Für immer Oktober: 50 Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg

Das Trauma des Kriegs von 1973 paralysierte eine ganze Nation und hallt bis heute nach. Anlässlich seines 50. Jahrestages machen sich ehemalige Veteranen zu einer dreitägigen Jubiläumstour auf, um der israelischen Öffentlichkeit noch nicht erzählte Perspektiven und Standpunkte näherzubringen.

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Anfang 1974 tagte in Jerusalem das israelische Parlament, um über den im Oktober zu Ende gegangenen Jom-Kippur-Krieg zu debattieren. Sie wollten die Fehler und Versäumnisse analysieren, warum die israelischen Streitkräfte (IDF) nicht ausreichend auf den Konflikt vorbereitet waren. Am 6. Oktober 1973 – dem jüdischen Versöhnungstag – starteten zahlreiche arabische Nationen unter Führung von Ägypten und Syrien einen Überraschungsangriff auf Israel, der fast dessen Untergang bedeutete. Nach ersten Erfolgen der Angreifer konnte der jüdische Staat das Blatt nach 19 Tagen doch noch wenden, allerdings mit einem Verlust von fast 3.000 Soldaten und mit über 11.000 Verwundeten. Viele machten den Verteidigungsminister und Helden des Sechstagekriegs von 1967, Mosche Dayan, zum Sündenbock. Auch der Holocaust-Überlebende Salomon Lev, dessen Sohn Shlomo kurz vor dem Waffenstillstand auf den Golanhöhen von einer Rakete zerfetzt wurde. „Mein Vater wollte Dayan töten“, erzählt Gilad Lev aus Tel Aviv. „Er kämpfte in Polen als Partisan gegen die Nazis. Nach allem, was er im Zweiten Weltkrieg erlebt hatte – über den Tod meines Bruders kam er nie hinweg. Als er mit einer Pistole in Jerusalem ankam, wurde er aber von ehemaligen Kameraden an seinem Vorhaben gehindert.“

Der mittlerweile pensionierte Reiseleiter gehörte einer Panzerbrigade an, die im Herbst 1973 an zahlreichen Schlachten im Norden beteiligt war. Für seinen mutigen Einsatz auf den Golanhöhen, um die syrischen Offensive in den Anfangstagen zu stoppen, und seine couragierte Tat, als er seinem Kommandeur – der verletzt hinter feindliche Linien lag – unter Artilleriefeuer das Leben rettete, erhielt er die Tapferkeitsmedaille. Auch kämpfte er mit Infanteristen bei der Rückgewinnung des Hermon-Berges am letzten Kriegstag. Mit ehemaligen Veteranen startete er nun sein dreitägiges „Halbes Jahrhundert danach“- Projekt, eine Art erlebnisorientierter Tourismusreise, die vor dem Hintergrund des 50. Jahrestages des Jom-Kippur-Kriegs einen Einblick in die heutige israelische Gesellschaft bietet.

© Tal Leder

„Das ist der einzige Punkt, an dem man den See Genezareth sieht“, erläutert Lev und weist voller Ehrfurcht auf den atemberaubenden Panoramablick vom Ort Ein Keshatot (arab.: Umm el-Qanatir) auf den südlichen Golanhöhen. „Bis zum Sechstagekrieg verlief die Grenze zwischen Israel und Syrien in Galiläa, danach begann man sechs Jahre lang mit der Besiedlung des Golan, basierend auf der Annahme, dass die Waffenstillstandslinie beide Länder voneinander trennt.“ Doch die zahlreichen Minenfelder, die Überreste von Panzern und die verlassenen Bunker, denen man auf jeder Reise durch den dünn besiedelten hügeligen Landstrich begegnet, deuten immer noch auf das zerstörte Land hin. Und darauf, was sich in dieser Region im Oktober 1973 abspielte. „Hier gibt es eine Art Dissonanz zwischen den Weinbergen, der touristischen Riviera und den Überresten des Kriegs, die überall zu sehen sind“, erklärt Lev.

