„Weil ich hier leben will …“

Zum zehnjährigen Bestehen des jüdischen Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks (ELES) zur Begabtenförderung ist ein von Rabbiner Walter Homolka und anderen herausgegebener Sammelband erschienen, der am „Jüdischen Zukunftskongress“ in Berlin vorgestellt wurde. Darin machen sich junge ELES-Stipendiaten Gedanken über ihre Zukunft in Deutschland.

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Walter Homolka, Jonas Feigert, Jo Frank (Hg.): „Weil ich hier leben will ...“ Jüdische Stimmen zur Zukunft Deutschlands und Europas. Herder, 224 S., € 20

Vom jüdischen „Unort“ zum Ziel, für viele sogar zu einem Sehnsuchtsort, ist – Ironie der Geschichte – gerade Deutschland in den letzten Jahrzehnten geworden. Über 200.000 so genannte „Kontingentflüchtlinge“ kamen in den frühen 90er-Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion, junge Israelis strömen seit der Jahrtausendwende nach Berlin, und sie alle veränderten und bestimmen heute die jüdische Gemeinschaft in Deutschland.

„Weil ich hier leben will …“ Das Wichtigste an diesem Titel seien die drei Punkte, heißt es im Vorwort. Denn dem Entschluss, in Deutschland zu leben, ging nicht nur einiges voran, er muss auch Konsequenzen für die Zukunft haben.

Welches Deutschland, welches Judentum und welchen Platz in der Gesellschaft wünschen sich die jungen Intellektuellen, Angehörige der Enkelgeneration der Schoah-Überlebenden? Divers, vielfältig und kontroversiell wie ihre Biografien fallen auch die individuellen Zukunftsvisionen aus.

»Wie läuft das Jewishing in Berlin?«

„Machloket“, also der religiöse Dissens, der Wille zur produktiven Streitkultur, ist dem Judentum inhärent, und so ist gerade das Plädoyer für den gelebten Pluralismus das Gemeinsame der unterschiedlichen Positionen, die von allen möglichen Standpunkten aus das Problem der jüdischen Identität umkreisen.

Max Czollek:
Desintegriert
euch!
Hanser,
208 S., € 18

Postsowjetische Flüchtlinge können mit der Erinnerung an die Schoah und jüdischen Traditionen wenig anfangen, doch oft bringen ihre Kinder das verlorene Judentum aus der jüdischen Schule nach Hause zurück. Nachfahren jüdischer Emigranten aus Südamerika wollen als „Rückwanderer“ ihren Platz in der deutschen Gesellschaft wieder besetzen, eine Enkelin, deren Großeltern einst Alija gemacht haben, fühlt sich jetzt in Berlin „freier“ als in Israel.

Mit einer jüdischen Bevölkerung von über 200.000 Menschen, wovon freilich nur etwa die Hälfte jüdischen Gemeinden angehört, gibt es natürlich ein großes Angebot an religiöser Praxis. Auf die Frage „Wie läuft das Jewishing in Berlin?“ gibt es daher mehr als eine Antwort, von säkular bis orthodox, von der Mikwe bis zum Döner zu Yom Kippur. Unterschiedlich ebenso die Einstellungen zur deutsch-muslimischen Community und zur Mehrheitsgesellschaft. Migration und Integration seien die Herausforderungen der Zukunft, meinen die einen.

„Desintegriert euch!“ fordert hingegen provokant der Lyriker Max Czollek, der nicht nur einen Beitrag, sondern auch eine Streitschrift dieses Titels verfasst hat.

Mit der „Judenrolle“ auf der Bühne des „deutschen Gedächtnistheaters“, wie es der Soziologe Michal Bodemann bezeichnet hat, sollte endlich Schluss sein. Juden sollten sich nicht weiter für die „deutsche Läuterung“ benutzen lassen, ihre Rollen als „Juden für Deutsche“, als reine und gute Opfer in der deutschen Dominanzkultur verweigern. „Lasst uns Juden sein!“, ruft Czollek auf, fordert quasi nebenbei ein Recht auf Rache und plädiert für eine „jüdisch-muslimische Leitkultur“.

Während also fast alle ELES-Stipendiaten trotz AfD, trotz mehr oder minder gefühltem Antisemitismus einer rosigen Zukunft in Deutschland entgegensehen, löckt einer von ihnen, Max Czollek, polemisch gegen den Stachel. Es wird „nie wieder alles gut“, so sein Ré­su­mé aus der deutsch-jüdischen Geschichte.

Mutatis mutandis gelten diese geballten Denkanstöße auch für das viel kleinere jüdische Österreich. 

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