Wina: Ihr Beitrag zum Jubiläumsjahr der Salzburger Festspiele ist die Inszenierung eines kaum bekannten Stückes Hugo von Hofmannsthals. War er als einer der Mitbegründer der Festspiele eine Pflichtaufgabe oder Ihre Entdeckung?
Jossi Wieler: Pflichtaufgaben in der Kunst sind keine gute Basis. Bettina Hering, Leiterin des Schauspiels, hat mich gefragt, ob ich zum Jubiläum einen etwas weniger bekannten Hofmannsthal machen möchte, abseits vom Dauerbrenner Jedermann. Wir haben uns gemeinsam auf die Suche gemacht. Durch die Libretti der Richard-Strauss-Opern, wie Ariadne auf Naxos, Rosenkavalier oder Elektra, sind mir Hofmannsthals Texte zwar vertraut, aber ein reines Schauspiel hatte ich von ihm noch nicht inszeniert. Bei Das Bergwerk zu Falun bin ich dann hängen geblieben, auch weil sich der Inhalt nicht sofort erschließt, und gerade das hat mich gereizt. Allein die gebundene Sprache ist für unsere Ohren heute herausfordernd, ohne sie gleich zu ironisieren oder ins Pathos abgleiten zu lassen.

Hat das Stück eine aktuelle Botschaft?
• Auch Botschaften sind keine gute Basis in der Kunst! Es ist ein zeitloses Märchen, und wie bei allen Märchen findet man darin auch Bezüge zur Gegenwart: In unserem Fall ist es die permanente Sinnsuche in einer brüchigen Welt. Die Hauptfigur, Elis Fröbom, ist ein junger Mann, der in seiner Identität nicht gefestigt ist und an sich und der Welt leidet. Ein Gefühl der Heimatlosigkeit und eine Todessehnsucht umwehen ihn und Fragen nach Vergänglichkeit. In einem gewissen Sinn hat Hofmannsthals Stück durch die Pandemie gar an Relevanz gewonnen.

[…] diese wenigen hundert Meter waren letztlich die Rettung vor späterer Emigration oder gar Deportation.

Hofmannsthal definierte sich gemeinsam mit Richard Strauss als Deutscher, Max Reinhardt war hingegen für alle „der Jude“. War Hofmannsthal ein Eskapist vor dem Judentum?
• Ich glaube schon, dass er in der deutschsprachigen Kultur eine Heimat gesucht und auch gefunden hat, mehr als irgendwo sonst. Ich bin kein Spezialist in dieser Frage, aber das Judentum scheint kaum eine Bedeutung für ihn gehabt zu haben. Auch für Max Reinhardts Erfolge am Theater spielte es vorerst keine Rolle, erst als er im aufkeimenden Nationalsozialismus deswegen diffamiert wurde.

Sie wurden 1951 in Kreuzlingen in der Schweiz geboren. Die größere jüdische Gemeinde befand sich im grenznahen deutschen Konstanz am Bodensee.
• Die jüdische Gemeinde in Konstanz entstand nach 1862 im Zuge der Gleichstellung der Juden im Großherzogtum Baden. Aus den sogenannten Judendörfern im südbadischen Raum, Orte wie Gailingen oder Randegg, kamen damals meine väterlichen Vorfahren in die aufstrebende Bodenseestadt Kons-tanz. Durften sie sich davor nur im Viehhandel betätigen, so wuchs bald danach eine neue Generation von Akademikern und Geschäftsleuten heran, die am städtischen Leben regen Anteil nahm. Aber nach der Machtergreifung der Nazis war aktives jüdisches Leben in Konstanz bald nicht mehr möglich, und so wurde im Jahre 1939 jenseits der deutschen Grenze die Israelitische Gemeinde Kreuzlingen gegründet.

Kam Ihre Mutter auch aus dieser Gegend?
• Die Urgroßeltern mütterlicherseits kamen ursprünglich aus Wiesloch in Nordbaden und haben schon Ende des 19. Jahrhunderts in der Schweiz Fuß gefasst. Der eine Urgroßvater väterlicherseits, Maximilian Moos, war Gerber und für einige Jahre auch Vorsteher der Konstanzer jüdischen Gemeinde, während der andere Urgroßvater, Pinchas Pius Wieler, in Konstanz ein Engros-Geschäft für Wolle betrieb, woraus später zwei seiner Söhne – mein Großvater Michael und einer seiner Brüder – 1899 die Strickwarenfirma Pius Wieler Söhne gründeten, die 1905 in Kreuzlingen, also quasi auf der Schweizer Seite der Stadt, in ein neues Fabrikgebäude einzog.