Die einzigartige Tour beginnt mit einem tiefen Eintauchen in die Geschichte, während die Teilnehmer die archäologische Stätte Ein Keshatot erkunden. Sie steht inmitten der Ruinen der alten Synagoge aus der Mischna- und Talmudzeit und ist eines der prächtigsten G-tteshäuser, die in Israel entdeckt wurden. Dieser Ort wurde nicht zufällig als Ausgangspunkt für die Tour ausgewählt, symbolisiert er doch einen Teil, der zur Zerstörung des Zweiten Tempels 70 n. Chr. führte. Knapp 200 Jahre später gab es eine Wiederbelebung jüdischen Lebens in der Region – ein schillerndes Zeugnis davon sind die auf dem Golan errichteten Synagogen mit ihren unverkennbaren Symbolen, die erst durch das Erdbeben im Jahr 749 verwüstet wurden.

„Hier gibt es gibt eine Art Dissonanz zwischen den Weinbergen, der touristischen Riviera und den Überresten des Kriegs, die überall
zu sehen sind.“
Salomon Lev

Die Jubiläumstour führt in zahlreiche Regionen, die entscheidend waren an jenen Tagen im Oktober 1973 – etwa das Tal der Tränen, in dem eine entscheidende Panzerschlacht den Wendepunkt brachte. Eine Etappe führt auch nach Tel Saki, einen Ort auf den Golanhöhen, an dem es zu einer der dramatischsten Schlachten des Jom-Kippur-Kriegs gekommen war. „Es ist der einzige Punkt unserer Reise, an dem man das Erbe der Kriegsführung erlebt“, erklärt Yoav Due-nas, General a. D., mit Blick auf die syrische Grenze und das Dreiländereck zu Jordanien. „Nach 50 Jahren steht die IDF hier vor einer neuen Herausforderung mit dem Iran.“

Valley of Tears. So heißt jenes Areal auf den Golanhöhen, auf dem die entscheidende Schlacht 1973
den Ausgang des Jom-Kippur-Kriegs änderte. © Tal Leder

Der aus dem umliegenden Kibbuz Ortal stammende Duenas gehörte im Oktoberkrieg von 1973 zu einer Fallschirmjägerbrigade, die den anstürmenden gegnerischen Truppen deutlich unterlegen war. Als einziger Überlebender schaffte er es, angeschossen am linken Oberarm, bis zum Bunker in Tel Saki, wo er mit weiteren 27 zum Teil verletzten Soldaten 36 Stunden ohne Wasser, Essen und Strom ausharrte, umzingelt von Tausenden von Syrern. Dennoch gelang es den IDF-Soldaten, die gegnerischen Truppen aufzuhalten. Dadurch verhinderten sie eine verheerende Invasion im Herzen Israels und verschafften der Militärführung wertvolle Zeit für einen Gegenangriff. „Die drei Tage im Bunker waren die Hölle auf Erden“, erinnert sich Duenas. „Wir hörten den Feind aus nächster Nähe, doch der Befehl lautete, bis auf die letzte Patrone Widerstand zu leisten. Jeder von uns besaß eine Handgranate, um sich mit den Syrern in die Luft zu sprengen, sollten sie zu uns durchbrechen.“

Der Jom-Kippur-Krieg war ein Schock für die israelische Gesellschaft und wirkt bis heute nach. Berauscht vom Sieg 1967, fühlte man sich unbezwingbar. Dass die IDF, unvorbereitet zu Beginn, überrollt wurde, erschütterte das ganze Land. Nach dem Waffenstillstand musste man nicht nur um die zahlreichen Toten trauern: Die Heimkehr der Kriegsgefangenen und die vielen Verletzten erzeugten Wut, das Trauma des Kriegs auch viele seelische Verletzungen.

