Wo sich hohe Kunst mit Charakterstärke paart

András Schiff, der unbestrittene Sir am Klavier, weiß, woher er kommt und wohin er geht, wenn alle Stricke reißen – nach Israel.

1771
Nahe der Grenze zu seiner ungarischen Heimat bedankte sich András Schiff beim zahlreichen begeisterten Publikum. Viele hatten eine weite Reise nach Lockenhaus auf sich genommen. © Reinhard Engel

Er war der Mann der ersten Stunde – und blieb dem Kammermusikfest Lockenhaus im Burgenland ebenso verbunden wie seinem Freund Gideon Kremer, der es 1981 gegründet hat. „Ich kann gar nicht glauben, dass es mehr als 40 Jahre her ist: Ich habe meine Frau, die Violinistin Yuuko Shiokawa, hier beim gemeinsamen Spielen kennengelernt“, sinniert Sir András Schiff, der kurz davor – nach einem mehr als dreistündigen Klavier-Solo-Konzert – stürmische Standing Ovations in der barocken Pfarrkirche auskosten konnte. Wer dieser Sternstunde der musikalischen Interpretation von Werken Bachs, Mozarts, Beethovens und Haydns in einem großen harmonisch und inhaltlich verknüpften Bogen beiwohnen durfte, war mehr als privilegiert, großzügig beschenkt.

Mit einem hellen, breitkrempigen Strohhut, ganz in legerem Schwarz kommt der feingliedrige Mann und größte Pianist unserer Zeit zum eher einfachen Buffet-Nachtmahl in das Schloss Esterházy. Hinter jungen Künstlern, Musikerinnen, Technikern und Konzertbesucherinnen steht er geduldig in der Warteschlange. Kurz darauf wird er genüsslich sein Krügel Bier kippen.

„Dieses Musikfest ist noch immer so zauberhaft wie zur Zeit seiner Gründung, es ist nicht in andere Dimensionen hinausgewachsen, es bleibt immer noch sehr menschlich“, lacht Schiff, der am 21. Dezember 2023 seinen 70. Geburtstag feiern wird. „Wichtiges Einzelmerkmal ist diese Spontaneität in Lockenhaus, aber auch das Publikum ist etwas Besonderes: Es kommt mit großem Vertrauen hierher, ohne zu wissen, was es zu hören bekommt. Auch das war von Beginn an mit Gideon Kremer so: Man hat erst am Vorabend beschlossen, was man spielen wird.“

Diese unbeschwerte Lust, fernab der Großstadt mit hochkarätigen Musikern und Künstlerinnen zu musizieren, schätzt auch der vielbeschäftige Meister am Klavier, der nicht nur die österreichische, sondern auch die britische Staatsbürgerschaft besitzt und sowohl in London wie auch in Florenz ein Zuhause hat. „Lockerer und innerlich wie äußerlich aufgeheiterter hat man ein so individualistisches Künstlervölkchen selten einmal erlebt. Showgebärden sind in Lockenhaus allemal verpönt“, war im Gründungsjahr 1981 in der Zeit über das Kammermusikfest Lockenhaus zu lesen.

Doch für den gebürtigen Budapester András Schiff fühlt sich diese Nähe zu Ungarn im südlichen Burgenland alles andere als locker und unbeschwert an. Ganz im Gegenteil: Der begnadete Musiker klingt plötzlich wehmütig, versinkt fast traurig in sich. Kurz darauf richtet er sich schnell wieder auf, um jene feste und unbeugsame Haltung einzunehmen, die er politisch schon seit dem Jahr 2000 in Bezug auf das Orbán’sche Ungarn vertritt. „Ich war zuletzt 2010 bei der Beerdigung meiner Mutter nur kurz in Budapest. Das tut mir alles sehr weh, Budapest fehlt mir, aber das geht nicht anders, leider.“

András Schiff hatte im Laufe der Jahre schon öfter erwähnt, dass er wegen seiner offenen Kritik an Regierungschef Viktor Orbán in seinem Geburtsland zur persona non grata gestempelt wurde – und vor allem unaufhörlich antisemitischen Attacken in sozialen Netzwerken ausgesetzt ist. „Ein Mann drohte mir im Internet, er werde mir beide Hände abhacken, sollte ich es wagen, nach Ungarn zu kommen. Ok, das wollte ich nun wirklich nicht riskieren …“

