Verfolgte Fürsorgerinnen

Die Professionsgeschichte der Sozialarbeit beschreibt Fürsorgerinnen in der NS-Zeit vor allem als Täterinnen und Mitläuferinnen, die teilweise auch an der Selektion und dadurch Vernichtung von Kindern in der Obsorge des Jugendamts beteiligt waren. Irene Messinger, die eine Professur an der Fachhochschule für Soziale Arbeit in Wien inne hat, arbeitete hier in den vergangenen Jahren eine Forschungslücke auf, die ergänzend eine Gegengeschichte erzählt: Sie widmete sich den sowohl im Austrofaschismus wie auch im Nationalsozialismus verfolgten Fürsorgerinnen. Sie waren meist jüdisch und/oder sozialdemokratisch, manche leisteten Widerstand. Derzeit arbeitet sie an einer Publikation zu diesem Projekt, die 2024 erscheinen soll.

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© David Prager

Soziale Arbeit etablierte sich in Wien ab den 1910er-Jahren. Zunächst von der bürgerlichen Frauenbewegung getragen, wurden ab den 1920er-Jahren im Roten Wien fortschrittliche pädagogische Konzepte entwickelt. Die Stadt Wien beschäftigte Mitte der 1930er-Jahren an die 300 Fürsorgerinnen in den Jugendämtern, schildert Messinger. Viele von ihnen waren sozialdemokratisch engagiert, einige von ihnen auch jüdisch.

AUFRUF
Wenn Sie von einer jüdischen Fürsorgerin wissen, die in den 1930er-Jahren Verfolgung ausgesetzt war, oder gar Unterlagen zu dieser
Lebensgeschichte haben, die Sie für das Forschungsprojekt zur Verfügung stellen wollen, schreiben Sie bitte an:
irene.messinger@fh-campuswien.ac.at

Neben der Stadt gab es aber viele weitere Stellen, die soziale Arbeit leisteten. Dazu zählten private Initiativen wie der Verein Settlement. Aber auch in der entwicklungspsychologischen Forschung rund um Charlotte Bühler, in der psychoanalytischen Praxis in Kinderheimen, etwa von Anna Freud und August Aichhorn, oder in den individualpsychologischen Erziehungsberatungsstellen von Alfred Adler waren Fürsorgerinnen tätig. Christliche Einrichtungen wie die Erzbischöfliche Hilfsstelle für nichtarische Katholiken halfen ab 1940 gemeinsam mit der Fürsorge der IKG den letzten in Wien verbliebenen Juden und Jüdinnen. Die bekannte Fürsorgerin Franzi Löw habe hier vielen Menschen unter Einsatz ihres Lebens geholfen.

Fürsorgerinnen arbeiteten aber nicht nur in der IKG Wien, sondern auch in den vielen jüdischen Wohltätigkeitsvereinen. Diese hatten eine lange Tradition, und dort wirkten, wie Messinger schildert, dann oft auch Frauen in leitenden Positionen, allerdings meist unbezahlt. Die Hierarchien bei städtischen Stellen in diesem Berufsfeld sahen dagegen so aus, dass Fürsorgerinnen bezahlt, aber im fordernden direkten Kontakt mit den Familien und für Hausbesuche eingesetzt wurden, während Leitungsstellen im Innendienst mit Männern besetzt wurden.

Bei ihrer Literaturrecherche zur Geschichte der sozialen Arbeit kam Messinger in Zusammenhang mit der NS-Zeit immer wieder der Satz unter: „Jüdische Fürsorgerinnen wurden entlassen.“ „Und ich habe mich dann immer gefragt: Was ist mit ihnen passiert? Das hat mich nicht mehr losgelassen, vor allem eben deshalb, weil die Professionsgeschichte bisher – spät, aber doch – vor allem aus der Perspektive der Mittäterinnenschaft erforscht und erzählt worden ist.“

Messinger machte sich also auf die Suche nach Berichten über Frauen, die den Beruf nicht mehr ausüben konnten, und bemühte sich, aus Personalakten in Archiven, Nachlässen und Familienerinnerungen deren Biografie zu rekonstruieren. 70 Lebensgeschichten hat sie schließlich ausgewählt, diese erzählt die Expertin in dem Buch, an dem sie gerade arbeitet. Sie analysiert an Hand dieser Biografien die Mechanismen, wie die betroffenen Frauen hier aus dem Beruf gedrängt wurden, in welchen Netzwerken sie aktiv waren und welche Faktoren jenen, die sich ins Ausland retten konnten, wieder eine Tätigkeit in diesem Berufsfeld ermöglichten.