„Vor allem nach Kriegen leiden Soldaten an posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS),“ erklärt Reuven Gal, ehemaliger Chefpsychologe der IDF, der heute die Auswirkungen des Kriegs auf die israelische Gesellschaft untersucht. „Zu den Symptomen können störende Gedanken, Gefühle oder Träume sowie psychische oder körperliche Belastungen gehören. Es ist ein innerer Widerspruch, weil das Trauma ständig präsent ist. Diejenigen, die daran leiden, tragen es ständig mit sich herum.“

© Tal Leder

Auch Gal litt daran. Als junger Offizier gehörte er einem Infanteriebataillon an, das unter der Führung des berühmten Generals und späteren Premierministers Ariel Sharon den Suezkanal überquerte und die dritte ägyptische Armee umzingelte, was das Ende des Kriegs an der Südfront brachte. „Unsere Einheit sollte mit Schlauchbooten als erste die andere Seite erreichen“, erzählt Gal. „Die Kämpfe auf der chinesischen Farm im Sinai schafften einen Brückenkopf. Unter Artilleriefeuer schwammen wir die knapp 200 Meter und erreichten afrikanischen Boden.“ Noch im Wasser schnappte ein auf dem Rücken treibender ägyptischer Soldat nach Gals Waffe. Von Raketen zerfetzt, bat er ihn, sein Leben zu beenden. „In meinen Albträumen sah ich jahrelang sein Gesicht mit diesen blauen Augen. Ich machte mir Vorwürfe, für seinen Tod verantwortlich zu sein.“

Der Jom-Kippur-Krieg löste ein Erdbeben aus. Bis dahin sprach niemand von PTBS. Zwar hatte man damals noch nicht allzu viel Fachwissen, obwohl es immer wieder solche Fälle gab. Doch es gehörte nicht zur Norm, da es gegen den Ruhm und die großen Heldengeschichten war.

„Jedes Mal gingen junge Menschen in die Schlacht. Viele kamen mit Narben in der Seele zurück.“
Gilad Lev

Dem möchte Gilad Lev aus Tel Aviv etwas entgegensetzen. Er will mit seiner Tour nicht nur eine Geschichte erzählen, sondern die Teilnehmer:innen auch durch einen Prozess führen. „Die Generation, die den Krieg erlebt hat, trägt Erinnerungen und Narben in ihren Herzen“, erklärt der pensionierte Reiseleiter, „die nächste Generation wuchs in einem Land auf, dessen Kultur und Gesellschaft von den Folgen des Kriegs geprägt war. Diese Tour will der israelischen Öffentlichkeit die Golanhöhen näherbringen – Menschen, Perspektiven und Standpunkte zum Krieg, die bisher noch nicht nähe beleuchtet wurden.“

Ministerpräsidentin Golda Meir besucht eine IDF-Einheit im Jom-Kippur-Krieg, 1973. © AFP ARCHIVES / AFP / picturedesk.com; Von IDF Spokesperson‘s Unit, CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org

Die Rundreise durchquert malerische Landschaften mit Stopps an mehreren Sehenswürdigkeiten. Die Teilnehmer:innen, die im Kibbuz Ortal übernachten, sehen das ehemalige syrische Hauptquartier und besuchen einige Weingüter der Region. „Israel ist in seiner kurzen Geschichte viele Male in den Krieg gezogen“, erklärt Lev, „und jedes Mal gingen junge Menschen in die Schlacht. Viele kamen mit Narben in der Seele zurück.“

Der Tourguide möchte, dass die Ereignisse des Jom-Kippur-Kriegs wahrheitsgetreu nacherzählt werden. Sowohl die Helden- wie auch die tragischen Geschichten, um sich an diejenigen zu erinnern und sie zu ehren, die den jüdischen Staat verteidigten. „In der Vergangenheit hieß es, dass die Grenze dort verläuft, wo der Pflug scharrt“, erzählt Lev. „Für mich aber ist sie untrennbar mit Touristen verbunden, denn durch sie gibt es Leben. Menschen möchten im Grunde keinen Krieg, da sie etwas zu verlieren haben.“

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