Werden und Sterben der „lebenden Bilder“ in Wien

Mit seiner aktuellen Ausstellung KINO WELT WIEN widmet sich das Filmarchiv Austria nicht zuletzt auch den vergessenen jüdischen Kinobetrieben der einstigen „Filmstadt Wien“. Angela Heide sprach mit der Kuratorin Martina Zerovnik über Konzept und Gestaltung der groß angelegten einjährigen Schau.

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Erste Kinos: Im Prater wurden Schaubuden in Kinos umgerüstet, und auch in anderen Gegenden Wiens wurden feste Spielstätten eingerichtet. © FAA

WINA: Die Ausstellung trägt den vielversprechenden Titel KINO WELT WIEN. Wie würdest du als Kuratorin der Schau die „Kinowelt Wien“ von einst und heute beschreiben?
Martina Zerovnik: Die Wiener Kinowelt ist ein Abbild technischer, gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen, egal, welche Epoche wir uns anschauen. Von Anfang an ringen Kapital, Erziehung, Politik und Kultur um die Gunst des Publikums. Als kultureller und sozialer Ballungsraum verhandelt das Kino immer auch Kultur- und Gesellschaftsgeschichte und ist ein politischer Ort, an dem maßgebliche Entwicklungen des 20. Jahrhunderts ihren Niederschlag fanden.

Die erste Kinovorstellung in Wien wird mit dem Jahr 1896 datiert. Wie wurden die ersten Kinos aufgenommen?
Zu den wichtigsten Unterhaltungsstätten der damaligen Zeit gehörten der Prater, Varietés und Gaststätten, und alle waren auch Orte der frühen Kinematografie. Die Vorführung lebender Bilder oder Fotografien gehörte dem Schaustellertum an und wurde vor allem als technische Sensation wahrgenommen. Im Prater wurden dann schließlich Schaubuden in Kinos umgerüstet, und auch in anderen Gegenden Wiens wurden feste Spielstätten eingerichtet. Die Anzahl der Kinos stieg ab 1905 so rasch, dass häufig formuliert wurde, dass die Kinos wie Pilze aus dem Boden schießen, auch von „Kinoseuche“ wurde gesprochen, worin sich die damals nicht selten kritische bis abschätzige Haltung gegenüber dem neuen Medium und seinem Ort ausdrückt.

Das Klosseum Kino im 9. Bezirk startete 1898 als Varieté, wurde 1925 ein Kino mit 700 Sitzplätzen und schloss 2002. © FAA

Wie sah die Verteilung der historischen Kinostandorte in den folgenden Jahren aus?
Bis in die 1910er-Jahre erhöhte sich die Anzahl der Kinos in Wien auf etwa 150. In den ersten Jahrzehnten gehörten die „jüdische“ Leopoldstadt und insbesondere der Prater neben der Inneren Stadt zu den kinoreichsten Bezirken von Wien. Neubau entwickelte sich durch Kinos, Film- und Verleihfirmen, von denen ein Großteil in jüdischem Besitz waren, zum Zentrum der Branche. Und auch die Landstraße war kinoreich. Unter den äußeren Bezirken verfügten Meidling, Rudolfsheim-Fünfhaus, Ottakring und Favoriten – mehrheitlich „Arbeiterbezirke“ – über besonders viele Kinos. Charakteristisch für Wien war auch die Einbindung von Kinos in Gemeindebauten, wie das Plaza und das Kino Sandleiten in Ottakring oder das Amalien Kino im Arbeiterheim Favoriten. Diese entstanden vor allem in den 1920er-Jahren, als die Stadt – das „Rote Wien“ – immer stärker eine ideologisch motivierte Kinopolitik betrieb oder es zumindest versuchte. Nicht weniger als rund 50 Prozent der Wiener Kinos waren dabei, so die spätere NS-Diktion, in „jüdischem“ Besitz oder hatten Teilhaber*innen jüdischer Herkunft.

»Als kultureller und sozialer Ballungsraum
verhandelt das Kino immer auch Kultur- und Gesellschaftsgeschichte.«

Wie vollzog sich die „Arisierung“ von Kinobetrieben ab März 1938, deren Inhaber- bzw. Teilinhaber*innen als Jüdinnen und Juden eingestuft wurden?
Wie Klaus Christian Vögl in seinem Beitrag in der Begleitpublikation zur Ausstellung beschreibt, erloschen 1938 alle Kinokonzessionen und mussten bei der Reichsfilmkammer neu beantragt werden, wovon Jüdinnen und Juden jedoch ausgeschlossen waren. Ihnen war der Besitz, Betrieb und auch der Besuch von Kinos verboten. Sie waren gezwungen, ihre Spielstätten zu verkaufen, und sie wurden enteignet. Generell wurde versucht, den Enteignungsprozessen einen rechtlichen Rahmen zu geben, indem eine Kommission eingesetzt wurde, Verhandlungen geführt und Entäußerungs- oder Verkaufsverträge aufgesetzt wurden. Man konnte sich bei der „Arisierungskommission“ für die Übernahme eines zu „arisierenden“ Unternehmens bewerben. Ideologietreue Personen und Parteigenossen und -genossinnen, auch viele „illegale“ Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen bekamen in der Folge diese Kinos, viele von ihnen ohne jegliche Erfahrung in dieser Branche.

