Geschlecht und Alter vergessen machen

Die junge israelische Dirigentin Keren Kagarlitsky hat ihre neue musikalische Heimat am Währinger Gürtel gefunden, wo sie auch als Komponistin erwünscht ist.

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Keren Kagarlitsky mit ihrem Dirigierstab, der sie nun endlich auch nach Wien gebracht hat. © Haim Kimchi

WINA: Mit 31 Jahren sind Sie seit der Saison 2022–2023 Hausdirigentin an der Volksoper, wo Sie erst am 12. Oktober 2022 mit dem Dirigat der Zauberflöte debütierten. Gleichzeitig komponieren Sie auch. Beide Fächer sind noch immer stark männlich dominiert, auch wenn erfolgreiche Dirigentinnen bereits weltweit auf dem Vormarsch sind. Aber wie kommt man als junge Frau in Israel auf diese Idee?
Keren Kagarlitsky: Das Lustige ist, dass mich das Komponieren sogar noch vor dem Dirigieren interessiert hat. Mit meinem russischen Background – meine Eltern und Großeltern mütterlicherseits kamen 1990 aus der ehemaligen Sowjetrepublik Kirgistan nach Israel – war es klar, dass ich schon sehr früh unbedingt Klavier oder Geige spielen musste. Auch auf meine Mathematikkenntnisse wurde großer Wert gelegt. Das war gut, denn das half mir beim Studium der Komposition.

Sie sind 1991 geboren, erzählen Sie uns ein wenig über Ihren familiären Hintergrund. Gab oder gibt es Musiker in Ihrer Familie?
I Ja, ich bin die erste Sabra in der Familie, später kamen noch zwei jüngere Brüder dazu. Beruflich bin ich die Erste, die zur Musik gefunden hat: Meine Mutter ist Röntgentechnikerin, mein Vater handelt mit Technikgeräten. Aber meine Großmutter – ich habe erfreulicherweise auch noch eine Urgroßmutter – war professionelle Klavierlehrerin, und sie begann mich auch als Sechsjährige zu unterrichten.

Haben Sie Ihren Militärdienst dann im Musikbereich von Zahal (IDF) geleistet?
I Nein, überhaupt nicht. Ich hatte großes Glück mit meiner späteren Klavierlehrerin Shoshana Cohen: Sie wohnte in der Nähe von Jerusalem, aber ich musste in Tel Aviv den bürokratischen Militärdienst machen. Sie organisierte für mich eine Gastfamilie, die mich sozusagen zwei Jahre „adoptierte“, damit ich in Tel Aviv weiter üben konnte. Das Problem war nur: Diese Familie besaß kein Klavier. Da fand ich, auf der Ibn-Gavirol-Allee in Tel Aviv, ein riesiges Klaviergeschäft, ging in der Uniform hinein und fragte, ob ich dort üben dürfte. „Suchen Sie sich ein Klavier aus“, sagte der Besitzer. Zwei Jahre lang ging ich täglich nach meinem Dienst in dieses Geschäft und übte. Zum Abrüstungen spielte ich dort ein kleines Konzert für meine Offiziere und Kameradinnen.

Nach dem Militär begannen Sie sofort mit dem Studium?
I Ja, ich machte meinen BA-Abschluss an der Jerusalem Academy of Music and Dance in Komposition bei Menachem Wiesenberg und das Dirigat-Studium bei den Professoren Eitan Globerson und Avner Biron. Die Komposition war mir immer das Wichtigere, weil ich ständig Ideen hatte, und da war mir das Klavierspiel zu wenig, ich wollte unbedingt musikalische Themen orchestrieren. Um ein Orchester besser kennen zu lernen, habe ich mit dem Dirigieren begonnen – und mich dann total in dieses neue Fach verliebt. Zum Glück konnte ich bereits an der Jerusalemer Akademie Bildungsprogramme leiten und so für das Hochschulsymphonie-Orchester von 2018 bis 2020 zahlreiche Stücke musikalisch arrangieren und auch dirigieren.

Wie gelang Ihnen der Sprung nach Europa sowohl für das weitere Studium wie auch für die ersten Engagements mit so renommierten Orchestern wie der BBC Philharmonic, dem Bretagne Symphony Orchestra, dem Jerusalem Symphony Orchestra oder dem Teatro Massimo Opera House in Palermo?
I Ich wollte immer nach Europa, die Kultur aufsaugen, Erfahrungen sammeln. Nach meinem Bachelor in Jerusalem, aber vor meinem Master in Dirigieren an der Universität der Künste Berlin, bekam ich bereits meinen ersten Job: Nach einem Auditioning für die Raanana Symphonette, die Omer Meir Wellber leitete, engagierte er mich zuerst als seine Assistentin in Israel und nahm mich später in der gleichen Funktion nach Europa mit – nach Palermo, Dresden, London. Als Omers Assistentin bekam ich zahlreiche Einladungen als freiberufliche Dirigentin. Es freute mich sehr, mit diversen Orchestern arbeiten zu können, und so ging ich nach Berlin, schloss dort meinen Master 2022 ab, während ich laufend als Dirigentin mein Geld verdiente.

