„Wir reden über eine verwundete und vernarbte Generation“

Die englische Regisseurin Lily Sykes im WINA-Gespräch über ihre werktreue Dramatisierung von Yasmina Rezas Roman Serge am Akademietheater.

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Lily Sykes hat für ihre aktuelle Wiener Inszenierung den zugrundeliegenden Roman selbst ausgesucht und bearbeitet. © Reinhard Engel

Wer Serge, den jüngsten Roman der erfolgreichen Dramatikerin Yasmina Reza, gelesen und ihre tiefsinnigen Fragen mitgedacht hat, wird die Verlockung der britischen Theaterregisseurin Lily Sykes verstehen, dieses Werk auf die Bühne zu bringen. „Es kamen einige Vorschläge vom Burgtheater für literarische Dramatisierungen, die ich prinzipiell gerne mache. Aber nach der Lektüre von Serge war ich so überwältigt von diesem grotesken Blick Rezas auf die Welt, ihrer großen Menschenkenntnis und fantastischen Sprache, dass ich mich sofort dafür entschieden habe“, schwärmt die derzeitige Hausregisseurin am Staatsschauspiel Dresden, die schon mehrfach am Wiener Burgtheater inszeniert hat. „Wegen des stimmigen Erzählstrangs, eines durchgehenden word raps, eignet sich diese Geschichte sehr gut für die Bühne.“ Sykes erstellte die Bühnenfassung gemeinsam mit dem Chefdramaturgen Andreas Karlaganis – ganz ohne Überschreibung – fast wortgetreu.

„Ich fühle mich sehr privilegiert, dass ich in diese Welt der Yasmina Reza eintauchen darf. Ich glaube, ich wäre diese Arbeit nicht angegangen, hätte ich nicht gewusst, dass die Autorin Jüdin ist und authentisch auch von sich erzählt“, so die 38-jährige Regisseurin. Sykes beweist mit den wunderbaren Burgtheater-Schauspielern Lilith Häßle, Alexandra Henkel, Roland Koch, Michael Maertens, Inge Maux und Martin Schwab, dass sie Reza richtig verstanden hat: Ein verbindendes Element fast aller ihrer Hauptfiguren ist deren Herkunft aus einem bürgerlichen jüdischen Milieu, ein anderes deren Bezug zu den Künsten. Beides deutet auf einen autobiografischen Hintergrund, zu dem sich Reza auch ausdrücklich bekennt: „Für mich ist Schreiben eine Erforschung des Menschlichen, ein Erschließen des Unbekannten. Nur das Schreiben erlaubt mir, andere Leben zu leben. Denn von der Erinnerung ist nichts zu erwarten. Dieser Fetischismus der Erinnerung ist bloßer Schein.“

Als meistgespielte zeitgenössische Theaterautorin hat die 1959 in Paris geborene Yasmina Reza die Bühnentauglichkeit dieses Themas nicht erproben wollen, deshalb wählte sie die Romanform (Rezension WINA 04/22). Denn die Handlung ist mehr als heikel: Zum zentralen Schauplatz wird das ehemalige NS-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Hier wurden Großvater, Großtante und Urgroßmutter der Geschwister Serge, Jean und Nana Popper ermordet. Daher sind sie Nachkommen jüdischer Überlebender der Shoah. Um die 60 Jahre alt, leben alle drei in Paris, ihre familiären Wurzeln reichen nach Ungarn und Wien zurück.

  Was bleibt am Ende, wenn man alles erlebt hat? Womit bleibt  
   man übrig, wenn man die große Sinnlosigkeit des Lebens erfahren hat?“  
  Lily Sykes  

 

Doch die Vergangenheit interessiert das Trio nicht: Der Alltag der zwei Brüder und einer Schwester erweist sich turbulent und kompliziert genug. Serge ist ein verkrachtes Genie und Frauenheld, dessen Verhältnis zu seiner Tochter Joséphine ziemlich stressig ist. Jean, der hilflose Vermittler und Ich-Erzähler, lebt in Trennung und kommt damit nicht zurecht. Die verwöhnte Jüngste, Nana, wird wegen ihres unpassenden spanischen Mannes ständig kritisiert. Eine ganz normale – und doch meschuggene – jüdische Familie. Zur Auseinandersetzung mit der traumatischen Familiengeschichte bleibt da weder Lust noch Lebenszeit.

