„Verfolgt, verleugnet, TOTGESCHWIEGEN“

Der ORF-Journalist Jürgen Pettinger hat es sich zur Aufgabe gemacht, die NS-Verfolgung von homosexuellen Menschen sichtbar zu machen. In seinem jüngsten Buch Dorothea erzählt er von der Jüdin Lilli Wolff, die von ihrer Freundin, der Schauspielerin Dorothea Neff, ab 1940 in ihrer Wohnung in Wien versteckt worden war und überleben konnte.

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© Manfred Weis

„Was es heißt, jahrelang im Verborgenen zu leben? Es bedeutet die ständige Angst, entdeckt und getötet zu werden. Auf der anderen Seite habe ich jeden Tag auch die innigste, großzügigste und treueste Liebe und Freundschaft zwischen Menschen erlebt, die zusammenhalten, um einer der ihren das Leben zu retten“, zitiert Pettinger Lilli Wolff. Dorothea beginnt er mit der Schilderung einer Einladung, die Neff gibt und bei der sich Wolff in einem Kaminschacht versteckt, um so zumindest den Gesprächen lauschen zu können. Sie hatte im Vorfeld vehement darum gebeten, einmal wollte sie – wenn auch verborgen – wieder unter Menschen sein.

Der Journalist erzählt die Geschichte von Dorothea Neff und Lilli Wolff in Form einer romanhaften Biografie. So gelingt es ihm, die Leser und Leserinnen an der Hand zu nehmen und zu vermitteln, wie es sich in der NS-Zeit angefühlt haben muss, Jahre versteckt zu leben und das, wie er im Gespräch mit WINA betont, ohne das Wissen, das wir heute haben. „Die beiden konnten ja nicht ahnen, dass das im April 1945 zu Ende sein wird. Sie mussten ja anfangs damit rechnen, dass das womöglich ewig so geht. Und diese dauernde Angst, die muss doch aufgeschrieben werden.“

Angst ist auch eines der Hauptmotive in Pettingers im Vorjahr erschienen Buch Franz. Auch hier spürt er einem Schicksal in der NS-Zeit nach: Franz Doms, von den Nationalsozialisten wegen seiner Homosexualität verfolgt und schließlich hingerichtet. Das Buch beginnt und endet mit der beklemmenden Schilderung, wie Doms die Momente rund um die Hinrichtung erlebt hat (beziehungsweise erlebt haben könnte). Quellen sind hier einerseits das minutiös geführte Hinrichtungsprotokoll der Nazis, andererseits Berichte von in letzter Minute Begnadigter, die sich bereits auf dem Weg in den Tod wähnten.

Dorothea. Queere Heldin unterm Hakenkreuz. Kremayr & Scheriau 2023, 192 S., € 24

„Ich versuche in meinen Geschichten, nichts zu erfinden und nichts dazu zu interpretieren“, betont der Autor. Da Neff und Wolff überlebten, gebe es hier Schilderungen aus erster Hand. Bei Doms sei die Quellenlage dünn – aber er müsse die letzten Stunde in der Todeszelle so erlebt haben wie es eben andere, die schließlich nicht hingerichtet wurden, ebenfalls erlebt hatten. „Wie hört es sich an, wenn man in der Zelle sitzt und das große Tor aufgeht und die Hinrichtungskommission hereinkommt?“

Dieses Nachspüren, wie sich bestimmte Situationen angefühlt haben, ist auch in Dorothea das vorherrschende Moment: Man hätte einfach schreiben können, dass Wolff mehrere Jahre als U-Boot in Neffs Wohnung im Haus Annagasse acht im ersten Stock verbrachte. „Das ist aber nicht die ganze Geschichte“, betont Pettinger. „UBoot zu sein bedeutet ja auch, dass der Fußboden knarrt und man sich nicht wirklich bewegen kann. Es bedeutet, dass man Jahre lang keinen Kontakt zur Außenwelt hat, dass man gar nicht mehr weiß, ob man selbst noch am Leben ist und was dieses Leben überhaupt noch soll. Es bedeutet, dass man fast verrückt wird.“

