Von den Medicis bis heute: Das jüdische Florenz

Eine kleine, aber aktive Gemeinde pflegt ihre Tradition, die ab dem Jahr 1437 dokumentiert ist, und lebt gleichzeitig sehr selbstbewusst ihre Gegenwart.

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Die jüdische Synagoge von Florenz lädt in den letzten Jahren immer mehr internationale junge Jüdinnen und Juden ein, hier zu feiern. © Reinhard Engel

Im sonnenüberfluteten, begrünten Vorhof der Synagoge von Florenz steht eine zarte, dunkelhaarige Frau mit einem Ausweis um den Hals. Chiara spricht gut Englisch und wurde nicht von der jüdischen Gemeinde Florenz, sondern von dem zentral als Firenze Musei zusammengefassten Museenverbund der ganzen Stadt zur Führung bestimmt (www.operalaboratori. com). Das ist ein gutes Zeichen, denn das bedeutet, dass weder die Synagoge noch das Museum als spezifisch jüdisches Touristenziel eingestuft sind, sondern als sehenswerte Bauwerke gemeinsam mit den weltberühmten Uffizien oder auch dem Palazzo Pitti angeboten werden.

Dieser wunderschöne Tempel, der zweitgrößte Europas (nach dem Tabaktempel in Budapest), ragt schon wegen seiner riesigen Kupferkuppel ebenso wie der hoch aufragende Campanile di Giotto oder der Turm des Palazzo Vecchio aus dem Stadtbild hervor. Beeinflusst von der Hagia Sophia in Istanbul, erzählt Chiara im Innenraum, vereint die Architektur des Tempio Maggiore Israelitico italienische, byzantinische und maurische Einflüsse – insbesondere das Maurische soll an die Ursprünge der Sepharden im arabischen Spanien (alAndalus) erinnern. „Die Synagoge ähnelt keinem anderen Gebäude in Florenz, hat nichts mit den mittelalterlichen oder Renaissance-Strukturen der Stadt zu tun. Die Bauherren wollten veranschaulichen, dass Traditionen und Kultur der Juden eben an ders sind“, kommentiert Chiara das Projekt der Architekten Treves, Falcini und Micheli, das zwischen 1874 und 1882 fertig gestellt wurde. Das Ergebnis dieser diversen architektonischen Traditionen ist sehenswert und beeindruckend: Die Marmorfassade, im typisch roten Kalkstein der Mauren gehalten, unterscheidet sich von der komplexen Inneneinrichtung, wo die romanischen Elemente mit jenen dekorativen der florentinischen Handwerkskunst verschmelzen.

Chiara ist auf ihre geschichtlichen Erklärungen konzentriert, als ein junger Mann sie in Ivrit anspricht und sie fließend darauf antwortet. Erst da outet sich der Guide als Teil der jüdischen Gemeinde von Florenz. Von da an kann man sich mit bestimmten Begriffen in zwei Sprachen aushelfen. Chiara Sciunnach gehört zu den alteingesessenen sephardischen Familien der Stadt und ist Mutter von vier Kindern. Sie schaut an diesem Freitagmittag bei ihrer Tour mehrmals auf die Uhr. „Verzeihen Sie, ich begleite Sie im Tempel und mache noch einen Teil des Museums, aber dann löst mich David ab. Ich muss noch vor Schabbat einiges für meine Kinder vorbereiten“, lacht die religiöse Tochter des 2015 verstorbenen Rabbiners Umberto Sciunnach. Ab den 1960er-Jahren war Rabbi Sciunnach auch Chazan (Kantor), Schochet (Schächter) und zuerst Stellvertreter von Rabbi Fernando Belgrado, bis er selbst zum Oberrabbiner ordiniert wurde. „In den letzten Jahren kommen immer mehr jüdische Paare aus Israel, den USA und europäischen Städten hierher, um in dieser schönen Synagoge Hochzeit zu feiern. Auch Bar Mitzwot gab es schon mehrere“, freut sich Chiara.

Der Ursprung der jüdischen Gemeinde in Florenz reicht
bis in das frühe 15. Jahrhundert zurück.