Als die Mutter noch lebte, hat sie keiner nach der Shoah oder ihren Vorfahren gefragt. Nach dem Tod der Mutter wird den drei entfremdeten Geschwistern bewusst, wie wenig sie wissen. Gerade da schlägt die Enkelin, Serges Tochter Joséphine, einen Besuch in Auschwitz vor. Diese Reise wird zu einem Horrortrip, zu einer gewaltigen Belastungsprobe ihrer Beziehungen: Klarerweise haben sie ihre akuten, verworrenen Probleme mitgebracht, bleiben in ihren dauernden Streitereien gefangen – und diese nutzen sie zum Schutz gegen eventuell aufkommende Gefühle. So schaffen sie es einfach nicht, betroffen zu sein.

Virtuos hält Yasmina Reza das Gleichgewicht zwischen Komik und Tragik, sie ist teils bissig, zärtlich und herzzerreißend komisch, obwohl sie laufend wichtige Fragen stellt: Was bedeutet Familie? Was heißt jüdisch sein? Wie soll, kann und darf man erinnern, bevor es zu einem routinierten Ritual wird? Aber wie lässt sich dieser groteske, überdrehte Humor über Vernichtung und Tod jüdischer Menschen vor rund 80 Jahren heute am Wiener Akademietheater darstellen? Wird einem klar, ob man lachen darf oder weinen muss?

Lachen über die Katastrophe. Die 38-jährige Regisseurin Lily Sykes bekräftigt, dass der Ort des Geschehens, also das Todeslager Auschwitz, so unfassbare Gefühle heraufbeschwöre, für die man keine Worte fände. Doch man könne auf Absurdes auch mit Lachen reagieren. Hinter den messerscharfen Dialogen ist es gerade die existenzielle Hilflosigkeit dieser Menschen, die berührt. Als Serge vor einem Jahr in Frankreich erschien, formulierte es Reza selbst in einem Interview mit Le Monde so: „Das Lachen über die Katastrophe ist immer perfekt, denn es ist ein finales Lachen. Man lacht, um angesichts der Trostlosigkeit der menschlichen Kondition leerem Pathos zu entkommen.“

Die Regisseurin besuchte mit ihrer Mutter, die mehrere Dokumentarfilme über die Kriegsverbrechen im früheren Jugoslawien gedreht hatte, im April 2022 das ehemalige KZ Auschwitz. „Bei den Probenarbeiten haben wir mit den Schauspielern ausführlich gesprochen und diskutiert, und wir haben bei diesem chaotischen Familienbesuch von zwei Generationen Popper in Auschwitz viele allgemein gültige und aktuelle Parallelen zu heute entdeckt, z. B. dass die Brutalität und die Kriege, siehe Ukraine, nicht aus unserer Welt verschwunden sind.“ Erinnerungskultur allein sei vielleicht nicht genug, um uns aus dieser Gewaltspirale zu helfen, weil es einfach überall auch heute passiert. Daher brauche es eine ständige Auseinandersetzung mit dem Thema und die Ermutigung, sich eigene Gedanken zu machen.

   Was bedeutet Familie? Was heißt jüdisch sein?
Wie soll,
kann und darf man erinnern,
bevor
es zu einem routinierten Ritual wird?   

 

Das Stück erzählt von einer verwundeten und vernarbten Generation, die vor 80 Jahren die Shoah überlebte. Sie verdrängte die Erinnerung, vermied das Reden darüber, das habe sie unfähig gemacht, Zärtlichkeit zu zeigen. „Serge, Jean und Nanas Eltern haben daher nicht nur die psychische, sondern auch die physische Gewalt an die nächsten Generationen weitergegeben“, so die Regisseurin. „Serge erzählt von der Gewalt seines Vaters, trotzdem übt er diese an dem kleinen Ziehsohn von Jean aus und gibt sie dadurch weiter.“