Mit Dorothea und Franz hat Pettinger zwei ganz unterschiedlichen Menschen ein erzähltes Denkmal gesetzt: Da ist die bekannte Schauspielerin, die ihrer Freundin das Leben rettete und die trotz ihrer Bekanntheit eine Facette ihrer Persönlichkeit viele Jahre geheimhalten musste: ihre Homosexualität. In der NS-Zeit hätte sie nicht nur für ihre Freundin Wolff, die als Jüdin ohnehin verfolgt war, das Todesurteil bedeutet, sondern auch für sie selbst. Da ist auf der anderen Seite der jung hingerichtete Franz Doms, auf dessen Akt Pettinger zufällig im Rahmen von Recherchen für einen journalistischen Bericht zur queeren Verfolgungsgeschichte stieß und dessen Schicksal ihn nicht mehr losließ.

„Diese Schicksale sollen für viele Menschen lesbar,
nachvollziehbar und fühlbar werden, auch für Menschen,
die nicht Teil der queeren Community sind.“
Jürgen Pettinger

 

Stichwort Akt: Viel ist in Österreich nicht zur Verfolgungsgeschichte von queeren Personen in der NS-Zeit erhalten. Homosexualität war vor der NS-Zeit verboten (wurde aber nicht aktiv verfolgt) und nach der NS-Zeit verboten, dann wurde sie ebenso wie im Nationalsozialismus auch geahndet, allerdings nicht mit Todesstrafe oder Kerker belegt, sondern „nur“ mit Gefängnisstrafen. Davon waren in den Nachkriegsjahrzehnten tausende Personen betroffen. Erst 1971 wurde Homosexualität legalisiert, wobei das Schutzalter für homosexuelle Handlungen von Männern erst 2002 von 18 auf 14 Jahre gesenkt wurde. Von diesem diskriminierenden Paragraphen 209 sei er selbst noch betroffen gewesen, erzählt Pettinger. „Meine erste große Liebe wurde 18, und ich war noch 17, und plötzlich war er, wenn uns jemand angezeigt hätte, von einer dreijährigen Haftstrafe bedroht. Das war für uns eine große Sache. Ich wünsche keinem Jugendlichen, dass er seine erste große Liebe so verbringen muss.“

Franz. Schwul unterm Hakenkreuz. Kremayr & Scheriau 2021, 192 S., € 22

Diese späte Entkriminalisierung von Homosexualität habe dazu geführt, dass die Akten von in der NS-Zeit aus diesem Titel Verfolgten als nicht von geschichtlichem Interesse eingestuft wurden. In den Archiven finden sich daher kaum noch Akten – sie wurden großteils vernichtet. Nur im Wiener Stadt- und Landesarchiv hat man die Akten trotz dieser per Stempel verordneten Nichtgeschichtswürdigkeit aufgehoben. Hier hätten sich Mitarbeiter einfach der Entscheidung der hier für die Klassifizierung zuständigen Richter widersetzt.

Die dünne Aktenlage trug dazu bei, „dass die queere Geschichte quasi nicht aufgearbeitet ist beziehungsweise Historiker und Historikerinnen erst vor kurzer Zeit begonnen haben, sich damit zu befassen“. Einer der Vorreiter sei hier Andreas Brunner von QWien, Österreichs einzigem Zentrum für queere Geschichte. Über ihn sei er auch zu dem Akt von Franz Doms gekommen. „Verfolgt, verleugnet und totgeschwiegen“ habe man diese Menschen. Dem möchte Pettinger mit seinen Büchern nun etwas entgegensetzen.