Kinostadt: In den 1910er-Jahren gab es bereits über 100 Kinos in Wien. © FAA; privat

Mit dem „Anschluss“ wurden nicht nur jüdische Kinobetriebe „arisiert“, sondern auch die Filmlandschaft in Österreich den Interessen des NS-Regimes unterstellt. Gab es ab 1938 noch so etwas wie eine österreichische Filmproduktionslandschaft?
Österreich war Teil des Deutschen Reichs, also trug de facto alles, was produziert wurde, dieses Etikett. Zugleich wurde aber so etwas wie ein Label „Ostmark-Film“ eingeführt, das für heimatverbundene und gefällige, aber hintergründig nicht weniger ideologisch motivierte Filme stand. Österreichische Filmproduktionsfirmen (re-)produzierten Gedankengut der nationalsozialistischen Ideologie: Deutschvölkische Gemeinschaft und Kultur, Heimatkonstruktionen, Antisemitismus, Feindbilder prägten die Filme mehr oder weniger subtil. In Wien wurden die Spielstätten der städtischen Kinogesellschaft KIBA von der Ostmärkischen Filmtheaterbetriebs GmbH übernommen, z. B. Apollo oder Scala, hier fanden auch die Premieren der großen ideologischen Machwerke statt. Dazu wurden die Fassaden der Kinos mit Hakenkreuzen und Hitler-Bildnissen geschmückt. Einige Kinobesitzerinnen und Kinobesitzer taten dies auch ohne besonderen Anlass. Nicht zuletzt durch die Verpflichtung, vor jedem Film Ostmark-Wochenschauen zu zeigen, waren die Kinos Teil der nationalsozialistischen Manipulationsmaschinerie.

»Durch die Verpflichtung, vor jedem Film Ostmark-Wochenschauen zu zeigen, waren die Kinos Teil der NS-Manipulationsmaschinerie.«

 

Wie funktionierte die Rückstellung der Wiener Kinos?
Im Zuge der von den Alliierten veranlassten Entnazifizierung sollten auch die Kinobetriebe ihren ursprünglichen Besitzerinnen und Besitzern zurückgegeben werden. Zum Beispiel über Anzeigen in Zeitungen wurden diese aufgerufen, sich in Wien persönlich zu melden. Da dafür jedoch nur ein kurzes Zeitfenster veranschlagt wurde, hatten viele nicht die Möglichkeit, dem Aufruf zu folgen, ganz abgesehen davon, dass Kinobesitzerinnen und Kinobesitzer auch in Konzentrationslager deportiert worden waren und eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Die Nachfahren oder Erben waren nur schwer ausfindig zu machen. Schließlich eignete sich nicht nur die reaktivierte stadteigene KIBA viele der „arisierten“ Kinos an, auch ehemaligen Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten wurde in Rückstellungsprozessen Recht gegeben.

Ostmark-Film: Das Label stand für heimatverbundene und gefällige, aber hintergründig nicht weniger ideologisch motivierte Filme. © FAA; privat

Wie habt ihr die Schau konzipiert? Welche Schwerpunkte setzt ihr?
Die Ausstellung nähert sich der Kinogeschichte gewissermaßen aus unterschiedlichen Richtungen. In zwei Räumen wird jeweils eine andere Blickweise auf die KINO WELT WIEN gelegt. In einer Ausstellungsebene geht es um die Kinogeschichte, also um einen historischen Zugang und wesentliche Entwicklungen in der Bedeutung und Funktion, die das Kino im Kontext von „Kino Macht Gesellschaft“ hatte und heute noch hat. Auf der zweiten Ebene bringen wir die Wiener Kinolandschaft in den Raum, verfolgen also einen topografischen Zugang, der auch wirklich ein Flanieren durch die bestehende und die vergangene Kinowelt Wiens ermöglicht – im Sinne von „Kino Macht Stadt“.

Geht ihr auf bestimmte Kinos im Detail ein?
Alle bestehenden Kinos werden mit einem Modell dargestellt, das eigens angefertigt wird. Und dann gibt es noch einen Zeitschritt mit den Fotos von Herwig Jobst aus dem Jahr 1980, die viele Kinos zeigen, die es heute nicht mehr gibt. Auf einer Grundkarte von Wien werden darüber hinaus alle Kinos, die es jemals gegeben hat, zumindest verortet, um zu zeigen, wo und wie dicht sie über die Stadt verteilt waren. So entsteht eine vielschichtige Kinolandschaft, durch die die Besucherinnen und Besucher flanieren können. Neben der begehbaren Wien-Karte wird es auch eine digitale Karte als interaktive Projektion geben, auf der Besucher*innen Kinos auswählen können und Informationen dazu erhalten.

Kino Welt Wien
Eine Kulturgeschichte städtischer Traumorte
Kuratiert von Martina Zerovnik
Metro-Kinokulturhaus
Johannesgasse 4, 1010 Wien
5. März 2020 bis 10. Jänner 2021
tgl. 14–21 Uhr
filmarchiv.at

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