Tel Aviv, Sommer 2023. The future is here

Während Sie diese Zeitschrift in Händen halten, mag sich gerade entscheiden, ob es in Israel von nun an zweierlei Gesetzbücher geben wird. Man kann hier aber auch schon mal die neue Stadtbahn ausprobieren und sich an der Vielfalt des Landes erfreuen.

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Nach vielen Jahren Verspätung revolutioniert in Tel Aviv die neue Bahnlinie den öffentlichen Verkehr. ©picturedesk.com

Diese Zeilen werden Ende August geschrieben. Die zeitliche Einordnung ist wichtig, denn niemand weiß, wie die Lage in Israel nach dem 12. September sein wird. An diesem Tag soll die große Anhörung stattfinden, deren Ausgang darüber entscheidet, ob es im Land möglicherweise künftig zweierlei Gesetzbücher geben wird. Eines wäre dann gemacht von der Regierung, in Abweichung von bisher geltendem Recht – mit anderen Worten eine Staatskrise. In einer historischen Premiere werden erstmals alle fünfzehn Obersten Richter zusammenkommen. Sie werden sich mit mehreren Petitionen gegen die jüngste hoch umstrittene – Gesetzesänderung befassen, die keine Angemessenheitsklausel mehr dulden möchte. Darauf konnte sich das Oberste Gericht bisher berufen, um Entscheidungen der Regierung aufzuheben, die es als unangemessen einordnete.

Bis Mitte September aber kann noch viel passieren. Und so ist jetzt wenigstens noch ein bisserl Zeit für erfreuliche Nachrichten – z. B. die neue Tram in Tel Aviv, die ja auch (oder vor allem?) eine U-Bahn ist. Mit vielen Jahren Verspätung und einem geschwächten Nervensystem der Anwohner befördert die Rakevet HaKala seit dem 18. August Arbeitspendler, einfach nur Neugierige und Sommertouristen durch die Gegend zwischen Bat Jam und Petach Tikwa. Dass sich nun auf diese Weise die Stadt durchqueren lässt, wenn auch bisher noch mit einer einzigen Linie, macht Tel Aviv irgendwie erst jetzt zu einer richtigen Metropole.

Die Fahrt geht streckenweise drunter und drüber. Die nagelneuen Rolltreppen der Station Carlebach, nicht weit von der TLV Mall, führen erst einmal in die Tiefe. Es riecht hier überall nach neu. Auf dem Bahnsteig unten wartet hilfsbereites „Erklärpersonal“. Die Ankündigungstafeln wechseln zwischen Ivrit, Englisch und Arabisch. Die Züge fahren hinter einer Glaswand ein, keiner kann so aufs Gleis fallen. In Zug selbst zeigt sich eine Vielfalt, wie sie seit Beginn der Justizreform in vielen Familien nicht mehr möglich ist. Hightech-Arbeiter mit elektronischen Bürokarten am Gürtel, Teenager mit iPods im Ohr, Rekrutinnen und Zeitsoldaten in Uniform, Haredim aus Bnei Brak, Araber aus Jaffa. Ein älteres Paar bittet darum, fotografiert zu werden. Andere machen Selfies.

„Wo fahren wir hin?“, will ein fünfjähriges Mädchen wissen.
„Nach Jaffa“,
antwortet der Vater.
„Dort gehen wir
ein Eis essen und die Füße ins Meer tauchen und warten darauf, dass die Sommerferien zu Ende gehen.“

Die Geschwindigkeit ist ebenso unterschiedlich. Im Untergrund rast die Bahn regelrecht, oben auf den Straßen kriecht sie bei Tageslicht dahin. Es wirkt so, als würde sie von einer trittfesten Unterlage auf Glatteis wechseln. Noch wird geübt, die Sorge aber gilt vor allem den zunehmend unberechenbaren Verkehrsverhältnissen, die jetzt auch noch die Anwesenheit einer Straßenbahn mit einschließen.

Unterwegs sind auch Eltern mit Kindern. „Wo fahren wir hin?“, will ein fünfjähriges Mädchen wissen. „Nach Jaffa“, antwortet der Vater. „Dort gehen wir ein Eis essen und die Füße ins Meer tauchen und warten darauf, dass die Sommerferien zu Ende gehen.“ Nebenan sitzt ein Mann mit seinem betagten Vater, die sich für die Straßennamen interessieren. „Ein bisschen haben wir die Orientierung verloren“, gesteht der Sohn, „ich kenne die Stadt ja nur auf dem Motorrad. Da fährt man ganz andere Strecken und weiß oft gar nicht, wo man sich genau befindet.“

An der Station Salame, direkt am Jerusalem Boulevard, steigen die meisten aus. Lange war diese Straße lahmgelegt gewesen, jetzt verläuft dort in der Mitte ein Radweg entlang der Gleise, links und rechts auf den Gehsteigen laden Cafés, Restaurants und Bars auf ihre Terrassen ein. Ein Lautsprecher kündigt dreisprachig an, dass Elekt – roroller und Fahrräder nur in zusammengeklapp – tem Zustand mitgenommen werden dürfen. Auch das ist also möglich.

© nta.co.il

Wer in Bat Jam wohnt oder in Petach Tikwa und jetzt mit der roten Linie zur Arbeit fahren kann, für den ist die neue Bahn revolutionär. Andere müssen sich noch eine Weile gedulden, zwei weitere Strecken befinden sich in Bau, aber es wird noch ein paar Jahre dauern, bis auch die lila, orange und grüne Linie fertig sein werden. Man kann nur spekulieren, ob bis dahin andere Regelungen herrschen könnten, die es der Rak – evet Hakala in Tel Aviv erlauben würden, auch am Schabbat zu fahren. Die meisten Bewohner würden sich das wünschen. Vor dem letzten Re – gierungswechsel war diese Möglichkeit zumin – dest angedacht worden. Jetzt im Sommer, wo die Sonne relativ spät untergeht, wird die neue Bahn dann nach Schabbat-Ende am Samstagabend im – merhin noch 43 Minuten lang fahren können. Die Zeitspanne aber werde sich vergrößern, meinte ein Reporter im Fernsehen zuversichtlich, je mehr man in den Winter hineinkomme. Was bis dahin allerdings noch alles sein kann, wagt der – zeit wohl kaum jemand zu prognostizieren.

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