Wie kam es dann zu Ihrem fixen Engagement an der Wiener Volksoper mit der neuen Leitung unter Lotte de Beer?
I Lustigerweise kannte ich Lotte de Beer schon aus Tel Aviv, wo wir im Oktober 2021 am Opernhaus bei der Uraufführung von Kundry von Avner Dorman* zusammengearbeitet haben. Konkret für Wien empfohlen hat mich dann Musikdirektor Omer Meir Wellber. Wir hatten ja schon zwei Jahre in Israel zusammengearbeitet und danach in Palermo bei Produktionen wie Don Giovanni und Carmen. Besonders schön und intensiv war die Beschäftigung mit der Zauberflöte an der Semperoper in Dresden.

© Haim Kimchi

An der Volksoper dirigierten Sie bereits Jolanthe und der Nussknacker und The Sound of Music. Jetzt übernehmen Sie fünf Vorstellungen im Juni von Die lustigen Weiber von Windsor. Waren Sie als Dirigentin je Vorurteilen oder Diskriminierungen als Frau in diesem Fach ausgesetzt?
I Niemals als Frau, aber Sie werden lachen: Wegen meines Alters bzw. meiner Jugend spüre ich oft eine anfängliche Reserviertheit. Bei den Proben gelingt es mir dann, sowohl Geschlecht wie auch Alter vergessen zu machen. Auch die Musikerinnen und Musiker kommen mit dieser professionellen Einstellung – und in dem Moment, wo wir musikalisch die gleiche Sprache sprechen, einander vertrauen, funktioniert das wunderbar. Insbesondere weil ich selbstverständlich die Führung vorgebe, aber als Team-Playerin auch zuhöre, wenn die erfahrenen Kollegen Ideen oder Vorschläge haben – manche sind länger im Orchester, als ich auf der Welt bin.

 

„Wegen meines Alters bzw. meiner Jugend spüre ich oft eine anfängliche Reserviertheit. Bei den Proben gelingt es mir dann, sowohl Geschlecht wie auch Alter vergessen zu machen.“

 

Sie komponieren derzeit Musik für eine historisch sehr bedeutsame Uraufführung, die nicht nur zum 125. Geburtstag der Volksoper Wien realisiert wird, sondern auch die Vertreibung 1938 der jüdischen Künstlerinnen und Musiker zum Thema hat. Unter dem Titel Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938 fügen Sie Musik u.a. von Arnold Schönberg und Viktor Ullmann – sowie Eigenes – zur Operette Gruß und Kuss aus der Wachau von Jara Beneš und Hugo Wiener hinzu.Wie viel bleibt vom Libretto des Duos Breuer/Löhner-Beda übrig? Bleibt die Originalmusik unberührt?
I Leider ist von der ganzen Operette nur mehr der Klavierauszug vorhanden, die Partitur ist verschollen. Gemeinsam mit dem Chefdramaturgen der Volksoper, Peter te Nuyl, haben wir beschlossen, die ganze Operette zu spielen, denn sie ist nicht lang. Aber nur diese Musik zu spielen, ist sinnlos, daher belassen wir die teils kitschigen Elemente jener Zeit und ihres Stils, müssen aber gleichzeitig die reale Welt zwischen 1933 und 1938 zeigen, die jene Künstler betroffen hat, die diese Operette geschrieben und inszeniert haben.

Also wird es ein Stück im Stück: Die Operette wird geprobt so wie damals, aber jene, die das szenisch und musikalisch betreuten, erlebten eine ganz andere, eine grausame Realität?
I Genau so, für diese raue Außenwelt verwende ich die Verklärung von Arnold Schönberg genauso wie die expressionistischen Musikelemente eines Viktor Ullmann. In meiner eigenen Komposition verwische ich diese faszinierenden Grenzen zwischen der Operettenseligkeit auf der Bühne und dem dramatischen Geschehen außerhalb des Theaters. Aber an einem bestimmten Punkt verschmelzen die zwei Welten, und diese emotionale Geschichte male ich musikalisch aus.

Haben Sie noch Zeit, andere Dirigate anzunehmen?
I Im Juli, wenn die Volksoper Ferien macht, bin ich in Italien verpflichtet, außerdem leite ich mein eigenes Orchester an der Jerusalemer Akademie. Heuer hatte ich mein Debüt beim Israel Philharmonic Orchestra mit einem Ausbildungsprogramm, das war ein großartiges Erlebnis, ich habe schon die Einladung für nächstes Jahr. Denn ich weiß genauso gut wie die Volksoper, dass es sehr wichtig ist, weiterhin mit anderen Orchestern Erfahrung zu sammeln, damit man offen und aktiv bleibt. Ich habe in diesem Jahr so viel hier gelernt, da wünsche ich mir in dieser tollen Volksopern-Familie mit dem new spirit noch viele solche schöne und herausfordernde Jahre.


* Komponist Dorman meint, dass der Boykott in Israel Wagner zu wichtig nehme. Seine Oper Kundry decke dagegen seine Schwächen auf: „Alle reden immer über seinen Antisemitismus, aber kaum einer über seinen Sexismus.“ In der Oper werde ein Dialog zwischen einer heutigen Opernsängerin und der Wagner-Figur Kundry geschaffen. Von den Verstrickungen des Wagner-Clans am Vorabend der Hitler-Herrschaft schrieb Dorman die Musik für die Oper Wahnfried, die 2017 erfolgreich in Karlsruhe uraufgeführt wurde.

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