Pionierinnen: Neue Ausstellung „Who Cares? Jüdische Antworten auf Leid und Not“ im Jüdischen Museum Wien

Zwischen „Tikun Olam“, der Reparatur der Welt, „Pikuach nefesh“, Lebensrettung, und „Zedaka“, der Wohltätigkeit, spannt die neue Schau „Who Cares? Jüdische Antworten auf Leid und Not“ den Bogen zum Themenfeld Fürsorgearbeit, medizinische Betreuung und Unterstützung für Mitmenschen aller Art. Gerade in einer Zeit von Krieg du Krisen „sollten wir uns darauf besinnen, was die Menschheit zusammenhält: das Kümmern um andere“, betonte Museumsdirektorin Barbara Staudinger am Dienstag bei der Presseführung durch die Ausstellung.

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© Momentosphere by Tobias de St. Julien

Die Ausstellung wartet mit viel Kunst, vielen spannenden Objekte aus vergangenen Zeiten wie zum Beispiel einem historischer Brandschutzanzug oder einer Zwangsjacke, vor allem aber mit jeder Menge spannender Lebensgeschichten auf. Füreinander da zu sein ist eines der wichtigen Merkmale des Judentums, sich umeinander zu kümmern und Wohltätigkeit werden seit jeher groß geschrieben. „Liebe deinen Nächsten“, heute für viele zuallererst mit dem Christentum assoziiert, finde sich in der Tora, betonte Marcus G. Patka, der die Schau gemeinsam mit Caitlin Gura kuratierte.

Er sieht hier auch eine wichtige Brücke zwischen den Religionen. Dieses Brückenmotiv zieht sich durch die gesamte Ausstellung und mündet im letzten Ausstellungsraum in einer Installation, für die durchsichtige Spendenboxen verschiedenster Hilfsorganisationen von heute nebeneinander an einer Wand montiert wurden. Hier findet sich ESRA und die Volkshilfe ebenso wie die Caritas oder Shalom Alaikum. Besucher und Besucherinnen sind hier eingeladen, die Boxen auch tatsächlich mit Spenden zu befüllen. Gelebte Zedaka also.

Die vorgestellten Menschen, viele von ihnen Pioniere und Pionierinnen auf ihrem Gebiet – hier sei als der Prominenteste der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, genannt – waren jedoch Juden beziehungsweise kamen aus jüdischen Familien. Besonders bemüht hat sich das Kuratorenteam hier, jüdische Frauen vor den Vorhang zu holen. Sie alle bildeten in ihren jeweiligen Wirkungsbereichen eine Avantgarde.

Von Ausstellungen, die ein so großes Themenfeld umreißen, nehmen Besucher und Besucherinnen jeweils individuell Verschiedenes mit. Ich möchte in diesem Beitrag vor allem einige der vorgestellten Frauen vor den Vorhang holen. Wer einem da so einfällt? Anna Freud und Eugenie Schwarzwald zum Beispiel, und ja, sie kommen in der Schau natürlich auch vor. Schwarzwald (1872-1940) gründete schon um 1900 koedukative, aber auch reine Mädchenschulen und war eine bedeutende Reformpädagogin. Ab 1933 half sie vertriebenen Juden und Jüdinnen aus Deutschland, ab 1934 unterstützte sie in Österreich verfolgte Sozialdemokraten und -demokratinnen. Anna Freud (1895-1982) wiederum, die Tochter Sigmund Freuds, war nicht nur dessen wissenschaftliche Mitarbeiterin, sie hat auch die Kinderanalyse mitbegründet. Freud arbeitete dabei zunächst vor allem nach dem Ersten Weltkrieg mit kriegstraumatisierten Kindern. Wegweisend waren auch ihre Publikationen im Bereich Entwicklungspsychologie.

Gura wies mich aber auch auf eine Frau hin, die Jahrhunderte zuvor gelebt hatte: Virdimura, Frau des Arztes Pasquale von Catania. Sie war Jüdin, hatte von ihrem Mann die Kunst der Medizin erlernt, und erhielt in Sizilien 1376 auch die Erlaubnis, als Ärztin zu praktizieren, nachdem sie sich in einer Prüfung durch die Ärzte von Friedrich III. unter Beweis gestellt hatte. In der Schau ist eine Reproduktion ihres Ärztindiploms zu sehen.

 

Während es zuhauf Gemälde jüdischer Ärzte im Arztkittel aus der Zeit um 1900 gibt, sind ähnliche Abbildungen von Frauen rar. Ein solches gemaltes Porträt einer Frau ist jedoch in der Schau zu sehen: Es zeigt Bianca Bienenfeld (1879-1929). An der Universität Wien durften Frauen erst ab 1900 Medizin studieren, Bienenfeld promovierte 1904 und zählte damit zu den Pionierinnen in der Medizin. Sie praktizierte als Gynäkologin und eröffnete schließlich auch eine eigene Frauenärztinpraxis in der Bräunerstraße.

Bereits einige Jahre zuvor hatte sich Gisela Januszewska (1867-1943) ihren Weg in die Medizin erkämpft. Sie hatte in der Schweiz studiert und leitete ab 1899 ein Ambulatorium für muslimische Frauen in Banja Luka. Diese Frauen ließen sich oft nicht von einem Mann behandeln, das schuf einen Bedarf an Ärztinnen. 1916 trat Januszewska sogar als einzige Frau in der Militärsanitätsdienst ein. Ihre letzten Patienten und Patientinnen waren Häftlinge im KZ Theresienstadt, wo sie selbst im März 1943 ermordet wurde. Weitere Vorreiterinnen in der Medizin waren zum Beispiel Clara Scherer-Hönigsberg (1879-1942) und Friederike Lubinger (1870-1954), beide waren Ärztinnen in der Arbeiterkrankenkasse, aber auch Marie Frischau-Pappenheim (1882-1966) oder Dora Teleky-Brücke (1879-1963).

Frauen waren aber auch in anderen Care-Bereichen Wegbereiterinnen. Henriette Weiss (1864-1931) zum Beispiel begründete Pflegeeinrichtungen, Anitta Müller-Cohen (1890-1962) die Soziale Hilfsgemeinschaft. Mignon Langnas (1903-1949) wiederum ist heute noch vielen auf Grund der Veröffentlichung ihrer Tagebücher ein Begriff. Die Krankenschwester arbeitete ab 1940 für das Altersheim der Israelitischen Kultusgemeinde und später für das Jüdische Kinderspital. Auch Friedl Dicker-Brandeis (1898-1944) half in der NS-Zeit Kindern. Die Designerin, Innenarchitektin und Kunstpädagogin wurde wie auch Januszewska nach Theresienstadt deportiert. Dort organisierte sie Zeichenkurse für Kinder. Sie wurde schließlich im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet.

Zu sehen ist die Ausstellung „Who Cares? Jüdische Antworten auf Leid und Not“ bis September 2024. Geplant sind begleitend Veranstaltungen mit jenen 13 Hilfsorganisationen, für die in der Schau auch gespendet werden kann. www.jmw.at

 

 

 

 

 

 

 

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