Starpianist András Schiff nach dem Konzert im Gespräch mit Marta S. Halpert © Reinhard Engel

Das Wiedersehen mit Schul- und anderen Freunden, die sich auf improvisierten Sitzen auf der Bühne, also vor dem Barockaltar, um den Ausnahmekünstler scharten, scheint Schiff emotionalisiert zu haben, denn auch bei unserem Gespräch schlägt er scharfe Töne an: „Die Leute lieben Viktor Orbán, also jedenfalls ein Großteil von ihnen. Ungarn ist eine Diktatur, und dass so viele Ungarn das toll finden, ist sehr schlimm.“ Richtet Ungarn auch Schaden innerhalb der EU an? „Ja, eindeutig. Ich hätte Ungarn schon längst aus der EU hinausgeschmissen. Leider hat das – auch die von mir sehr bewunderte – Angela Merkel nicht gemacht. Deutschland hätte das tun sollen, aber es hat zu viele wirtschaftliche Interessen vor Ort: Audi, Siemens, Opel etc., das haben sie verabsäumt, und jetzt ist es zu spät“, erregt sich Schiff.

„Damit hat Deutschland einen Präzedenzfall geschaffen. Auch, weil bei der Gründung der EU nicht daran gedacht wurde, was mit diesem Veto und der absoluten Einstimmigkeit alles passieren kann.“ In einer normalen Gesellschaft gäbe es so etwas nicht, ist Schiff überzeugt, dass gleich 27 Mitgliedsstaaten einstimmig für etwas votieren müssten. Es sollte nur eine Zweidrittelmehrheit erforderlich sein. „Das ist ein Riesenfehler, und das sollte auch korrigierbar sein, das hat nicht der liebe G-tt gemacht. Wenn man sieht, also erkennt, dass es nicht funktioniert, ändert man das.“

Musikalischer Vater Bach. András Schiff wurde in eine jüdisch-bürgerliche Budapester Familie hineingeboren, in der sonntägliche Treffen mit Hausmusik ganz selbstverständlich waren. „Meine Mutter war eine gute Pianistin, strebte aber wegen ihres großen Lampenfiebers keine Karriere an“, bedauert der Sohn. Der Vater, Gynäkologe und Amateurgeiger, starb 1961, als András erst acht Jahre alt war. Für beide Eltern war es die zweite Ehe: Der erste Mann der Mutter und die erste Frau des Vaters waren in NS-Lagern ermordet worden. „Ich war ein sehr lebendiges Einzelkind, wir hatten ein Klavier, aber wir hörten auch immer Musik aus dem Radio. Mein Vater hatte sehr viele alte 78er-Platten, vor allem Violinaufnahmen – wunderbare mit Bronisław Huberman und Yehudi Menuhin.“ Diese Aufnahmen habe er immer wieder gehört und dann versucht – laut Auskunft seiner Mutter sogar, bevor er sprechen konnte –, mit einem Finger auf dem Klavier die Melodien nachzuspielen.

„Wir haben zwar eine Botschaft, aber trotzdem
kann man die Welt mit Musik nicht erlösen,
die Welt ist in einem
fürchterlichen Zustand,
vielleicht war das schon immer so.“

András Schiff

 

Schiff begann mit fünf Jahren Klavier zu spielen. Er lernte zunächst bei Elisabeth Vadász und nahm mit 14 Jahren sein Studium an der Franz-Liszt-Musikakademie in Budapest auf, unter anderem bei Ferenc Rados, Pál Kadosa und György Kurtág. Mehrfach verbrachte er seine Sommerferien in England bei Verwandten. Dort schloss er Freundschaft mit dem rund 40 Jahre älteren Dirigenten und Cembalisten George Malcolm, mit dem er zusammen musizierte und der in ihm Verständnis für die Musik Johann Sebastian Bachs weckte. Auch das Programm an diesem einzigartigen Soloabend in Lockenhaus eröffnet Schiff mit Bachs Goldberg Variationen.