Nur über selbstständiges Denken sowie über Kunst und Literatur erhält man die Fähigkeit, auf eine angemessene Weise über komplexe Themen nachzudenken, ist die Britin überzeugt. Daher hat sie mit Bühnenbildner Márton Ágh eine sparsame, reduzierte, aber sehr effektive Szene geschaffen, die nicht vom Mitdenken ablenkt. Sykes: „Mein Thema ist die Familie, denn ich komme selbst aus einer sehr vielfältigen. Außerdem interessiert mich die Frage: Was kann man erinnern? Gibt es ein kollektives Erinnern oder nur ein persönliches? Das Gleiche gilt auch für die Verantwortung. Was bleibt am Ende, wenn man alles erlebt hat? Womit bleibt man übrig, wenn man die große Sinnlosigkeit des Lebens erfahren hat?“

Die Antwort des ungarisch-jüdischen Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész würde wahrscheinlich lauten: der Humor! Yasmina Reza hat den Roman Kertész gewidmet, weil dieser einmal Steven Spielbergs Film Schindlers Liste mit Roberto Benignis Das Leben ist schön verglichen hatte. Kertész: „Das Groteske beim Italiener hinterließ einen stärkeren, tiefer gehenden Eindruck, weil die Situation einfach absurd grotesk war.“

Regisseurin Lily Sykes während der Proben am Wiener Akademietheater im Gespräch mit WINA-Autorin Marta S. Halpert. © Reinhard Engel

LILY SYKES wurde 1984 in London geboren, studierte Germanistik und Philosophie in Oxford und besuchte die Theaterakademie des berühmten Meisterclowns und Theaterprofessors Philippe Gaulier in Paris. Als Mitbegründerin des internationalen Theaterensembles Aitherios realisierte sie erste eigene Arbeiten. Von 2009 bis 2012 war Sykes Regieassistentin am Schauspiel Frankfurt. Seit 2012 arbeitet sie als freie Regisseurin, u. a. an den Schauspielhäusern Zürich, Graz, Köln und Hannover, am Burgtheater Wien, Berliner Ensemble, Deutschen Theater Berlin und Home Theater, Manchester. Lily Sykes ist seit der Spielzeit 2022/2023 Hausregisseurin am Staatsschauspiel Dresden.

© Britta Pedersen / dpa / picturedesk.com

YASMINA REZA begann ihre künstlerische Laufbahn als Schauspielerin, wurde aber vor allem als Autorin von Theaterstücken, Romanen und Drehbüchern bekannt. Ein weltweites Publikum erreichte sie mit ihren Stücken Kunst, Drei Mal Leben und Der Gott des Gemetzels. Letzteres wurde 2011 von Roman Pola ski mit Jodie Foster, Kate Winslet, John C. Reilly und Christoph Waltz verfilmt. Mit Eine Verzweiflung debütierte Yasmina Reza auch als Romanautorin. Inzwischen schrieb sie eine ganze Reihe erfolgreicher Romane, und ihre Theaterstücke wurden weltweit in über 30 Sprachen übersetzt. „Mein Leben verlief durch und durch banal“, sagt Reza über sich selbst, „was allerdings weniger banal ist, ist meine jüdische Herkunft: Mein Vater war Iraner, meine Mutter Ungarin, und meine Großeltern liegen irgendwo in Amerika begraben.“ Vor allem die Familie ihres Vaters blickt auf eine bewegte Geschichte zurück: Als sephardische Juden flohen sie vor 530 Jahren aus Spanien nach Persien, Ende des 19. Jahrhunderts nach Moskau und 1918 – in den Wirren der russischen Revolution – nach Paris. Unter dem Anpassungsdruck konvertierten sie über die Jahrhunderte zeitweise, wenigstens äußerlich: Ihr Familienname wandelte sich von Gedaliah (hebräisch) über Reza (persisch) zu Rezaiov (russisch) und schließlich zurück zu Reza, der israelische Zweig der Familie blieb bei Gedaliah. Yasmina Rezas Mutter war Violinistin, ihr Vater, von Beruf Ingenieur, spielte Klavier. „Ich würde meine Familie als passionierte Musikliebhaber bezeichnen: Mein Vater pflegte sich im Morgenmantel vor uns Kinder zu stellen und Beethovens Fünfte zu dirigieren, während dazu die Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern lief.“

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