Auf Archivleiterin Sandra Weiss und ihr Team kommt damit jede Menge Arbeit zu: Die 2.914 Personendossiers, manche zu jüdischen Persönlichkeiten wie Anne Frank oder Bruno Kreisky, das Gros aber zu nationalsozialistischen Tätern und Täterinnen, umfassen insgesamt an die 120.000 Seiten, die nun eingescannt werden. Die Akten enthalten nicht nur Dokumente oder Kopien von Dokumenten, die aus der ganzen Welt – etwa aus Archiven – zusammengetragen wurden, sondern auch Zeitungsberichte sowie die Korrespondenz Wiesenthals zu den jeweiligen Personen. Aber auch Fotos sind manchen Akten beigelegt – hier sollen nun 750 Aufnahmen, Negative und Glasnegative teils von Tätern, aber auch aus NS-Lagern, von Lagerhäftlingen oder KZ-Gedenkstätten – ebenfalls digitalisiert werden.
Eines der Fotos zeigt beispielsweise den NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann (1906 -1962) auf der Überfahrt nach Südamerika. Seine Akte ist mehrere tausend Seiten dick. Der Korrespondenz Wiesenthals kam hier eine wichtige Rolle zu, wie Böhler unterstrich: Oft ging es dabei um Zeugenaussagen. Diese waren nötig, um Täter überhaupt erst vor Gericht bringen zu können. Es war auch der Eichmann-Prozess, der Wiesenthal wieder Auftrieb gegeben hatte, seine Arbeit fortzusetzen. Zuvor hatte bei ihm angesichts der mauen Verurteilungslage schon etwas Resignation eingesetzt.
Akten haben Wiesenthal und seine Helfer und Helferinnen aber auch zu weniger prominenten Tätern und Täterinnen angelegt. Böhler stellte hier kurz die Geschichte von Hermine Braunsteiner-Ryan (1919 – 1999) vor, sie war Aufseherin zunächst im KZ Ravensbrück, dann im KZ Majdanek. Sie emigrierte nach kurzer Haft in Österreich in die USA, wo sie als Deckung das Leben einer „normalen Hausfrau“ führte. Anfang der 1970er Jahre sei sie dann aber nach Hinweisen von Wiesenthal von der Presse aufgespürt und schließlich in Deutschland vor Gericht gestellt und zu lebenslanger Haft verurteilt worden.
Als Beispiel für ein Dossier zu einem weithin unbekannten Täter führte Böhler die Akte zu Karl-Josef Fischer (1904 – 1992) an. Der Mediziner war Lagerarzt im KZ Auschwitz. Inhaftiert war er schließlich nur von 1948 bis 1951. Danach arbeitete er weiter als Arzt in Graz.
Zugute kommt die Digitalisierung (sie wird vom Ministerium für Kunst, Kultur öffentlichen Dienst und Sport mit etwas über 160.000 Euro gefördert) einerseits der wissenschaftlichen Community, aber auch der interessierten Öffentlichkeit und den Medien, so der VWI-Direktor. Alleine 2022 gingen 461 Anfragen zu Falldossiers ein – künftig können Menschen nun weltweit direkt in den dann online zugänglichen Akten suchen. Ermöglicht würden dadurch aber auch andere Forschungsperspektiven: Einerseits werden Netzwerkanalysen möglich, andererseits kann die Arbeit an den Dossiers durch Wiesenthal und sein Team ihrerseits ebenfalls Gegenstand von historischen Analysen werden. Wiesenthals Akten, einst angelegt, um Täter und Täterinnen ihrer rechtsstaatlich vorgesehenen Verurteilung zuzuführen, seien mittlerweile Kulturerbe.
Wie Terezija Stoisits, Vorsitzende des VWI-Vorstands, zudem betonte, erlaube die Digitalisierung dieser Bestände (hausintern werden sie übrigens auf Grund ihrer Verpackung den „Brown Boxes“ zugeordnet), einen niederschwelligeren Zugriff darauf. Als Beispiel nannte sie die Arbeit von Schülern und Schülerinnen für ihre Vorwissenschaftlichen Arbeiten, die heute Teil der Matura sind. Das fügt sich auch in die Aufgabenfelder des VWI (das damit auch der Intention Wiesenthals entspricht): Dokumentation, Forschung und Vermittlung.
Sich hier künftig durch Wiesenthals Korrespondenzen durchscrollen zu können, bildet einen weiteren Mosaikstein der inzwischen so vielfältig aufgestellten Erinnerungskultur. Damit können auch künftige Generationen nachspüren, wie groß die Widerstände auch Jahrzehnte nach Kriegsende noch waren, NS-Täter und -Täterinnen einer gerechten Strafe zuzuführen. Der Nationalsozialismus endete zwar 1945, die Nachwirkungen ziehen sich aber bis ins Heute.
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