Hätte er es noch erlebt, wäre Erich Kästner Shelleys Schwiegervater gewesen. Dessen Sohn Thomas Kästner verschaffte sich mit Hilfe eines DNA-Tests Gewissheit über ein Gerücht. „Zweifelsfrei“ ergab sich da-raus, dass der jüdische Arzt Emil Zimmermann der Vater des berühmten deutschen Autors war, Erich Kästner also „Halbjude“, so what?
„Wir sind alle gemischt“, weiß die jüdische Genetikerin Joelle Apter. Um diese Mischung bzw. ihre diversen Anteile und woher sie jeweils kommen, geht es auch in so manchen Geschichten des Bandes, die sich wie Beichten lesen, oder fast.
»Wir sind alle gemischt.«
Joelle Apter
So schrieb etwa ein presbyterianischer Reverend aus Minnesota für seine Enkelin seine Familiengeschichte auf. Sie war allerdings frei erfunden. Denn seine Eltern stammten nicht, wie er behauptete, aus England, sondern aus einem tschechischen Dorf, und sie waren Juden. „Jüdisches Roulette“, hat es Shelley Kästners Sohn genannt. Man gibt einen bekannten Namen bei Google ein und stößt irgendwo auf jüdische Verwandte.
Fallgeschichten. „Na, da kommen ja die Judenkinder“, soll eine christliche Großmutter beim Besuch ihrer gemischten Enkelkinder gesagt haben, erzählte eine inzwischen verstorbene „Dreivierteljüdin“, die nach den Schrecken der Nazizeit ihren Sohn nicht beschneiden hat lassen, denn „ich wollte ihn schützen“.
Der „backlash“ nach all den Verdrängungen und Tabus folgt dann oft in der dritten Generation. Orientierungs- und religionslos aufgewachsen, suchen Enkel nach ihren Wurzeln, graben jüdische Ahnen aus, kehren zurück, von wo und wohin auch immer, suchen neue Lebenswege. Ein Briefständer am Schreibtisch der Großmutter, auf dem „Shalom“ stand, das war die jüdische Kindheitserinnerung einer „Vaterjüdin“, die sich zum „Giur“, also zum Übertritt ins Judentum entschloss und über diesen innerlichen und äußerlichen Prozess berichtet, wie auch ein ehemals linker Journalist, der orthodox wurde und jetzt Shlomo heißt. Vom Gegenteil, also vom Glaubensabfall, vom Ausbruch aus der Orthodoxie erzählt einer, der nicht genannt werden will, denn das „kann ich meiner Familie nicht antun“. Jüdisch ist er geblieben, was immer das auch heißen mag.
Mancherlei Facetten der viel zitierten jüdischen Identität, über die ja schon wahrlich eine Menge geschrieben wurde, repräsentieren die einzelnen Stimmen. Sei es Orna Porat, die aus Liebe zum Judentum übertrat und zur Grande Dame des israelischen Theaters wurde, sei es ein alter Holocaust-Überlebender, der Probleme mit dem G-ttesglauben hat, sei es ein Mitglied der Church of Scotland, der nicht ahnt, dass seine Eltern Juden sind, bis die Großmutter auf dem jüdischen Friedhof begraben werden will. Oder eine seit dem 17. Jahrhundert in der Schweiz ansässige „ganz normale Bauernfamilie“, die auf ihrem Hof ein religiöses jüdisches Leben aufrecht erhält. Seit Generationen einheimisch, fühlen sie sich trotzdem fremd, und Antisemitismus, den gäbe es natürlich schon. Wie viele Befragte auch können sie „es“ nicht genau benennen. „Es ist einfach etwas da. Aber wir sind ja tatsächlich auch anders.“
Obwohl Shelley Kästner ausgebildete Psychologin ist, enthält sie sich bei ihren Fallgeschichten jeder Wertung, sie lässt ihre Gesprächspartner einfach monologisieren und ihre Leser staunen, wie viel Platz unter dem jüdischen Dach ist. Auch wenn man das vielleicht schon gewusst hat, ist doch jeder dieser Wege, mit dem ererbten, partiellen, verdrängten oder neu erworbenen Judentum umzugehen, auf ganz eigene Weise berührend.