Mein Vater war in der Tat ein Zaddik und ein großer Zionist. Kurz vor dem Krieg, im Sommer 1939, besuchte er noch seine ehemaligen Konstanzer Schulfreunde in Erez Israel.

Die Familie pendelte also zwischen Konstanz und Kreuzlingen?
• Ja, mein Großvater und sein Bruder sind täglich zu Fuß über die Grenze in das nur wenige hundert Meter entfernte Geschäft gegangen. Im Ersten Weltkrieg hatten sie sogar eine Sondergenehmigung dafür. Die Entscheidung meines Großvaters, 1922 endgültig nach Kreuzlingen zu übersiedeln, wo er 1925 die Schweizer Staatsbürgerschaft erhielt, wurde für das Schicksal meiner Familie im wahrsten Sinne des Wortes existenziell. Denn diese wenigen hundert Meter waren letztlich die Rettung vor späterer Emigration oder gar Deportation. Nur die wenigen in Kreuzlingen ansässigen Familienmitglieder wurden davor bewahrt. Alle anderen in Konstanz Wohnhaften wurden, sofern sie nicht rechtzeitig emigriert waren, am 22. Oktober 1940 mit über hundert weiteren Konstanzer Juden in das südfranzösische Internierungslager Gurs gebracht. Ab August 1942 wurden jene, die noch am Leben waren, nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Ihr Vater, Robert Wieler, ist im 100. Lebensjahr im April 2012 in Jerusalem verstorben. In vielen Nachrufen war zu lesen, dass er nicht nur bereits 1936 in Kreuzlingen Boden für einen jüdischen Friedhof kaufte und diesen mitbegründete, sondern auch ein engagierter Flüchtlingshelfer während und nach dem Zweiten Weltkrieg war. Von 1941 bis 1952 stand er als Präsident der Israelitischen Gemeinde Kreuzlingen vor. Wieso machte er als glühender Zionist erst 1979 Alija?
• Mein Vater war in der Tat ein Zaddik und ein großer Zionist. Kurz vor dem Krieg, im Sommer 1939, besuchte er noch seine ehemaligen Konstanzer Schulfreunde in Erez Israel. Er fühlte sich aber seinem Vater und der Geschäftsnachfolge in Kreuzlingen verpflichtet. Dort haben meine Mutter und er im Jahr 1944 geheiratet. Gegen Kriegsende durfte er als Erster in die DP-Camps auf deutscher Seite, um den Befreiten zu helfen und deren Weiterreise zu ermöglichen. Die Absicht, nach Erez Israel zu gehen, war bei den Eltern immer präsent. So verkauften sie alles und zogen als Olim chadaschim, aber erst im Pensionsalter, nach Jerusalem und verlebten dort noch ihre schönsten Lebensjahre.

Wie entstand Ihr Entschluss, mit 21 Jahren nach Israel zu gehen?
• Da meine beiden Geschwister und ich von den Eltern zionistisch erzogen wurden – wir gehörten zur Jugendgruppe Hanoar Haboneh, später Hagoschrim – und nachdem meine Schwester und mein Bruder bereits Alija gemacht hatten, war dieser Schritt auch für mich geradezu selbstverständlich.

Jüdische Geschichte von Konstanz und Kreuzlingen

In einer Steuerliste von 1241 wird die mittelalterliche jüdische Gemeinde in Konstanz erstmals erwähnt. Ab Mitte des 16. Jahrhunderts, unter habsburgischer Herrschaft, durften sich Juden nur in Ausnahmefällen ansiedeln. Erst 1863 ließen sich fünf jüdische Familien in Konstanz nieder; danach setzte ein verstärkter Zuzug aus den nahen „Judendörfern“ ein.
Anfang der 1930er-Jahre lebten in Konstanz knapp 500 jüdische Menschen. Im Jahre 1939 ließen die Schweizer Behörden zwischen den Städten Konstanz und Kreuzlingen einen „Schutzzaun“ errichten, um die Flüchtlingsströme von Juden und politisch Verfolgten aus Deutschland zu stoppen. Die Grenze inmitten der zusammengewachsenen Städte war fast unüberwindlich. Nach der Schoah entwickelte sich Kreuzlingen für viele Jahre als Nachfolgegemeinde des deutschen Konstanz, wohin die Juden vorerst nicht zurückkehrten.
Nach der Gründung einer jüdischen Gemeinde in Kreuzlingen 1939 stieg die Zahl der jüdischen Einwohner dort auf 130 Personen. Erst im Herbst 1968 wuchs die Gemeinde wieder, als einige jüdische Familien nach der Niederschlagung des Prager Frühlings aus der CSSR in die Schweiz geflohen waren. 2009 feierten nur mehr wenige das 70-jährige Bestehen: Überalterung und Auswanderung führten Anfang 2016 zur Auflösung der jüdischen Gemeinde Kreuzlingen.
Doch der Kreis in das deutsche Konstanz schließt sich wieder: Dort wurden Stolpersteine eingelassen, und die Gemeinde zählt heute über 300 jüdische Mitglieder.