Im von der IKG geförderten Leopoldstädter Lele-Bondi-Heim arbeitete auch Marianne Prager von 1928 bis zu ihrer Flucht 1939. © David Prager

Eine der wichtigsten Erkenntnisse: Der Bruch kam in diesem Berufsfeld nicht 1938, sondern schon 1934, mit Beginn des Austrofaschismus. Dem in Archiven nachzuspüren, stellte sich allerdings als schwierig heraus. „Einerseits wurden Institutionen aufgelöst, und es gibt dazu keine Unterlagen mehr. Andererseits wurden Fürsorgerinnen oft nicht entlassen, sondern zwangspensioniert. Wenn Fürsorgerinnen als Beamtinnen zehn Jahre im Dienst waren, hatten sie einen Pensionsanspruch erworben, unabhängig vom Alter.“

Dass es aber 1934 zu politisch motivierten Entlassungen kam, konnte Messinger doch nachweisen. „Ich bin da auf ein spannendes Dokument gestoßen. Der Leiter eines Jugendamtes hat auf Anfrage angegeben, dass nur drei Fürsorgerinnen politisch unzuverlässig seien und daher gekündigt werden müssten.“ Man könne allerdings davon ausgehen, dass gerade die Frauen, die sich im Roten Wien für den Beruf im Bereich der sozialen Arbeit entschieden hatten, modern und fortschrittlich und damit sozialdemokratisch orientiert gewesen seien. „Es waren also vermutlich wesentlich mehr.“

Irene Messinger arbeitet seit mehreren Jahren intensiv an der Erfassung von Biografien jüdischer und/oder sozialdemokratischer Sozialarbeiterinnen während der NS-Zeit. © Daniel Shaked

Das bedeute: Auch wenn das Ausscheiden aus dem Dienst vordergründig nicht aus politischen Gründen erfolgte, sei davon auszugehen, dass die politische Gesinnung dennoch meist der ausschlaggebende Grund war. Umgesetzt wurde dies im Austrofaschismus über die „Doppelverdiener-Verordnung“. Die oftmals noch jungen Frauen, deren Ehemann ausreichend verdiente, wurden mit diesem Instrumentarium aus dem öffentlichen Dienst gedrängt. „Wir wissen, dass davon viele Lehrerinnen betroffen waren“, erläutert die Expertin, die nun auch einige Fälle von Fürsorgerinnen aufzeigen kann. Und es sei eben auffallend, dass einige Personen jüdischer Herkunft und/oder mit sozialdemokratischer Gesinnung auf Grund der „Doppelverdiener-Verordnung“ aus dem Dienst entlassen wurden.

Und dann habe es auch noch jene 37 Fürsorgerinnen gegeben, die im Frühjahr und Sommer 1938 freiwillig um Pensionierung angesucht hätten, vorgeblich, um sich um die Familie zu kümmern. Sie seien damit vielleicht einer unangenehmen Behördenentscheidung zuvorgekommen oder wollten im Fürsorgesystem unter den neuen politischen Rahmenbedingungen nicht mehr mitarbeiten. „Die meisten Fürsorgerinnen sind ja mit einem hohen Ideal in den Beruf eingestiegen und haben dann rasch resigniert ob der Anforderungen, die sie da erwartet haben.“ Besonders interessant sei hier der Fall einer freiwillig pensionierten Fürsorgerin, die ihre Anstellung nach dem Krieg wieder einforderte, erzählt Messinger. Sie gab dabei an, ihre Pensionierung wegen einer verheimlichten jüdischen Großmutter angestrebt zu haben.

 

Eine der wichtigsten Erkenntnisse: Der Bruch kam in diesem Berufsfeld nicht 1938, sondern schon 1934, mit Beginn des Austrofaschismus.

 

Jene jüdischen Fürsorgerinnen, die dennoch bis 1938 in diesem Berufsfeld verblieben, waren dann spätestens mit dem Beginn des Nationalsozialismus damit konfrontiert, ihre Arbeit zu verlieren (siehe auch Kasten zur Geschichte von Marianne Prager). Bei den Beamtinnen gab es dafür zwei Paragrafen: Sie konnten wegen ihrer jüdischen Herkunft oder wegen ihrer politischen Gesinnung entlassen oder pensioniert werden. Messinger konnte 20 Zwangspensionierungen von Fürsorgerinnen wegen jüdischer Herkunft an Wiens Jugendämtern nachweisen, nur wenige fanden wegen des anderen Paragrafen statt. Auch bei eindeutig oppositionellen Frauen sei dann ihre jüdische Herkunft als Grund für die Kündigung oder Pensionierung genannt worden. Aus den Reaktionen in Personalakten und einzelnen Erinnerungsdokumenten lasse sich herauslesen, „dass der Einschnitt, diesen Beruf nicht mehr ausüben zu können, für die Betroffenen sehr heftig war“.

Fürsorgearbeit im Exil und nach Kriegsende. In diesen Lebensgeschichten hat sich Messinger auch angesehen, wie es Fürsorgerinnen, die sich ins Ausland retten konnten, erging. Dabei stellte sie fest: Wenn sie es schafften, wieder in der Sozialarbeit tätig zu sein, waren zwei Faktoren Erfolg versprechend, und zwar einerseits zunächst der Einstieg über die Unterstützung von deutschsprachigen Flüchtlingen und andererseits eine Organisation oder Person im Rücken zu haben, die eine Weiterbildung ermöglicht hat – sowohl finanziell wie auch zeitlich. Hier sieht Messinger auch Parallelen zu heute: Flucht ist oft damit verbunden, beruflich nicht mehr so reüssieren zu können wie im Herkunftsland. Leichter tun sich jene, die schon im psychosozialen Bereich tätig waren und bei der Nachqualifizierung unterstützt werden.

