, denn es komme kaum je zu einem persönlichen Kontakt.
„In Berditschew haben wir den Rabbiner besucht, aber die eigentliche große Synagoge ist zurzeit baufällig. Es gibt ein Denkmal, wo das Massaker war, aber es hat keine Zufahrt für Autos, da muss man zu Fuß gehen übers Feld, also leicht machen sie es einem nicht. Der jüdische Friedhof ist hingegen gut zugänglich und gepflegt, vor zwanzig Jahren war er noch ganz überwachsen.“

© Ulrich Gansterer/Löckr Verlag

Eine kunsthistorische Besonderheit, nämlich eine auffällige Schuhform, zeichnet die Gräber auf diesem Friedhof aus, so einzigartig wie diese Stadt, einst geistiges Zentrum, nun provinzielle Peripherie.
Auf seinen Streifzügen trifft Gansert aber noch gelegentlich auf heutiges jüdisches Leben.
„In Uman habe ich das Grab des Rabbi Nachman von Bratzlav besucht, das ja eine Pilgerstätte für Chassiden ist. In Sowjet-zeiten haben sie den Pilgerort, der schon lange bestand, quasi abmontiert. Danach wurde er wieder hergestellt. Dort habe ich eine Gruppe von etwa fünfzig Betenden angetroffen, an einem bestimmten Jahrestag sollen es Zehntausende sein. Mein Reiseführer hat mich auch zur Mikwe des legendären Baal Schem Tov (Begründer des Chassidismus) gefahren.“
Dass der malende Fotograf und fotografierende Maler in seiner „Fotodokumentation“, wie er seine Arbeit nennt, immer auch den Geist des Chassidismus vor Augen hat, beweisen die stimmig angefügten Zitate aus diversen jüdisch-literarischen Quellen, etwa aus den Erzählungen der Chassidim, die dem Betrachter einen weiteren spirituellen Horizont eröffnen.

© Ulrich Gansterer/Löckr Verlag

»Allein das kleine Schtetl Korez hatte bereits im 18. Jahrhundert vier hebräische Druckereien.« 
Ulrich Gansert

 

Es wird also wieder ein Februar kommen, und Ulrich Gansert wird sich aus seinem Atelier mitten im Achten, in dem er gerade seine nächste Ausstellung vorbereitet, auf den Weg an das Ende der Welt machen, wie die entlegene Ukraine in Monarchiezeiten oft genannt wurde.

Die jüdische Gemeinde von Mesritsch umfasste Ende der 1930er-Jahre mit etwa 12.000 Mitgliedern fast drei Viertel der Bevölkerung. Die Schoah haben kaum über 100 Juden überlebt. © Ulrich Gansterer/Löckr Verlag

Wie erklärt er sich die unglaubliche Dichte an literarischen Zeugnissen in diesem einstigen Völker- und Sprachengemisch und die Jahrhunderte lang blühende jüdische Schriftkultur?
„Diese Perspektive vom Ende der Welt hatten ja nur die Westösterreicher. Für die Menschen dort war das nicht so. Die Juden waren im Gegensatz zur anderen Bevölkerung seit Jahrhunderten alphabetisiert, das ist sicher auch eine der Wurzeln für diese Blüte. Allein das kleine Schtetl Korez hatte bereits im 18. Jahrhundert vier hebräische Druckereien.“
Davon ist freilich nichts mehr zu finden, doch folgt man Gansert auf seiner Spurensuche, wird man jedenfalls mehr entdecken als der flüchtige Tourist. Ob man allerdings deshalb im kalten Februar hin muss?

„Die Kälte ist auch so ein Mythos. Es ist gar nicht kälter als bei uns. Ich musste zum Beispiel zweimal nach Brody fahren, denn ich wollte den Friedhof im Schnee fotografieren, weil er dann einem Bild von Caspar David Friedrich ähnlich ist. Beim ersten Mal gab es dort nämlich gar keinen Schnee.“

Ulrich Gansert:
Erlebnis Czernowitz.
Auf den Spuren von Paul Celan. Landschaften der Dichtung. Löcker Verlag 2016, 260 S., € 49,80
Ulrich Gansert:
Erlebnis Ukraine.
Auf den Spuren von Joseph Conrad, Bruno Schulz und Joseph Roth. Löcker Verlag 2019, 260 S., € 49,80

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