Mir hat es Saphira Wing angetan: ich stelle bei meinem Ausstellungsbesuch diese junge Frau in den Mittelpunkt der Geschichte, die ich mir hier erzählen lasse. Saphira Wing kam 2003 in Wien zur Welt, ihre jüdische Mutter kommt aus England, ihr Vater aus Ghana. Im Alter von sieben Jahren wurden sie in den Wiener Kinderchor aufgenommen und trat in der Folge mit Stars wie Robbie Williams und Zucchero auf. Sie besuchte das Gymnasium in der Boerhaavegasse (Musik-Zweig) und maturierte schließlich nach einem Aufenthalt in den USA in England. Derzeit studiert sie Schauspiel in London.
Schon dieser bisherige Werdegang Wings wäre das, was sie selbst wohl als „outstanding“ bezeichnen würde – die Gespräche mit ihrer Mutter, mit anderen Jugendlichen und mit dem in Wien lebenden US-Musiker Jon Sass führt sie teils auf Englisch, teils auf Deutsch. Die thematischen Schlaglichter verbinden hier auf interessante Weise historische mit aktuellen Aspekten – Beispiel Staatsbürgerschaft. Diese wird im Gespräch mit ihrer Mutter Susanna Wing zum Thema. Obwohl in Wien geboren, verfügte Wing nicht über die österreichische Staatsbürgerschaft.
Das wurde mit dem Brexit zum Problem – denn plötzlich fehlte der Aufenthaltstitel EU-Staatsbürgerschaft. Da die Großeltern der Mutter allerdings aus Österreich stammten, konnten Mutter und Tochter als Nachkommen von in der NS-Zeit Verfolgten um die österreichische Staatsbürgerschaft ansuchen – diese Möglichkeit wurde 2019 vom Parlament geschaffen. „Es war eine Erleichterung, als ich den österreichischen Pass bekommen habe“, sagt Saphira in dem Gespräch mit ihrer Mutter. Und betont: Nun wisse sie auch, welchen Wert ein Pass haben könne.
In einem anderen Gespräch wiederum geht die junge Frau auf ihre verschiedenen Identitäten ein – ihre „schwarze Identität“ und ihre „jüdische Identität“. In der Öffentlichkeit erlebe sie mehr Rassismus als Antisemitismus, erzählt sie, denn ins Auge springe zunächst ihre Hautfarbe. Antisemitismus sei ihr, etwa in der Schule, vor allem in Form von Mikroaggression begegnet. Ihre jüdische Seite macht sie selbst vor allem an ihrem Humor fest und daran, dass, wenn sie auf andere Juden und Jüdinnen treffe, da sofort eine Verbindung spürbar werde.
Die weiteren fünf in dieser Schau Porträtierten sind Panni Oplatka, ebenfalls Jüdin, die in Ungarn zur Welt kam und aufwuchs, Niki Nikolic, der 1958 im damaligen Jugoslawien als Enkel eines kommunistischen Partisanen geboren wurde, Annemarie Steidl, die aus Braunau in Oberösterreich stammt, die deutsche Künstlerin und Filmemacherin Bettina Henkel und der Musiker Marwan Abado, der als Sohn palästinensischer Eltern in einem Flüchtlingslager in Beirut zur Welt kam. Sie alle leben heute in Wien. Und in fast allen dieser Lebensgeschichten kommt es, wie der Künstler Friedemann Derschmidt erzählt, zu Berührungen mit dem Holocaust.
Die Ausstellung „Vielgeschichtig. 6 Portraits I 30 Gespräche I 6 Sprachen“ ist eines der Ergebnisse des von Friedemann Derschmidt geleiteten und von der Stadt Wien finanzierten kunstbasierten Forschungsprojekts „synoptic storytelling in a multidirectional vienna“ am Forschungslabor Film- und Fernsehen an der Akademie der bildenden Künste Wien. Kuratiert wurde die Schau für das hdgö von Derschmidt, Alaa Alkurdi, Anne Pritchard-Smith und Karin Schneider. Sie wollen mit dieser Installation auch Schulklassen ansprechen – für diese wurden eigene Vermittlungsprogramme entwickelt.