Launig mit 98

Mara Kraus, Holocaust-Überlebende mit einer bewegten Vita zwischen Europa und Südamerika, zeigte dieses Frühjahr in einer Ausstellung in der VHS Hietzing erstmals eigene Fotografien. Zuvor hatte sie viele Jahre den Nachlass ihres langjährigen Lebensgefährten und Fotografen Joe J. Heydecker bearbeitet und ein Buch über ihn publiziert. WINA traf Kraus, geborene Goldstein, in Wien zum Gespräch. Darin machte die 98-Jährige klar: Sie hat noch viel vor.

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Foto: Daniel Shaked

In ihrem 2017 erschienenen Buch Der talentierte Herr Ginić. Eine Familie überlebt den Holocaust (Verlag der Provinz) erzählte sie die Geschichte ihrer Familie, in den Mittelpunkt rückte sie dabei ihren Vater, Ernst Goldstein, der sich später in Alexander Ginić umbenannte (1900 in Našice in Kroatien geboren, 1984 in Caracas in Venezuela gestorben). Viel erfährt man hier über ihre Kindheit in Jugoslawien, sie skizzierte aber auch die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. Heuer veröffentlichte sie den Band Das Bett in der Badewanne. Erzählungen, Aufzeichnungen, Szenen, darin schildert sie einzelne Erlebnisse und Begegnungen aus ihrem Leben.

In allen drei Büchern kommt die Freude am Erzählen und der vielschichtige Humor von Kraus durch: Denn ja, die NS-Zeit war gefährlich, zumal als Jüdin, aber dennoch gab es auch damals die kleinen und großen familiären Scharmützel und Eifersüchteleien, die große weltpolitische Perspektive, aber auch die des kleinen Mädchens und der Jugendlichen. Ehescheidungen sind zum Beispiel Bestandteil dieser Familie, Maras Eltern trennten sich, als sie fünf Jahre alt war. Es war allerdings die nichtjüdische Mutter, die dem Ex-Mann und der Tochter später die Flucht aus Belgrad ermöglichen sollte.

Vorgenommen hat sich Kraus, die im Februar 1925 in Zagreb in Kroatien zur Welt kam, nun aber auch das Verfassen einer echten eigenen Biografie, einer Autobiografie also. „Und meine Tochter meint, sie erinnert sich an viele Dinge in ihrer Kindheit nicht mehr und ob ich das auch aufschreiben kann. Ich habe immer irgendein Projekt im Kopf, was ich nun machen möchte.“

Das Sich-Erinnern und das Erzählen, beides hält Kraus ganz offenbar jung. Beim Gehen hilft zwar ein Stock, und die Hände sind inzwischen zu zittrig, um noch zu fotografieren, was sie sehr bedauert, aber das Schreiben ist möglich. Und das Lesen: „Ich bin eine Leseratte und lese in verschiedenen Sprachen.“

Als Kind wuchs sie mit Serbokroatisch, Deutsch und Französisch auf, dazu kamen Englisch und dann die Sprachen ihrer Exilländer – von Italien über Argentinien und Venezuela bis Brasilien –, also Italienisch, Spanisch, Portugiesisch. Das Englische habe sie nicht von Grund auf gelernt, erzählt sie, aber sie liest dennoch auf Englisch und unterhält sich in dieser Sprache mit ihren Enkeln und Urenkeln. Gerne empfängt Kraus auch Freunde zu Besuch in ihrer Wohnung in Wien-Penzing. Ihre beiden Kinder, eine Tochter und ein Sohn, die in Italien beziehungsweise in Argentinien zur Welt kamen, studierten in den USA und leben heute auch dort, ebenso wie das Gros der Enkel und Urenkel. Ja, ihre Familie vermisse sie, erzählt Kraus, aber mit ihrem Sohn telefoniere sie jeden Sonntag, und ihre Tochter komme bald auf Besuch nach Wien.