Sie lebten von 1972 bis 1980 in Israel und studierten Regie an der Universität von Tel Aviv. War das schon ein früher Berufswunsch?
• Nein, überhaupt nicht: Meine Geschwister hatten sich für soziale Berufe entschieden, und ich wollte auch Sozialarbeit und Psychologie studieren. Als Auslandsstudent musste ich aber vorerst diverse Vorbereitungskurse an der Jerusalemer Universität belegen. Bei einem Drama-Workshop war es dann um mich geschehen. Eine kleine Rolle im Studententheater machte mir so viel Freude, dass ich gleich Schauspieler werden wollte. Die Aufbruchstimmung der 68er-Bewegung lag noch in der Luft, und so war ich in dem naiven Glauben, dass man als Sozialarbeiter die gesellschaftlichen Missstände ohnehin nicht würde beheben können, dass aber durch relevantes Theater die Gesellschaft sehr wohl veränderbar sei …! So habe ich mich schließlich für Regie am Theatre Department der Universität Tel Aviv eingeschrieben und absolvierte dort ein vierjähriges Studium. Meine erste Regiearbeit ermöglichte mir dann der damalige Intendant des Nationaltheaters Habima, David Levin, an seinem Haus.

Ihre beeindruckende Karriere nahm in Deutschland Fahrt auf: Start war in Düsseldorf, dann folgten zwei Jahre am Theater Heidelberg, danach fünf Spielzeiten am Theater Basel. Von 1993 bis 2000 arbeiteten Sie am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg und anschließend neun Jahre an den Münchner Kammerspielen. War das ein Zufall, oder wollten Sie nach Deutschland gehen?
• In Tel Aviv hatte ich spannende Lehrer, die in Frankreich, England oder in den USA beruflich sozialisiert wurden. Zusätzlich war in Israel die russische Theatertradition noch sehr dominant. Gleichzeitig las ich als einziger in der Uni-Bibliothek die mit Schiff und daher mehrmonatiger Verspätung eintreffende deutsche Monatszeitschrift Theater heute. Diese Lektüre faszinierte mich, ich entdeckte das neue deutsche Theater, wie z. B. die Schaubühne oder auch die Arbeiten von Pina Bausch. Ich war von diesem gesellschaftspolitischen Bewusstsein eines öffentlich finanzierten Theaters begeistert – und das alles in meiner Muttersprache! Da wollte ich hin. Durch Zufall lernte ich bei einer Vorstellung in der Habima den Intendanten des Düsseldorfer Schauspielhauses, Günther Beelitz, kennen, und drei Monate später fing ich dort als Regieassistent an.

Nach sieben Jahren als Intendant der Staatsoper Stuttgart drückten Sie Ihre Liebe zum Musiktheater so aus: „Die Oper ist die kollektivste Kunstform überhaupt, ein Ineinandergreifen von allem.“ Fühlen Sie sich beim Musiktheater wohler als beim Sprechtheater?
• Als Intendant eines Opernhauses hatte selbstverständlich das Musiktheater Vorrang. Aber bei beiden Gattungen gilt für mich als Regisseur, dass ich die Arbeit nur im Dialog, im Team schaffen kann. Denn die Herausforderung im Musik- wie auch im Sprechtheater ist es, ein Werk für unsere Gegenwart relevant zu interpretieren. Und in der offenen, zugewandten Arbeit mit Sängern und Schauspielerinnen geht es darum, einen angstfreien Raum zu schaffen, um die Fantasie aller Beteiligten zu beflügeln.

Sind Sie in der Oper ein Werktreuer?
• Mit Sergio Morabito, der seit der Saison 2020–2021 Chefdramaturg an der Wiener Staatsoper ist, arbeite ich seit bald 30 Jahren zusammen. Wir sind beide der jeweiligen Partitur treu und erzählen die Werke, die wir gemeinsam machen, integraler als viele Kollegen. In der Mozart/da Ponte-Trilogie in Amsterdam wurde kaum ein Rezitativ gestrichen; auch Halévys Oper La Juive, die ungekürzt rund fünf Stunden dauert, haben wir integral aufgeführt.