„Mia cara Chiaria, ich bin schon da“, ruft ein drahtiger, fescher Mann mit weißem gestutzten Bart. David Palterer ist Vizepräsident der jüdischen Gemeinde von Florenz (Comunità ebraica di Firenze) und gekommen, um Chiara im Museum abzulösen. Der 1949 in Haifa geborene Palterer lebt seit 1972 in Italien und ist ein über die Landesgrenzen hinaus angesehener Architekt und Designer. Er studierte an der Universität Florenz Architektur; nach Stationen als Assistent von Adolfo Nadini an der Architekturfakultät in Florenz, widmete er sich verstärkt dem Design – und entwickelte für viele namhafte Firmen weltweit Möbel, Sessel, Leuchten und vieles andere (siehe Kasten zu David Palterer).

Woher kam das Interesse, sich als Israeli in der jüdischen Gemeinde zu engagieren? „Ich fühlte mich hier gleich wohl – und der Rest hat sich dann ergeben. Ich bin nicht religiös, habe aber aktiv die jüdische Gemeinschaft gesucht: Ich habe am Schabbat die Synagoge besucht und sehr schnell Menschen mit ähnlichen Interessen kennengelernt.“ Auch seine Frau lernte David in Florenz kennen, sie war damals eine israelische Medizinstudentin. „Als unser Sohn vor 35 Jahren geboren wurde, gab es weder einen jüdischen Kindergarten noch eine Schule, deshalb musste ich ihn zuerst in eine private Einrichtung schicken. Aber bald darauf gründete ich mit einigen anderen Mitgliedern einen jüdischen Kindergarten, der heute so um die 25 Kinder betreut“, erzählt Vizepräsident Palterer, der nun schon zum dritten Mal in diese Funktion gewählt wurde.

© Reinhard Engel

Medici. Ghetto. Emanzipation. Der Ursprung der jüdischen Gemeinde in Florenz reicht bis in das frühe 15. Jahrhundert zurück. Den florentinischen Juden erging es unter der Herrschaft der weit verzweigten Familie Medici ähnlich wie jenen in ganz Europa, die von den Adelsfamilien meist nur dann gegen Vertreibungen geschützt wurden, wenn sie ihnen auf anderen Gebieten (Medizin, Handel, Geldverleih) nützlich waren. Herzog Cosimo I. de’ Medici (1519–1574), der ab 1537 herrschte, schützte die Juden zwar vor der Inquisition, knickte aber unter dem zunehmendem Druck des Papsttums ein.

1555 erließ Papst Paul IV. die Bulle Cum nimis absurdum, die das Leben der Juden massiv einschränkte: Sie mussten fortan von Christen getrennt wohnen und durften ihnen kein Getreide oder andere lebenswichtige Waren liefern. So wurde im Zentrum – nahe des Alten Marktes (Mercato Vecchio) – das Ghetto errichtet. Die Gebäude waren hoch, und so fiel nur wenig Licht in die engen Gassen. „Die Juden sollten sich eingeengt fühlen, damit ihr Wunsch, durch eine Konversion zum Katholizismus die ersehnte Freiheit zu erlangen, geschürt werde“, weiß Chiara. Dennoch war die Implementierung der antijüdischen Vorschriften in Florenz weniger rigide als anderswo: Das Ghetto administrierte sich weitgehend selbst, hatte ein eigenes Rabbinatsgericht, es gab Schulen und koschere Geschäfte. Nur einige wenige wohlhabende Verleiherfamilien hatten das Privileg, außerhalb der Ghettomauern zu wohnen.

Nach 1737 regierten die Habsburger die Toskana, daher wurden auch den Juden in Florenz schrittweise mehr Rechte zugestanden. Ab 1799 geriet Florenz unter die Verwaltung der Franzosen, und bei der Proklamation des Königreiches Italien 1861 erhielten die Juden volle Bürgerrechte. Das Ghetto wurde im Zuge einer massiven Stadterneuerung (Risanamento) völlig abgetragen, an seine Stelle trat die Piazza della Repubblica. Im Zuge der Emanzipation zogen die meisten Juden in das neue Viertel Mattonaia, wo die neue große Synagoge erbaut wurde; 1899 übersiedelte auch das Collegio Rabbinico Italiano hierher.