„Es gab auch große Musik vor Bach, aber er bleibt der wichtigste Mensch in der Musikgeschichte“, drückt es der Klaviervirtuose aus. „Ich glaube ganz fest daran, Bach ist der Größte, auch eine Vaterfigur. Mozart und Beethoven würden das sicher einstimmig unterschreiben, dass Bach ihr musikalischer Vater war, denn sie haben alle von ihm gelernt.“

Schiff nahm sein begeistertes Publikum mit auf die musikalische Reise, indem er alle Verbindungen und Übergänge zwischen den Musikstücken und ihren unterschiedlichen Komponisten genau erklärte und auch am Klavier kurz anstimmte. „Ich glaube fest daran, dass Musik nicht nur Unterhaltung ist, damit sich manche Menschen wohlfühlen. Es ist ein Lernprozess, und wir lernen gemeinsam. Der Fundus an wunderbarer Klaviermusik ist sehr reich, daher versuche ich Schwerpunkte und Zusammenhänge zu finden, damit ein roter Faden zwischen den Stücken entsteht“, gibt der Künstler ein wenig Einblick in sein Erfolgsgeheimnis und fügt gleich hinzu: „Wir haben zwar eine Botschaft, aber trotzdem kann man die Welt mit Musik nicht erlösen, die Welt ist in einem fürchterlichen Zustand, vielleicht war das schon immer so. Jedenfalls müssen wir sehr stolz sein auf die Kunst, die Wissenschaft, denn das alles unterscheidet uns von den Tieren. Ich liebe Tiere, aber sie besitzen weder Kunst noch Wissenschaft: Eine Schwalbe baut zwar ein Nest, aber das ist noch nicht der Dom von Florenz. Die Nachtigall singt, aber das ist nicht die Kunst der Fuge. Die Kunst gibt uns viele Beispiele, wie wir als Menschen, als Gesellschaft funktionieren sollten, aber es funktioniert nicht.“

Gibt es außer Ungarn noch Länder, in denen der Künstler und Mensch Schiff aus politischen Gründen nicht auftritt? „Ja, leider, nach Russland kann man jetzt definitiv nicht gehen. Das tut mir sehr leid, denn ich liebe das dortige Publikum, die Menschen in Russland.“ Im Dezember 2021 – also zwei Monate vor dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 – spielte Sir András Schiff zuletzt einen Klaviersoloabend und dirigierte und spielte mit den Petersburger Philharmonikern. „Es gibt schon noch Länder, wo ich nicht hingehe, zum Beispiel fahre ich nicht in arabische Staaten, bitte um Entschuldigung! Ich bekomme laufend Einladungen nach Abu Dhabi und Dubai, man will mir irrsinnig viel Geld zahlen, doch ich kann immer noch nein sagen.“

Und auch in Israel hat er eine große und treue Fangemeinde. „Ja das stimmt, auch wenn ich sehr kritisch bin, was Israels Politik angeht. Aber als Jude weiß ich, wenn alle Fäden reißen, bleibt uns nur Israel als Zufluchtsort.“ Schiff erzählt von seiner Begeisterung für die vielen Errungenschaften dieses kleinen Landes auf den unterschiedlichsten Gebieten: „Musikalisch ist das Publikum auch so erfreulich und bringt so tolle Talente hervor. Ich habe gerade einen Kurs an der Juilliard School in New York geleitet: Da spielen drei Chinesen, ich habe nichts gegen Chinesen, aber warum muss ich sie in New York unterrichten? In Tel Aviv schaffen es drei Israelis, mit mir zu spielen – und Israel ist kleiner als New York.“

Auffallend viel Ungarisch hörte man in den Gasthäusern, auf den Straßen ab Mittag, bevor das András-Schiff-Konzert begann. Es sah nach etlichen Fahrgemeinschaften aus, die nur für das Konzert mit András Schiff hierher gepilgert waren. „Seit Wochen habe ich Anrufe wegen Konzertkarten aus Ungarn bekommen, immer waren die ‚engsten Freunde‘ von András am Telefon. Am Schluss waren es schon hundert engste Freunde. Da habe ich ihm die Liste vorgelegt, damit er aussucht und entscheidet“, lacht Geiger Géza Rhomberg, seit 2017 kaufmännischer Leiter des Kammermusikfestes Lockenhaus. „Meine Freunde, die extra hierher fahren, um mich zu sehen oder zu hören, wollen mich immer wieder überreden, nach Ungarn zu kommen, aber das geht leider aus politischen Gründen nicht“, bedauert András Schiff. „Deshalb bin ich froh, dass das hier in Lockenhaus so schön zusammenfällt.“

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