Mit den Werken von Elfriede Jelinek haben Sie sich intensiv auseinandergesetzt: Bereits 1993 inszenierten Sie ihr Stück Wolken.Heim. am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und wurden dafür als „Regisseur des Jahres“ ausgezeichnet. Was fasziniert Sie an den sogenannten „Textflächen“ der österreichischen Literaturnobelpreisträgerin?
• Ihre Texte sind wie musikalische Partituren. Man muss in sie hineinhören, um den Klang der Leichtigkeit und Ironie dahinter freizulegen. Sie spielt mit Sprache, kalauert auch immer wieder, etwas, das auch mir vertraut ist. Und so virtuos sie auf der Klaviatur der deutschen Sprache spielt, so lässt sie sie auch immer wieder fremd klingen. Vielleicht rührt dies von ihren jüdischen Wurzeln her. Sie verbindet so viel, das unsere Geschichte ausmacht: ein Geschichtsbewusstsein der abendländischen und jüdischen Kultur.

Ihre jüngste Produktion an der Wiener Staatsoper, Das verratene Meer von Hans Werner Henze, ist ab 19. September wieder in Wien zu sehen. Welche Pläne führen Sie demnächst nach Wien oder Salzburg?
• Ich werde auch in Zukunft wieder in Wien inszenieren, als nächstes mache ich aber ein Schauspielprojekt am Deutschen Theater in Berlin. Für die Osterfestspiele 2022 in Salzburg inszenieren wir drei, Sergio Morabito, Anna Viebrock und ich, Wagners Lohengrin, das Dirigat übernimmt Christian Thielemann.

Sie sind beruflich dauernd unterwegs. Wo fühlen Sie sich eigentlich zu Hause?
• Auf Theaterproben! Ich mag diese vertrauten Koordinaten, etwas Gemeinsames zu schaffen. Zuhause sein bedeutet für mich, mit den Menschen zusammen sein zu können, die mir nahe sind. Ich fühle mich aber auch der Bodensee-Region stark verbunden. Und wegen der Pandemie war ich schon länger nicht mehr bei meinen Geschwistern und ihren Familien in Israel – bei ihnen fühle ich mich ebenfalls geborgen. Immerhin trainiere ich mein Iwrit per WhatsApp mit ihnen!

Jossi Wieler

Arbeiten & Auszeichnungen
An der Staatsoper Stuttgart, deren Intendant Jossi Wieler von 2011 bis 2018 war, erarbeitete er gemeinsam mit dem Dramaturgen Sergio Morabito über 25 Neuproduktionen, weltweit sogar über 40 Opern. 2016 wurde das Haus in Stuttgart von der Zeitschrift Opernwelt unter 50 internationalen Kritikern zum „Opernhaus des Jahres“ gewählt.
Bei den Salzburger Festspielen inszenierte er mehrfach u. a. Ariadne auf Naxos 2001, diese Arbeit wurde als „Aufführung des Jahres“ prämiert. 2009 brachte er Das letzte Band/Bis dass der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts von Samuel Beckett/Peter Handke zur deutschsprachigen Erstaufführung.
Zahlreiche seiner Arbeiten wurden zu nationalen und internationalen Festivals sowie mehrfach zum Berliner Theatertreffen eingeladen, u. a. 2002 Euripides’ Alkestis und 2005 Paul Claudels Mittagswende.
Wieler gilt als Spezialist für die Texte von Elfriede Jelinek: Für die Inszenierung von Wolken.Heim. am Deutschen Schauspielhaus Hamburg wurde er in der Kritikerumfrage der Zeitschrift Theater heute als „Regisseur des Jahres“ ausgezeichnet. 2008 gelangte in seiner Regie Rechnitz (Der Würgeengel) an den Münchner Kammerspielen zur Uraufführung. Die Produktion erhielt den Nestroy-Preis in der Kategorie „Beste deutschsprachige Aufführung“.
Jossi Wieler wurde mit bedeutenden Auszeichnungen bedacht, so 2002 mit dem Konrad-Wolf-Preis der Akademie der Künste und 2005 mit dem Deutschen Kritikerpreis. 2020 wurde er mit dem höchsten Schweizer Theaterpreis, dem Hans-Reinhart-Ring, ausgezeichnet.

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