Historisch informatives Museum. Das jüdische Museum wurde innerhalb der Synagoge 1981 gegründet und 2007 wesentlich erweitert. Es skizziert den Weg der Gemeinde von 1437 bis in die Gegenwart auf zwei Etagen. Anhand von liebevoll zusammengestellten Möbelstücken, Textilien und anderen Einrichtungsgegenständen sowie Kultobjekten aus Silber, die bei Zeremonien in den Synagogen im Ghetto verwendet wurden, bekommt man einen umfassenden Einblick in den jüdischen Alltag. Viele der ausgestellten Erinnerungstücke stammen von jüdischen Familien, die ihre Verbundenheit mit der Gemeinde unterstreichen wollten. Zahlreiche historische Fotos, Dokumente oder Modelle, wie z. B. jenes des kompletten Ghettos mit den angrenzenden Stadtteilen, illustrieren die strenge Abgeschiedenheit sehr plastisch. „Hier ist die einzige unbeschädigte Thora von insgesamt 90 Thora-Rollen, die wir bei der verheerenden Überschwemmung von Florenz im Jahr 1966 retten konnten“, so Chiara, die auf dem verblassten roten Kalkstein die Höhe des eingedrungenen Wassers in der Synagoge zeigt. „Es wurden damals nicht nur die Einrichtung, Fresken sondern auch die historische Bibliothek beschädigt.

Shoah und Wiederaufbau nach 1945. Gut erhaltene Plakate von „Mussolinis Rassengesetzen“ sowie Aufrufe zu Deportation und Shoah sind in einem eigenen Raum versammelt. 1931 lebten etwa 3.000 der insgesamt 48.000 italienischen Juden in Florenz. Sie alle bekamen die Politik des faschistischen Diktators Benito Mussolini zu spüren, der sich zunehmend Hitler und Nazi-Deutschland annäherte und sich immer antisemitischer gebärdete. Im Herbst 1943, nach dem Sturz Mussolinis, besetzte deutsches Militär Florenz, wo noch rund 1.500 Juden ansässig waren. Okkupanten und ihre italienischen Helfershelfer raubten und zerstörten jüdisches Eigentum. „Mehr als 500 Menschen wurden deportiert und kamen nie zurück, trotzdem soll es ‚offiziell nur‘ 248 Shoah-Opfer gegeben haben“, schüttelt Chiara ungläubig den Kopf.

 

Seit 1954 erinnert eine große Gedenktafel im
Garten der Synagoge an die Deportationen
und listet die Namen
der Verschleppten und Getöteten auf.

 

Die Synagoge wurde zuerst als Garage und Lagerhaus entweiht, dann als Waffendepot genutzt, das im August 1944 zur Sprengung vorgesehen war. Allerdings konnten italienische Partisanen das weitgehend verhindern, so dass der eingetretene Schaden überschaubar war. Seit 1954 erinnert eine große Gedenktafel im Garten der Synagoge an die Deportationen und listet die Namen der Verschleppten und Getöteten auf.

Heute wird die jüdische Bevölkerung auf etwa 900 Seelen geschätzt – und sie ist überaltert. „Das jüdische Altersheim besteht seit 1957. Es ist das beste in der ganzen Stadt, und es wohnen hier auch nichtjüdische Senioren“, freut sich David Palterer. In der Zwischenzeit entstand auch eine Talmud-Thora-Schule für Sechs- bis Zwölfjährige, Jugendgruppen von Hashomer Hazair bis Bnei Akiba sind aktiv. Abgesehen von der orthodoxen Synagoge gibt es noch die Aktivitäten von Chabad und die kleine „progressive“ Gemeinschaft Schir Hadasch.