Was ihm dabei auch ein Anliegen ist? Wenn heute von den verschiedenen Opfergruppen die Rede ist, werde oft übersehen, dass es da zu Überschneidungen gekommen sei. „Gerade die jüdische Opfergruppe wird gerne als heteronormative Gruppe gesehen. Aber das stimmt ja nicht. Es wurden auch viele schwule Männer und lesbische Frauen jüdischen Glaubens verfolgt. Ja, das Jüdischsein allein hat schon zur Deportation geführt. Aber der Fall von Neff und Wolff zeigt, dass sie von einem doppelten Damoklesschwert betroffen waren.“

Was die jüdische von der homosexuellen Opfergruppe unterscheidet: Es gibt so gut wie keine Zeitzeugen- und Zeitzeuginnenberichte. „Sie waren ja quasi Zeit ihres Lebens mit Strafen bedroht. Und für jene, die sich ab 1971 nicht mehr strafbar machten, hätte es dennoch gesellschaftliche Ächtung bedeutet. Es hat also niemand öffentlich darüber gesprochen.“ Deshalb sei es auch so lange kein Thema gewesen, diese queere Verfolgungsgeschichte aufzuarbeiten. „Im Grunde wurde diese Geschichte ausradiert. So fühlt sich das heute jedenfalls an.“

Doms hätte sich übrigens wie andere am Landesgericht Hingerichtete auch eine Gedenktafel verdient, meint Pettinger. „Wir müssen uns doch daran erinnern, dass Menschen wie er auch Teil unserer Gesellschaft waren und widerrechtlich hingerichtet wurden. Dass das bis heute nicht der Fall ist, finde ich traurig und fast ein bisschen erbärmlich. Wir schreiben das Jahr 2023, bald 2024.“

Franz, vom Verlag Kremayr & Scheriau eigentlich als Nischenprodukt prognostiziert, erreichte binnen Kurzem die dritte Auflage. Das freut Pettinger – ihm sei es ein Anliegen, „diese Geschichten aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft herauszuholen. Diese Schicksale sollen für viele Menschen lesbar, nachvollziehbar und fühlbar werden, auch für Menschen, die nicht Teil der queeren Community sind.“

Gerade aus der Community habe er aber sehr viel Feedback bekommen – viele jüngere Männer hätten ihm geschrieben, dass sie sich, obwohl in einer ganz anderen Zeit geboren, in vielem, was Doms zugestoßen sei, wiederfänden. Aus der Mehrheitsgesellschaft habe er wiederum gehört, dass es hier zuvor kaum Bewusstsein gegeben habe. „Das finde ich schön. Und das war auch der Antrieb weiterzumachen. Ich bin selbst als queerer Mensch geschichtslos aufgewachsen. Queere Menschen sind aber immer in der Mitte der Gesellschaft gestanden, sie waren immer da. Sie konnten nur nicht darüber sprechen.“

Traurig stimmte Pettinger diesen November, dass ein Termin für eine Lesung aus dem Buch Dorothea vom Veranstater abgesagt wurde. Der durch das Hamas-Massaker in Israel ausgelöste Krieg in Gaza ließ auch hierzulande antisemitische Vorfälle steigen. Eine öffentliche Veranstaltung zu einem Buch mit jüdischem Bezug erschien dem Veranstalter zu riskant.

Dass sich Juden und Jüdinnen nun auch wieder in der Öffentlichkeit quasi verstecken müssten, indem sie etwa Kippa oder Magen David nicht sichtbar tragen, findet der Autor erschreckend. Er sieht hier aber auch Parallelen zur Lebensrealität homosexueller Menschen in Österreich. Erst kürzlich sei die Drag Queen Tamara Mascara zusammengeschlagen und verletzt worden. Immer wieder gebe es Terror- und Gewaltdrohungen gegen queere Einrichtungen.

Er selbst gehe mit seinem Partner, mit dem er seit über 20 Jahren liiert und inzwischen auch verheiratet sei, niemals Hand in Hand auf der Straße, erzählt Pettinger. „Es wäre jedes Mal ein politisches Statement, das ist uns zu anstrengend. Wir müssten uns ständig umschauen, ob uns nicht jemand angreift oder bespuckt oder whatever.“ Queere Menschen, Juden und Jüdinnen und andere Minderheiten müssten in einem Land wie Österreich aber sichtbar sein können, ohne Angriffe befürchten zu müssen.

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