Herzensorte und Lebensmenschen. Als ihre Herzensheimat sieht sie übrigens Italien, dort habe sie besonders schöne Jahre verbracht, mit ihrem Mann, Ivo Kraus, den sie nach dem Krieg heiratete und der der Vater ihrer Kinder war. Als sie in den 1980er-Jahren mit ihrem damaligen Lebensgefährten Heydecker nach Europa zurückkehrte, entschied sich das Paar jedoch für Österreich – für den Schriftsteller war es wichtig, in ein deutschsprachiges Land zu ziehen. Auch nach dessen Tod 1997 blieb Kraus in Wien – hier hat sie eine mit dem Geld des Vaters finanzierte Eigentumswohnung, hier hat sie aber vor allem viele Freunde und Bekannte. „All die Freunde, die ich in Italien hatte, da lebt ja schon lange niemand mehr.“

Foto: Daniel Shaked

„Ich habe immer irgendein Projekt im Kopf, was ich nun machen möchte.“
Mara Kraus

Den Nazis entkam sie als Jugendliche gemeinsam mit ihrem Vater, zunächst durch eine Flucht von Belgrad über Split nach Italien. Als auch Italien zu gefährlich wurde, flüchteten die beiden zu Fuß über die Alpen in die Schweiz, was fast scheiterte, als ein Schweizer Grenzpolizist sie nicht passieren lassen wollte. „Gletscher für Anfänger“ betitelte Kraus das Kapitel dazu in Der talentierte Herr Ginić und stellt damit einmal mehr ihren Humor unter Beweis. „Ungeübt keuchten wir den Weg bergauf, es wurde immer anstrengender. Nach einer Weile blieb Carrel (der Bergführer, Anm.) stehen und gab jedem von uns eine kleine weiße Pille. Ein Mittel zum Durchhalten, die Piloten nähmen es vor schweren Aufgaben, erklärte er. Heute weiß ich, es war Pervitin, eine Droge, mit der man Wehrmachtsangehörige aufputschte. Und siehe! Mein Rucksack wurde auf einmal federleicht, es schien mir, als berührten meine Füße beim Gehen kaum den Boden.“ Vater und Tochter überlebten in der Schweiz.

Die nicht-jüdische Herkunft der Mutter sollte es Mara allerdings schon bereits zuvor in Jugoslawien ersparen, die „Judenstern“-Binde tragen zu müssen. Wie es dazu kam? Die Mutter suchte hier mit der damals 16-jährigen Tochter den zuständigen NS-Mann in Belgrad auf und – Mara Kraus beschreibt sie im Rückblick als sehr schöne Frau – schaffte es, dem Nazi zu verkaufen, dass sie ja eben nur in jugendlichem Leichtsinn einen Juden geheiratet hatte, aber selbst Wienerin – und damit Deutsche – sei. Ein besonders koketter Zugang, wie die Tochter Jahrzehnte später entlarvt: Denn kurz vor Kriegsbeginn hatte die Mutter erneut geheiratet – wieder einen Juden.

Die Hände können zwar nicht mehr so fotografieren wie früher, aber schreiben – und das mit viel Humor,
Einfühlungsvermögen und Menschenliebe: Die Autorin und Fotografin Mara Kraus beim WINA-Gespräch 2023. Foto: Daniel Shaked

Der NS-Mann von damals sollte Kraus allerdings in ihrem Leben noch einmal begegnen. 1992 wurde Egon Sabukoschek, ein Grazer Zahnarzt, verhaftet. Man warf ihm Mord und Beihilfe zum Mord an Juden und Serben ab dem Sommer 1941 vor. Kraus erfuhr von der Verhaftung aus den ORF-Nachrichten. Gemeinsam mit Simon Wiesenthal fuhr sie nach Graz zu einer Gegenüberstellung mit „Egon“, unter diesem Namen hatte sie den Mann in Erinnerung behalten. Es war ihr allerdings nicht möglich, ihn als den Täter von damals zu identifizieren – zu sehr hatte sich sein Aussehen verändert. „Ich sah nur einen alten, gebrochenen Mann.“ Im Interview erinnert sie sich, dass Sabukoschek ihr am Ende dieser Begegnung in Graz sagte: „Bitte wünschen Sie mir Glück.“ Was das in ihr ausgelöst habe? „Er hat mir so leidgetan in diesem Moment.“