In der Via Luigi Carlo Farini 6 steht der Tempio Maggiore, die große Synagoge, und nur ein paar Schritte weiter vis à vis kann man entweder bei Ruth’s koschere vegetarische Gerichte genießen oder sich bei Ba Ghetto Firenze nach dem Besuch des Museums laben, wo mediterrane koschere Speisen mit orientalischem Flair angeboten werden. Jetzt, Freitag am frühen Nachmittag, spaziert Rabbiner Gadi Piperno am Schanigarten des Ba Ghetto vorbei: David Palterer und eine Mädchenrunde rufen ihm fröhlich und laut „Schabbat Schalom“ zu. „Wir sehen einander bald alle beim Musikfestival Balagan (hebr. Chaos) wieder“, freut sich Palterer. „Da steht auch Enrico Fink, der Präsident unserer Gemeinde, auf der Bühne, denn er ist hauptberuflich Musiker. Sein Ensemble Mischmasch bringt einen Mix aus sephardischen Liedern und italienischer Filmmusik.“


 

David Palterer und die mehrsprachige sephardische Stadtführerin Chiara Sciunnach vor der Synagoge. © Reinhard Engel

DAVID PALTERER Weil man David Palterer (* 1949) in seiner Heimatstadt Haifa nicht ins Technion – Israel Institute of Technology aufnahm, machte er eine internationale Karriere: Er studierte in Florenz, wo er auch seit 1972 lebt. 1983 gründete er mit dem tschechischen Möbeldesigner und Glaskünstler Bo ek Šípek in Amsterdam eine Design-Werkstatt, in der er Möbel und Glasobjekte für hochkarätige Firmen wie Cleto Munari, Artelano und Zanotta kreierte. Außerdem entwarf er gemeinsam mit Luigi Zangheri die Innenarchitektur für den San Casciano, den Florenzer Flughafen, für Parks in Pesaro und Tel Aviv sowie ein Restaurant in Tokio; darüber hinaus arbeitete er an der architektonischen Neubewertung der Altstadt von Parma mit. „Mich interessieren Design-Experimente, die für die Sinne etwas planen. Immer an der Grenze zwischen rational und irrational.“ Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit umfasst Produktdesign und Architektur, daneben hat er zahlreiche internationale Lehraufträge, u. a. an der Syracuse University New York, am Werkbund Stuttgart, an der Bezalel School of Arts and Crafts in Jerusalem sowie an den Hochschulen für Industriedesign und Architektur von Florenz und Mailand. Bei einem Lehrauftrag in Mantua lernte er den Innsbrucker Peter Assmann kennen, der damals Direktor des Palazzo Ducale war. Assmann, 2000–2013 Direktor der Oberösterreichischen Landesmuseen in Tirol, organisierte für Palterer eine große Ausstellung in Innsbruck. Zahlreiche seiner Objekte wurden auch im Israel Museum in Jerusalem ausgestellt – oft gemeinsam mit seinem Berufskollegen Hans Hollein, mit dem der Israeli befreundet war, und mit Größen wie Frank O. Gehry, Alvar Aalto oder Daniel Libeskind. Der international renommierte Architekt und Designer bekam immer wieder auch in Israel bedeutende Aufträge, wie z. B. an der Klagemauer – dennoch blieb er in Italien sesshaft. „Mit meiner Familie war ich als Kind so viel unterwegs, dass ich mich in Florenz mit seinen jüdischen Textilhändlern und Intellektuellen sehr wohl fühle“, lacht der Architekt, dessen Familie ursprünglich aus Polen stammt. Seine Eltern überlebten die Shoah vorerst in Russland, dann in Sibirien. Die Verwandten, die in Krakau geblieben waren, wurden alle ermordet. Yizchak Palterer, Davids Vater, war nach 1945 Stadtarchitekt in Buchara, bevor die Familie nach München zog und erst Jahre später in Haifa landete. Ab 1959 arbeitete der Vater für Israels größtes gewerkschaftliches Bauunternehmen Solel Boneh, daher verbrachte sein Sohn drei Jahre in Ghana, wo Yizchak Palterer gemeinsam mit den belgischen Diamantenhändlern auch eine Synagoge baute. Während Vater Palterer noch in Teheran für den Schah arbeitete und in der Türkei an Häuser- und Flughafen-Projekten werkte, durfte David bereits in Israel das Gymnasium besuchen.

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