Genauso schwer wie die Anzahl der verfolgten und vertriebenen Fürsorgerinnen bis 1938 festzumachen – Messinger geht von einem einstelligen Prozentanteil der in diesem Feld damals Arbeitenden aus – sei es zu quantifizieren, wie viele dieser Frauen nach 1945 wieder nach Österreich zurückkamen und hier wieder im Bereich der sozialen Arbeit tätig wurden. Dazu müsse man auch den Begriff „Remigration“ neu denken, meint sie. Fürsorgerinen seien nicht nur aus dem Exil zurückgekehrt. „Manche kamen auch aus KZs zurück, andere waren versteckt und tauchten nun wieder auf.“

Für alle sei der Berufseinstieg schwierig gewesen, zum Teil weil die Institutionen zerstört worden waren, oder auch, weil sie am Jugendamt nicht erwünscht gewesen seien, wie einige Frauen berichtet hätten. „Noch dazu mussten sie oftmals unter Vorgesetzten arbeiten, die während der Nazi-Zeit Karriere gemacht hatten.“


MARIANNE PRAGER, FÜRSORGERIN AUS WIEN

Marianne Prager wurde 1902 in Wien geboren und wuchs in einer jüdischen, aber nicht religiösen Familie in Mariahilf auf. Schon als Jugendliche wollte sie sich für armutsbetroffene Menschen einsetzen, auf der Suche nach einer passenden Ausbildung stieß sie auf die von Ilse Arlt begründete Fürsorgerinnen-Schule. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie allerdings zunächst halbtags als Sekretärin in einer Erwachsenenbildungseinrichtung, da sie sich um ihren inzwischen pflegebedürftigen Vater, einen Polizeiarzt, kümmerte.

Ab 1928 leitete Marianne Prager das Lele-Bondi-Heim, ein Haus für 25 jüdische Mädchen ab zehn Jahren, in dem sie auch selbst lebte. Das Heim wurde von einer Stiftung der Fürsorgeabteilung der IKG Wien finanziert und befand sich in der Böcklinstraße 59, nahe des grünen Praters. Spätere Schilderungen Pragers legten nahe, dass hier reformpädagogische Ansätze gelebt wurden, so Irene Messinger. Gleichzeitig wurde ein jüdischer Alltag gepflegt, so zeigt ein Fotoalbum auch Bilder zum Beispiel von Purimfesten. Bis zuletzt bedauerte sie, die Heimleitung aufgeben zu müssen, flüchtete aber dann doch 1939 mit Hilfe von Freunden, die ein Visum organisierten, nach England.

Dort leitete sie durch die Vermittlung von Flüchtlingshilfsorganisationen zunächst ein Heim für geflüchtete Burschen in Stockport, später bis 1942 ein Heim in Manchester. Danach absolvierte sie in London einen dreimonatigen Kurs zum Youth Club Leader – die zweijährige Ausbildung in Social Work, die sie sehr interessiert hätte, war für sie zu diesem Zeitpunkt unerschwinglich.

Zurück in Manchester nahm sie eine Stelle als Sozialarbeiterin beim Refugee Children’s Movement an, wo sie Hausbesuche in Pflegefamilien absolvierte. Nach der Auflösung dieser Stelle begann sie in einem Spital zu arbeiten, absolvierte 1948 eine weitere Fortbildung – einen Mental Health Course in London – und war anschließend bis zu ihrer Pensionierung 1971 im Springfield Hospital in Manchester tätig. 1982 starb sie im Alter von 80 Jahren in Manchester. Die britische Staatsbürgerschaft hatte sie bereits seit 1947 innegehabt.

Messinger konnte Pragers Biografie mit Hilfe von deren Neffen David Prager rekonstruieren, der sich auf ein Inserat der Wissenschafterin hin gemeldet hatte. In seinem Besitz findet sich der Nachlass der jüdischen Fürsorgerin aus Wien, der auch mehrere Fotoalben und diverse Unterlagen umfasst. Weitere Dokumente zum Lele-Bondi-Heim konnte sie im Archiv der IKG Wien finden.

Was die Geschichte von Pragers Tante so besonders macht, ist, dass es dieser gelang, auch im Exil in ihrem Berufsfeld tätig zu sein. Das sei möglich gewesen, weil sie zunächst in der Betreuung von Geflüchteten eingesetzt war, erklärt Messinger. Zudem habe sie später Möglichkeiten gefunden, sich weiterzubilden – beides Erfolgsfaktoren für ihr berufliches Reüssieren in der neuen Heimat.


 

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