Sabukoschek wurde schließlich von anderen Opfern identifiziert. Doch bevor es zu einem Urteil kam, starb Sabukoschek 1995 an einem Herzinfarkt. Unter dem Titel Aus dem Leben eines unbekannten Mannes in der Fremde veröffentlichte übrigens das profil 1994 eine achtteilige Serie über den NS-Täter, dem vorgeworfen wurde, für die Gestapo an der Vorbereitung von Geisel-Erschießungen beteiligt gewesen zu sein. Jahrzehnte lang behandelte er nach dem Krieg als Zahnarzt Patienten in der steirischen Landeshauptstadt.

Italien. Argentinien. Wien. Doch wie ging es für Mara Kraus nach dem Krieg weiter? Sie und ihr Mann Ivo Kraus wollten Kinder bekommen, hatten dafür aber keine wirtschaftliche Grundlage – „in Italien machten mein Mann und seine Brüder Schwarzmarktgeschäfte“ – und fürchteten vor allem einen neuerlichen Krieg: „Ja, der Kalte Krieg erschien uns bedrohlich.“ So fiel die Entscheidung, nach Amerika auszuwandern. Ein Visum für die USA zu ergattern, gelang nicht, so wurde es zunächst Argentinien, wo das Ehepaar unter Juan Perón auch unkompliziert die argentinische Staatsbürgerschaft erhielt.

Seit vielen Jahren verfügt Mara Kraus inzwischen auch über die österreichische Staatsbürgerschaft. Wer ihr zuhört, würde auch nie vermuten, dass sie nicht in Österreich aufgewachsen ist. Ihr Deutsch ist perfekt mit Wiener Einschlag. Hier mag die Mutter doch Spuren hinterlassen haben, zu welcher sich jedoch nach Kriegsende jede Spur verlor. Kraus geht davon aus, dass sie in den Nachkriegswirren zu Tode kam, konnte aber bis heute nichts Näheres herausfinden. Das letzte Lebenszeichen der Mutter (geb. Johanna tvrtník) führte sie in ein Hotel in Meran. Dorthin sandte sie einen Brief und bekam die Antwort eines Dienstmädchens des Hotels, die sich an „Hansi“ erinnerte, weil diese ihr einen Kamm gestohlen hätte.

Es ist eine von vielen absurd anmutenden Geschichten aus Kraus’ Leben, wie etwa auch die, als der Vater in der NS-Zeit einen Taufschein fälschen ließ und dafür von ihrer Mutter Johanna bei der Polizei angezeigt wurde. 40 Tage musste er daraufhin in Split ins Gefängnis, die Tochter brachte ihm täglich Essen, das ihm – die Möglichkeiten waren begrenzt – nicht mundete. Es sind genau diese kleinen und größeren menschlichen Abgründe, die Kraus beschreibt und die ihre Schilderungen so besonders machen.

Viele Jahre hat Kraus übrigens ehrenamtlich in der Nationalbibliothek und im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW) mitgearbeitet und Daten ins Computersystem eingegeben. Gerne sei sie auch bereit, mit Schulklassen über ihre Erlebnisse in der NS-Zeit zu sprechen, sagt sie. Was sie Jugendlichen dabei als Botschaft mitgeben möchte? „Dass sie sich korrekt benehmen gegenüber anderen, dass sie einen Mann mit schwarzer Hautfarbe nicht böse anschauen, dass sie akzeptieren, dass es Muslimas gibt mit Kopftüchern, dass sie eben keine Rassisten sind.“

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